Die faszinierende Kiewer Rus

Sehenswürdigkeiten in der ukrainischen Hauptstadt

Die Mariahimmelfahrtskathedrale aus Kiew ist durch den ukrainischen Barock geprägt.

Der große Glockenturm der Gottesmutter-Geburtskirche wurde 1731 errichtet.
Fotos: Erwin Josef Ţigla

Einer meiner besonderen Wünsche war immer, Russland und die Ukraine zu besuchen. Anfang Herbst war es mir gegönnt, nach vielen Jahren wieder in die Ukraine zu fahren. Das erste Mal war ich 1983 dort, als sie noch zur Sowjetunion gehörte. Mit meinen Eltern fuhr ich von Polen über Lemberg/Lwiw und Czernowitz/Tscherniwzi und über den Grenzübergang Siret zurück. Diesmal war es eine Mission des Weltdachverbands der Konföderation der Vinzenzkonferenzen (SVP), die mich bei wunderschönem Herbstwetter in die Ukraine führte.

Im Haus der Lazaristen traf ich den Superior der Vizeprovinz der Kiewer Lazaristen, Tomaž Mavric CM, mit dem ich einen Teil der Altstadt besichtigte. Pater Tomaž leitet die Vizeprovinz der Heiligen Cyrill und Methodius der Missions-Kongregation des heiligen Vinzenz de Paul (Lazaristen).

Rundgang durch die Kiewer Altstadt

Als Erstes besuchten wir die römisch-katholische Kirche vom Heiligen Alexander, wo Pater Tomaž jeden Sonntag die heilige Messe in Englisch zelebriert. Sie trägt den Namen nach dem Zaren Alexander I. und liegt in der Nähe des bedeutendsten Hauptplatzes von Kiew, dem Majdan oder Unabhängigkeitsplatz. Ihr Bau wurde 1842 im Klassizismus beendet.

In der Sowjetzeit wurden in der Kirche ein Planetarium und eine Bibliothek betrieben. 1991 wurde die Kirche dem Bistum wieder rückerstattet. Das römisch-katholische Bistum von Kiew hat seinen Ursprung im Jahr 1321. 1998 kam die Namensänderung durch Papst Johannes Paul II. als Bistum von Kiew - Schytomyr (Dioecesis Kioviensis - Zytomeriensis). Papst Johannes Paul II. besuchte selbst die Ukraine in der Zeitspanne 23. bis 27. Juni 2001.

Es folgte ein Spaziergang auf dem Wladimir-Hügel. Am Fuße des Hügels fließt der Dnepr. Im Park konnte ich das 16 Meter hohe Denkmal des Fürsten Wladimir I., 1853 errichtet, sehen. Der Heilige (Wolodymyr) vollendete die Christianisierung Kiews in den Jahren 980-1015. Wir gingen weiter, den Hügel hinauf, bis zum Michaelskloster  – 1108 erstmals erwähnt, 1936 von den Sowjets abgetragen,  2000 wieder aufgebaut – einer der Anziehungspunkte im Zentrum von Kiew.

Besuchen konnten wir die Kathedrale, die Johannes-der-Täufer-Kirche und den Park. Der Glockenkturm am Eingang und die Kathedrale mit vergoldeten Kuppeln sind durch ihre blaue Farbe weit bekannt. Die gesamte Klosteranlage ist im byzantinischen und barocken Stil errichtet. Am Platz vor dem Kloster machten wir Halt vor dem Holodomor-Denkmal, das an die fünf Millionen Opfer der Hungersnot von 1932 in der Ukraine erinnert, sowie am Denkmal zu Ehren der Großfürstin Olga von Kiew in der Mitte des Statuenkomplexes – daneben  Cyrill und Methodius, rechts der heilige Apostel Andreas.

Goldenes Tor, Sophienkathedrale, Majdan

Am zweiten Tag meines Ukraine-Besuchs wurde ich von der Präsidentin der Vinzenzgemeinschaften aus der Ukraine, Galina Starukh, und der Koordinatorin der SVP-Konföderation für Russland und Ukraine, Ulrike Mattfeldt, durch die Stadt begleitet. Vom Hauptbahnhof in Kiew (Woksal) fuhren wir mit der Untergrundbahn  ins Zentrum. Hier habe ich mich wie in den 90er-Jahren in der Bukarester Metro gefühlt. Es gab nur alte Waggons, sehr viel Bewegung und die Stationen sahen aus wie in der Sowjetzeit: monumental. 

Wir stiegen aus und besuchten als Erstes das Goldene Tor, Nachbildung eines der großen vier Tore Kiews, 1037 errichtet. Die Nachbildung erfolgte 1982, anlässlich der großen Feier zu 1500 Jahren Kiew.

Dann gingen wir weiter zur Sophienkathedrale – weltberühmt, geschütztes UNESCO-Denkmal, heute Museum. In diesem Jahr feiert sie 1000-jähriges Jubiläum.  Kathedrale und Glockenturm tragen die Farbe himmelblau. Im Mittelalter war die Sophienkathedrale Sitz der Metropoliten der ganzen Kiewer Rus.

Hier sah ich unter anderem auch den aus weißem Marmor angefertigten Sarkophag des Großfürsten Jaroslaw der Weise, gestorben am 20. Oktober 1045, Sohn von Fürst Wladimir I. Rechts vor dem Glockenturm befindet sich das Grab des Patriarchen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, Kiewer Patriarchat, Volodymyr Romanjuk (1925 - 1995), ein ehemaliger Menschenrechtler, ukrainischer Patriot und politischer Häftling.

Warum aber liegt seine Grabstätte außerhalb der Klosteranlage? Mit der Beerdigung des Patriarchen vor dem Komplex der Kathedrale hat es Folgendes auf sich: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Bildung der Republik Ukraine entstanden drei orthodoxe Kirchen: Die Ukrainische Orthodoxe Kirche – Patriarchat Moskau als Nachfolgerin des Ukrainischen Exarchates des Moskauer Patriarchates, das aus der Metropolie Kiew entstanden war und auf dem Territorium der heutigen Ukraine tätig ist. Die zweite ist die Ukrainische Orthodoxe Kirche, Kiewer Patriarchat - unabhängig von Moskau, genauso wie die dritte, die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche.

Der Patriarch Volodymyr Romanjuk war am 14. Juli 1995 in Kiew unter rätselhaften Umständen verstorben. Am 18. Juli 1995 plante man zunächst, das Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche – Kiewer Patriarchat, Volodymyr Romanyuk, auf dem Gelände der Kathedrale beizusetzen, aber die Obrigkeit erlaubte es nicht. Das Begräbnis von Romanjuk hatte eine blutige Rauferei zur Folge.

Danach ging es weiter zum Unabhängigkeitsplatz Majdan, wo 2004 die Orangenfarbige Revolution  stattgefunden hat. Im Süden liegt das 63 Meter hohe Unabhängigkeitsdenkmal, 2001 errichtet. Zu sehen ist der Statuenkomplex der vier legendären Gründer Kiews: Kyj, Schtschek, Choriw und Lybid,  das Hotel „Ukrajina“, linker Hand am Hügel der Schowtenewy-Palast und rechts die Musikakademie, das Konservatorium. Am nördlichen Teil vom Majdan konnte ich das Hauptpostamt mit dem Weltkugeldenkmal sehen, auf dessen Basis man die Entfernungen von Kiew zu bedeutenden Städten der Welt in Kilometern angegeben findet. Fast am Ende des nördlichen Teils kann man das Petschersker Tor mit Erzengel Michael, dem Schutzpatron von Kiew, bewundern. Beide Teile des Hauptplatzes werden durch den Chreschtschatyk, die Prachtstraße Kiews, getrennt.

Abstecher nach Charkiw

Es folgten zwei Halb- und ein Ganztag in Charkiw (Charkow). Zur zweitgrößten Stadt der Ukraine flogen wir mit der „Dniproavia“ aus dem Gastgeberland. Ein Chaos ohne Ende war am Flughafen Boryspil, am Terminal für Inlandflüge. Ohne jegliche Informationen mussten wir über eine Stunde warten, bis auch unser Flug an die Reihe kam. Spät in der Nacht kamen wir in Charkiw an. Die Stadt zählt rund eineinhalb Millionen Einwohner und stellt mit ihren 42 Universitäten und Hochschulen das bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum der Ukraine dar.

Hier wird hauptsächlich russisch gesprochen. Ich sah mir die römisch-katholische Kathedrale in der sogenannten früheren deutschen Gasse an, Sitz des Bistums Charkiw-Saporischja (Dioecesis Kharkiviensis-Zaporizhiensis). Die Kathedrale trägt das Patrozinium „Heilige Jungfrau Maria“. Mit Ausnahme des alten Stadtteils mit Prunkbauten aus dem 19. und 20. Jahrhundert (auch Sowjetzeit-Großbauten), sind rings um das Zentrum sehr große Stadtteile  –  sogenannte Schlafstädte, typisch für die Sowjetzeit – zu sehen. 

Das Höhlenkloster von Kiew

Am letzten Tag meines Aufenthalts in Kiew besichtigte ich das Höhlenkloster Petscherska-Lawra. Von der UNESCO seit 1990 als Weltkulturerbe geschützt, gilt es als die Sehenswürdigkeit und das Heiligtum der Ukraine. Der gesamte Komplex befindet sich auf einem Hügel am Dnepr. Unser Besuch begann in der Oberen Lawra, mit dem Durchgang durch die Dreifaltigkeits-Torkirche, im feinsten ukrainischen Barockstil gebaut.

Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale, auch als Uspenski-Kathedrale bekannt,  ist überwältigend unseren Blick. Als wichtigste Kathedrale des Höhlenklosters wurde sie erst nach der Wende in der Ukraine wiedererrichtet und ist dreigeteilt. Darin befindet sich die größte Ikonostase der Welt. Weiter gingen wir in die Refektoriumskirche an der Oberen Lawra.

Danach stand ein Besuch des Mikrominiaturenmuseums an, wo wir uns mit dem Autor selbst, dem weltbekannten Nikolaj Sjadristy, über seine Arbeit unterhielten.

Den Hang hinunter gingen wir auf Mönchswegen (alte Steine bedecken diese historischen Wege) zur Unteren Lawra, zur Kreuzerhöhungskirche. Laut Geschichte stand an der Basis der Petscharska-Lawra ein Mönch: 1051 gründete der Mönch Antonij die ersten christlichen Wahrzeichen der Kiewer Rus, das Herz der Orthodoxie für den gesamten russischen Sprachraum und ihre weitere Verbreitung. Kiew wurde somit zum Zentrum der hiesigen Orthodoxie und bildete eine der wichtigsten und heiligsten Stätte der Ostkirche überhaupt.

Die Höhlen wurden von Mönchen künstlich im Hügel neben dem Dnepr geschaffen, zunächst zum Schutz vor  wilden Tieren  und Unwetter, später zum Schutz vor Feinden und als Bußorte. Von der äußeren Welt abgeschieden, verbrachten sie hier ihr Leben im Gebet und zur Sühne für die von Sünden geplagte Außenwelt.

Entlang des Höhlensystems wurden viele Mönchzellen und sogar kleine Kapellen gegraben. Es gab Mönche, die in ihrer Zelle verstorben sind, ohne mehr das Licht der Sonne zu erblicken. Die Überreste dieser heiligen Mönche wurden in gläserne Särge gelegt und in Nischen, links und rechts der Durchgänge, zur Anbetung gestellt. Über jedem Sarg hängen Kerzen, auf den Wänden Malerein mit den Portraits der jeweiligen Heiligen, oder auch nur ihre Namen.

Hunderte Reliquiarschreine dieser Art liegen in den Höhlen der Petscharska-Lawra.  In diese Höhlen kommen Menschen aller Welt, um zu beten, sich als Sündige zu bekehren und um Verzeihung bei Gott zu erbitten.  Beim Eingang zu jeder Höhle kauft man sich eine gelbe Kerze, so wie wir sie aus unseren rumänisch-orthodoxen Kirchen kennen, die einem hilft, den Weg in die dunklen Gänge zu finden, wenn sie auch manchmal infolge des Durchzugs erlischt.

Doch bei den Reliquienschreinen stehen Kerzen bereit, wo man wieder Licht bekommt. Hie und da findet man größere ausgegrabene Höhlen, in denen sich kleine Kapellen, oft mit betenden Mönchen, befinden. Die Atmosphäre kann man nicht mit Worten beschreiben: Du fühlst dich in einer ganz anderen Welt, näher zu Gott und den Heiligen, die hier auf Erden für ihn in seinem Weingarten vor Hunderten und Tausenden Jahren gearbeitet hatten. Überwältigend, faszinierend und beeindruckend.

Unter Dachtreppen gehen wir weiter zur Sankt-Anna-Empfängniskirche, und hier in die  Fernen Höhlen hinein. Neben den Fernen Höhlen befindet sich auch die Gottesmutter-Geburtskirche und der Glockenturm der Fernen Höhlen, beide sehr sehenswert und von einem Friedhof umkreist. Zurück am Eingang warf ich einen Abschiedsblick auf die Petscharska-Lawra der Kiewer Rus, ein Komplex, der jährlich von über einer Million Menschen aus aller Welt besucht wird.