Eine Stadt in zwei Staaten

Teschen: Vom großen Krieg gespalten, verschwindet die Narbe Teilung langsam

Die Teilung 1920 brachte große Herausforderungen mit sich. Kirchen, Krankenhaus, Bahnhof, Wasserversorgung – die soziale Infrastruktur hielt sich nur selten an die neuen politischen Grenzen. Im Bild der kulissenhafte Marktplatz auf tschechischer Seite.

Das besondere Erbe hat die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa dazu veranlasst, sowohl Cieszyn als auch Èeský Tìšín den Titel „Reformationsstadt Europas“ zu verleihen. Im Bild die Lutherische Kirche in Èeský Tìšín.

Auf tschechischer Seite befindet sich der alte, vor einigen Jahren modernisierte Bahnhof der Stadt. Umgangssprache auf beiden Seiten der Olsa ist bis heute ein schlesischer Dialekt, die Teschener Mundart.

Das Jagdschloss wurde in den Jahren 1838 bis 1840 im Stil des Wiener Klassizismus erbaut. Es entstand an Stelle der unteren Abschnitte des alten herzoglichen Piastenschlosses und diente den Habsburgern als Sommerresidenz.

In Teschen stießen das preußische Schlesien und das österreichische Schlesien aufeinander. Schon ab dem Ende des 10. Jahrhunderts war der Schlossberg eine Grenzburg des polnischen Staates.
Fotos: der Verfasser

Für den Wanderer, der durch eine Landschaft geht und an ein Flussufer gelangt, ist der Fluss eine Grenze. Er schneidet ihm den Weg ab, lässt nicht zu, dass er auf der anderen Seite weiter geht. Für Völker sind Flüsse hingegen keine Grenzen, frühe Siedlungen entstanden fast immer an Flüssen. Sie schaffen Räume und sind Einzugsgebiet. Flüsse, aber auch Gebirge, stellen keine „natürliche Grenzen“ dar. Erst die kartographische Revolution ermöglichte die eindeutige Festlegung von Grenzen anhand topographischer Merkmale und menschlich geschaffener Orientierungspunkte. Staatsgrenzen sind politisch gewollt. Die Natur hat für die Verschiedenheit der Völker nirgends eine mathematisch bestimmbare Grenze gezogen. Die Eigenheiten der Völker verlieren sich unmerklich und verschmelzen einander durch allmähliche Übergänge und Abstufungen.

Vom Piastenturm auf dem Teschener Schlossberg aus erscheinen in der Ferne die Mährisch-Schlesischen Beskiden, ein Gebirgszug im Osten der Tschechischen Republik. Am Fuß des Hügels teilt die Olsa das einst österreichische Teschen in ein polnisches Cieszyn und ein tschechische Èeský Tìšín. Im Juli 1920 wurde die Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei auf der Botschafterkonferenz in Paris beschlossen – willkürlich. Heute trennt die Olsa Polen und die Tschechische Republik auf einer Länge von 24 Kilometern scheinbar natürlich – nur eben nicht in Cieszyn/Èeský Tìšín.
Vor dem Krieg war Teschen eine sprachlich und konfessionell gemischte Stadt. Im Mittelalter unterstand sie dem Teschener Zweig der Schlesischen Piasten, dann durch Heimfall der Böhmischen Krone, die 1526 an die Habsburger gelangt war. Nach der Schlacht von Austerlitz 1805 hatte die Wiener Regierung vorübergehend ihren Sitz in Teschen. Im Zuge der Industrialisierung entstanden mehrere Fabriken, hauptsächlich in der Textil- und Holzindustrie.

Die Stadt wurde zum Eisenbahnknotenpunkt und einem wichtigen Zentrum des Druckereiwesens Österreich-Ungarns. Die Volkszählung 1910 stellte 22.489 Einwohner fest, davon war eine Mehrheit von fast zwei Dritteln deutschsprachig, knapp ein Drittel war polnischsprachig und weitere sechs Prozent gebrauchten Böhmisch/Mährisch als Umgangssprache. 15.138 Einwohner waren katholisch, 5137 evangelisch sowie 37 reformiert und weitere 2112 jüdischen Glaubens. Im Herbst 1938 nutzte Polen die Schwäche Prags in der Sudetenkrise zur Revision der Grenzziehung und ließ polnische Truppen nach Èeský Tìšín einrücken. Nach Kriegsende wurde die Grenzziehung von 1920 wiederhergestellt. Wie zahlreiche ehemals multiethnische Städte Ostmitteleuropas hat Teschen seinen multikulturellen und mehrsprachigen Charakter weitgehend eingebüßt. Auf polnischer Seite leben keine Tschechen mehr. In Èeský Tìšín, der einstigen Vorstadt, sind noch rund 4000 Polen. Im gesamten tschechischen Olsagebiet von Karwin über Trzynietz bis Jablunkau leben rund 37.000 Polen. Das sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung.

Rund 400 Kilometer östlich von Prag gelegen, im äußersten Osten der Tschechischen Republik, ist Èeský Tìšín erstaunlich gut an den Rest des Landes angebunden. Mehrmals täglich fahren Schnellzüge in die tschechische Hauptstadt, die Fahrt dauert vier Stunden. Bis nach Mährisch Ostrau ist es nur eine Dreiviertelstunde und bis ins slowakische Sillein dauert die Zugfahrt eine Stunde. Sichtbar wird die Teilung der Stadt schon bei der Anreise. Der alte Bahnhof befindet sich auf tschechischer Seite. Von Cieszyn führt lediglich eine Nebenstrecke in die kleine Industriestadt Czechowitz-Dzieditz. Allerdings fahren mehrere Busse täglich Bielitz-Biala und Kattowitz an. Die ab 1911 zwischen Bahnhof über die Olsa und den Hauptmarkt zur Bielitzer Straße verkehrende Straßenbahnlinie stellte ihren Betrieb 1921, nach der ersten Teilung, ein.
Vom tschechischen Bahnhof sind es nur zehn Gehminuten bis zur Freundschaftsbrücke. Dabei passiert man sowohl den Marktplatz mit dem Rathaus sowie das Teschener Museum, welches als Regionalmuseum das Olsagebiet, das auch Teschener Schlesien genannt wird, betrachtet. Sein Pendant findet das Museum keinen Kilometer Luftlinie entfernt auf polnischer Seite. Insgesamt drei Brücken verbinden beide Seiten im unmittelbaren Stadtgebiet. Die tschechische Seite war einst Vorstadt und Industriegebiet.

Am zentralen Grenzübergang befindet sich noch heute die 1806 gegründete Druckerei, eine der ältesten in der Tschechischen Republik. Mit dem Beitritt beider Staaten zum Schengener Abkommen 2007 finden keine Grenzkontrollen mehr statt. Heute wirkt der Übergang angenehm unspektakulär. Die einstige Überdachung des Grenzpostens wurde abgebaut und das einst jüdische Kaffeehaus Avion originalgetreu nachgebaut. Mit dem Grenzübertritt steht der Besucher auch schon fast in der österreichisch geprägten Altstadt von Cieszyn. Wirkt der Marktplatz auf tschechischer Seite etwas kulissenhaft, wird auf polnischer Seite deutlich, dass hier das eigentliche Zentrum der Stadt Teschen lag. Nach einem verheerenden Brand im Jahr 1789 musste fast die gesamte Stadt neu aufgebaut werden, fast alle heutigen Gebäude wurden nach diesem Datum errichtet. Tschechen leben auf dieser Seite der Olsa kaum mehr, Straßenbezeichnungen sind nun nur noch einsprachig polnisch. Der multikulturelle Charakter der Stadt ist heute nur noch auf den Friedhöfen sichtbar. Auf dem alten und den neuen jüdischen Friedhof, dem evangelischen und dem alten evangelischen Friedhof oder dem Stadtfriedhof.
Lediglich der multikonfessionelle Charakter hat sich zum Teil erhalten.

Das jüdische Leben ist im Zweiten Weltkrieg erloschen, doch im sonst katholischen Polen ist Cieszyn die evangelische Bastion. Jeder zehnte evangelische Pole gehört zur städtischen Gemeinde. Unweigerlich passiert der Besucher beim Stadtrundgang die Jesuskirche. Sie entstand als eine der sechs evangelischen Schlesischen Gnadenkirchen und war zwischen 1740 bis 1781 das einzige evangelische Gotteshaus in Oberschlesien. Die größte protestantische Kirche Ostmitteleuropas fasst mehr als 8000 Menschen. Als Teschen nach dem Aussterben der Piasten-Dynastie wieder an die Habsburger fiel, begann eine radikale Rekatholisierung. Evangelische Gottesdienste wurden untersagt, die Kirchen der katholischen Kirche übergeben, evangelische Bücher konfisziert und die evangelische Bevölkerung mit Repressalien zur Konversion oder zur Auswanderung genötigt. Ihren Glauben pflegten die Protestanten in den Jahren der Gegenreformation in sogenannten Winkelschulen und Waldgottesdiensten. Die von 1709 bis 1723 erbaute Evangelische Gnadenkirche zum Namen Jesu ist die einzige der sechs Gnadenkirchen, die bis heute ununterbrochen in den Händen der evangelischen Gemeinde verblieben ist.

Unweit der Jesuskirche, nahe der Pfarrkirche St. Maria Magdalena, einer ehemaligen Dominikanerkirche, befindet sich der Dreibrüder-Brunnen. Im  19. Jahrhundert erbaut, soll er an die Gründer der Stadt, die Brüder Leszko, Bolko und Cieszko, die der Überlieferung nach, den Ort 810 gründeten, erinnern. Der kurze Stadtrundgang endet auf dem Schlossberg. Die architektonischen Wahrzeichen der Stadt, die um 1200 errichtete romanische Rotunde, eines der ältesten erhaltenen Baudenkmäler Polens, sowie der um 1500 errichtete Piastenturm stehen hier. Die einstige gotische Wehrburg wurde im Dreißigjährigen Krieg zerstört. Im unteren Teil errichteten die Habsburger 1840 ein klassizistisches Jagdschloss nebst Orangerie. Mit dem Beitritt beider Staaten zum Schengener Abkommen scheint für den Besucher die Stadt wieder zusammenzuwachsen. Feststellen lässt sich dies nicht an einem Wochenende. Doch die Freundschaftsbrücke erscheint wie so viele andere Stadtbrücken dieser Welt, dass hier eine Staatsgrenze verläuft, kann man schon mal übersehen.