Die Uhren schlagen anders in Nadlak

Auf der Suche nach dem Kulturerbe der Slowaken in der rumänischen Grenzstadt

Das slowakische Lyzeum „Jozef Gregor Tajovský“ (1907) war früher zur Hälfte Bank, zur anderen Hotel mit Cafe. Fotos: George Dumitriu

Die evangelische Kirche der Slowaken von Nădlac

Das Wöchnerinnenbett mit Aussteuerkissen im Museumshäuschen

Slowakische Handarbeitskunst kann man in dem kleinen, aber liebevoll gepflegten Heimatmuseum bestaunen.

Jeden Morgen läutet die Glocke der evangelischen Kirche um vier Uhr. Sie erinnert an den Zeitpunkt am 24. April 1803, als die Ochsenwägen der Slowaken in Nadlak/Nădlac eintrafen. Sie kamen mit dem Pfarrer und dem Lehrer, bezogen ein extra für sie angelegtes Dorf mit geometrischem Straßennetz. Der Boden wurde nach der Anzahl der männlichen Kinder in der Familie verteilt. „Einige haben ihre Jüngsten versteckt, weil sie gar nicht so viel Land bearbeiten konnten“, schmunzelt Nicoleta Huszarik.  

Ins Banat und ins Kreischgebiet gerufen wurden die Slowaken von ungarischen Grafen, den Besitzern der neuen Ländereien, nachdem die Türken vertrieben worden waren. Die Einwanderer, denen in der alten Heimat eine Dürre zu schaffen machte, sollten für sie den fruchtbaren Boden bearbeiten. Doch die Besiedlung dieses Landstrichs durch Slowaken geschah nicht nur aus Armut, stellt Historikerin Ludmila Šomráková klar. Auch so mancher Reiche verkaufte sein Land, denn der Boden in der Slowakei war steinig, die Ernten karg. Hinzu kam, dass man evangelischen Einwanderern, damals wegen ihres Glaubens noch verfolgt, reizvolle Bedingungen bot: Religionsfreiheit, Steuerfreiheit für drei Jahre, die Erlaubnis zum Bau von Wind- und Wassermühlen. Bald machten sich ganze Dörfer auf den Weg. 

Auf den Spuren der Slowaken

Nadlak, 10. Oktober: Wir stehen im Hof eines traditionellen slowakischen Hauses in der Ulița Larga Nr. 11. Vor der Veranda blühen Topinambur, mannshohe, mit der Sonnenblume verwandte Pflanzen. Im Sommer sollten sie Schatten spenden, im Winter wurden ihre Knollen gegessen, erzählt Ludmila Šomráková. Den Namen „breite Gasse“ trägt das Sträßchen nicht umsonst: Sie wurde so angelegt, damit das Feuer im Brandfall nicht auf die andere Seite überspringt. Das kleine Museum ist liebevoll eingerichtet mit Gegenständen, die die Leute in Nadlak gespendet haben, munter plaudert sie  weiter und entführt uns unversehens in eine andere, faszinierende Zeit...

Nadlak ist nicht gerade ein Touristenziel. Die meisten kennen das verschlafene Städtchen nur als Grenzort. Das Treiben auf dem Markt, wo man landwirtschaftliche Produkte, Kleider und alles, was man in Haus und Hof brauchen könnte, erstehen kann, steht in krassem Gegensatz zum infernalen Verkehr: Lastwägen brettern lückenlos über die Hauptstraße. Und doch war Nadlak eines der Ziele auf der siebten Journalistenreise auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten, die das Departement für Interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI) im Oktober  ins Banat und ins Kreischgebiet veranstaltet hat.

Über 200 Jahre dominierten die Slowaken in Nadlak. Mit den Rumänen lebten sie friedlich Seite an Seite, in getrennten Stadtteilen und als geschlossene Gemeinschaft, doch mit guten Beziehungen. So mancher Rumäne hat sogar ein wenig Slowakisch aufgeschnappt, erzählt Šomráková. 

Erst in den letzten 30 Jahren hat sich das Bild gewandelt: Nun herrschen gemischte Familien vor. Laut Statistik bekennen sich heute 43 Prozent der 7398 Einwohner zur slowakischen Minderheit, 45 Prozent sind Rumänen, der Rest Roma, Serben, Ukrainer, Deutsche, Ungarn und Bulgaren, verrät Vizebürgermeister Dušan Šomrák. Nach der Wende hat auch die Slowaken das Auswanderfieber ergriffen. Deutlich spürbar ist es in der Schule: Nicoleta Huszarik, Direktorin des lokalen Lyzeums mit 12 Klassen und Kindergarten, zählt heute 1060 Kinder, davon besuchen 300 den Zweig mit slowakischem Unterricht. 2006 gab es noch 1300 Schüler. Auch Pfarrer Juraj Dušan Vanko klagt: Von den etwa 25 Kinder, die er jährlich tauft, lebt die Hälfte im Ausland. Nur zur Taufe kommt man zu Besuch nach Hause. Die Minderheit verliert sich - doch die Völker wachsen zusammen: Einige Rumänen besuchen mittlerweile den slowakischen Zweig der Schule und umgekehrt. Ein Romamädchen hegte den Wunsch, den slowakischen Kindergarten zu besuchen. „Das wollten wir ihr nicht abschlagen und sie hat gut Slowakisch gelernt“, freut sich Huszarik.

Zeitreise in die Vergangenheit

Etwa 800 slowakische Höfe gab es in Nadlak im 19. Jahrhundert. Häuser aus gestampftem Lehm, schilfgedeckt. Zwei Zimmer, einer mit Ofen, das andere als „Schauraum“ für die Aussteuer. Wie lebten die Einwanderer, was bewegte ihre Gemüter? Was ist anders als anderswo, was typisch slowakisch? Im Museumshaus deutet Ludmila Šomráková auf ein Bett mit Baldachin, auf dem sich Spitzenkissen türmen: das Wöchnerinnenbett. Hier lagen Mutter und Kind sechs Wochen lang, bevor es wieder aus der Stube entfernt wurde. Die gemütlichen Kissen freilich wurden nicht benutzt, sie gehörten zur Aussteuer in der guten Stube. Im Wohnraum wurde gekocht, gespielt, geschlafen – alle gemeinsam: Eltern, Großeltern, Kinder, erwachsene Söhne mit ihren Ehefrauen. Typisch slowakisch ist auch ein Kästchen, das wie ein Bild die Stubenwand ziert, mit Brautschleier und Hochzeitskrönchen – so manche Frau verlangte, dass man ihr diese nach dem Tod in den Sarg legt. Besonders ist auch Kleidung für die Feldarbeit: Der Stoff wurde blau gefärbt und dann mit einer bleichenden Substanz bestempelt, so dass feine weiße Muster entstehen. „Die Kunstlehrerin weiß noch, wie man das macht“, erzählt Šomráková. Die slowakischen Männer trugen Stiefel, erklärt sie und zeigt einen weiteren Gegenstand, den Stiefel-Auszieher: „Wer keinen hatte, dem drehte die Frau den Rücken zu, packte den Fuß unter die Achsel und zog nach Leibeskräften.“ 

Seltsam, auf dem Tisch liegt eine Bibel in tschechischer Sprache. Die Historikerin erklärt: „Eine zeitlang betrachteten die Slowaken Tschechisch als ihre Hochsprache, die Sprachen sind sehr ähnlich.“ Das heutige slowakische Territorium gehörte damals zu Ungarn, Ungarisch war offizielle Sprache, Slowakisch wurde daher nicht geschrieben. Erst 1843 entstand die slowakische literarische Sprache. Weil aber Luther der Meinung war, jeder müsse die Bibel in seiner Muttersprache lesen, führte man tschechische Bibeln ein! Für Historiker sind sie heute sehr wertvoll, denn sie fungierten auch als Familienchronik. „Nicht jeder besaß ein Heft, so enthielt jede Bibel ein paar weiße Zusatzseiten, um Geburten, Todesfälle und andere wichtige Ereignisse einzutragen.“ Im Kalender hingegen vermerkte man, seit wann die Henne brütet oder wenn ein Kalb geboren wurde.

Eine große Rolle im Alltag der Slowaken spielte die evangelische Kirche, die heute zum ungarischen evangelischen Bistum in Klausenburg/Cluj-Napoca gehört. Pfarrer Vanko und Kurator Pavel Nad-Duris Krokoš empfangen uns im Gotteshaus, dessen Grundstein 1812 gelegt wurde. 1822 wurde die Kirche der Auferstehung Christi geweiht, 1895 nach mehreren Bauphasen der Turm und das Glöcknerzimmer angefügt. 

Der Glöckner spielte eine besondere Rolle: Alle Stunde blies er mit einer tiefen Trompete die Uhrzeit, alle Viertelstunden mit einer höheren ein-, zwei- oder dreimal, sodass man immer genau wusste, wie spät es war. Die Tradition wird heute fortgeführt – allerdings mit der Kirchenglocke statt der Trompete - und ist wohl landesweit einzigartig. Außerdem gehörte der Glöckner zum Frühwarnsystem für Brände, die häufig ausbrachen, weil die Rauchfänge aus Holz waren. Dann hängte er eine schwarze Fahne im Norden, Süden, Osten oder Westen an den Balkon des Turms, die die Richtung des Brandherds anzeigte. 

Lebendige slowakische Kultur

Bis heute spielt die evangelische Kirche eine wichtige Rolle im Leben der Slowaken. Ihre Diakonie mit sozialen Programmen – Kantine, Essen auf Rädern, Altersheim, Tagesstätte für Senioren mit medizinischer Betreuung, Rechtsberatung, Freizeitangeboten etc. - steht allen Bürgern offen. Sie unterstützt aber auch die Demokratische Union der Slowaken (UDSCR), deren zentraler Sitz in Nadlak liegt. Hier lebt immerhin ein Viertel aller Slowaken des Banats, motiviert Pavel Hlásnik, Vizepräsident der UDSCR. 4000 Mitglieder zählt der Verein im ganzen Land, der sich für Bildung und den Erhalt slowakischer Kultur einsetzt: Es gibt jährliche Wettbewerbe für Folkloremusik (21. Ausgabe) und Literatur (11. Ausgabe), eine Folkoregruppe namens „Sálášan“. Slowakisches Theater spielt seit 120 Jahren eine große Rolle. Die Union organisiert Konferenzen, an denen Slowaken aus Ungarn, der Slowakei und der serbischen Woiwodina teilnehmen, außerschulische Aktivitäten und Lehrerseminare mit Slowaken aus den anderen Ländern. 

Auch mit literarischen Errungenschaften können sich die Slowaken rühmen: Schriftsteller Ivan Miroslav Ambruš, Vorsitzender der Kultur- und Wissenschaftsgesellschaft „Ivan Krasko“, schildert das „Phänomen Nadlak“: Nachdem die Mitglieder des lokalen Literaturclubs 1976 einen „Großangriff“ auf Literaturzeitschriften und Verlage in Rumänien, später Serbien, Ungarn und der Slowakei, beschlossen hatten, waren tatsächlich zahlreiche Werke erschienen. 13 Gedichtbände wurden herausgegeben, sechs Autoren in die rumänische Schriftstellervereinigung aufgenommen. Zur Verbreitung ihrer Werke im Ausland wurde der Verlag „Ivan Krasko“ gegründet. Und natürlich gibt es eine slowakische Bibliothek: „In den letzten sieben Jahren wurden Bücher für eine Million Euro aus der Slowakei gekauft“, überrascht der Vizebürgermeister. Seit 1996 erscheint die zweisprachige Literaturzeitschrift „Oglinzi paralele“ (Parallele Spiegel) – „etwas Einzigartiges in Rumänien und der Slowakei“, betont Ambruš.
Nach so viel geistiger Nahrung verlangt es nach leiblicher Stärkung. Auch in diesem Kapitel zeigen sich die Slowaken als versiert, im Restaurant „Koliba“ speist man vorzüglich traditionell. 

Aufgeweckt sind sie, die Slowaken in Nadlak, denkt man unwillkürlich beim Abschied. Und: Kein Wunder - läutet doch täglich die Kirchenglocke morgens um vier Uhr!