Im Dialog mit Constantin Brâncuși

Gibt es eine verschlüsselte Symbolik im Komplex von Târgu Jiu? Ein Gedankenexperiment

Ist der Kasten auf dem Tor des Kusses etwa gar kein Sarg? Fotos: George Dumitriu

Der Kuss (Bild 2) ist nicht nur Motiv einer Skulpturenserie von Brancuși (hier aus dem Kunstmuseum Craiova), sondern stilisiert auch im Tor des Kusses (Bild 3) verewigt.

Dass es sich beim Tisch des Schweigens und den 12 Stühlchen um Jesus und seine Jünger handeln könnte, haben auch andere schon vermutet...

Die unendliche Säule mit Sonnenlicht an der Spitze, eine fotografische Interpretation von George Dumitriu

Die endlose Säule – von Weitem habe ich sie gesehen. Das Tor des Kusses – wie oft bin ich schon hindurchgegangen? Habe auf den Stühlchen am Tisch des Schweigens gesessen, einmal im Frühling, einmal im Winter. Nie hatte der Künstler zu mir gesprochen... Warum sollte er auch? Etwas trennte unsere Welten. Nicht die Tatsache, dass Constantin Brâncuși längst auf der anderen Seite der Daseinsebenen weilte. Sondern etwas, das im Auge des Betrachters liegt: der richtige Blick.
Dann, eines Tages, kam der Moment, an dem Licht die toten Monumente  zum Leben  erweckte. Der Kanal zwischen den Welten schien sich mir aufzutun, zuerst nur einen winzigen Spalt - doch breit genug, um die Stimme auf der anderen Seite zu hören. Dann begannen die Steine, mir Geschichten zuzuflüstern...  Wer aber war der Lichtbringer gewesen? Wer bannte die Momentaufnahmen seines eigenen, inneren Dialogs mit dem Schöpfer der Kunstwerke auf Bilder? Bilder als  Schlüssel zu dem geheimen Kanal, der sich nun auch mir öffnete, mir  in meiner Phantasie den Dialog eröffnete mit Constantin Brancuși... 

Ehrlich gesagt, hatte mich die Begeisterung über den Komplex von Târgu Jiu (Gorj) zuvor nie wirklich erfasst. Doch nun war  alles anders: Auf dem Bildschirm leuchteten mir die Aufnahmen vom „Heldenweg“ entgegen- das „Tor des Kusses“, der „Tisch des Schweigens“, die „Allee der Stühle“, die „unendliche Säule“. Ich sollte meinem Mann, George Dumitriu, dem Urheber, einen Gefallen tun und sie  für ihn speichern. Es war frühmor-gens, ich war allein, ließ die Bilder über den Monitor gleiten: das Ensemble,  Details in Nahaufnahme, mit und ohne Schattenwurf. Es gab Bilder, die dieselben Dinge zeigten – und doch jedesmal einen anderen Blickwinkel einfingen, eine andere Art, sie zu betrachten. Und auf einmal sah ich, was er, der Fotograf, schon lange versucht hatte, mir zu vermitteln: Das „Tor des Kusses“ im Komplex von Târgu Jiu sei kein Begräbnissymbol, auch wenn Experten dies behaupten, war er schon immer überzeugt gewesen. Wie Schuppen fiel es nun auch mir von den Augen: Ist der „Heldenweg“ tatsächlich - eine Art spirituelles Initiationssymbol?

Aussteuertruhe der Schöpfung

Es sei unpassend, dass sich Brautleute darunter fotografieren ließen, wird ein Vertreter des Kulturministeriums in einer Zeitung zitiert, denn der Kasten, den die Säulengestalten im „Tor des Kusses“ (Bild 1) tragen, sei ein Symbol des Todes: ein Sarg. Das Ensemble von Târgu Jiu, der sogenannte „Heldenweg“, war als Denkmal für die Gefallenen im Ersten Weltkrieg entstanden.

 Doch halt! Was bedeuten die Elemente, die sich auf den Säulen und dann als Relief am Kasten wiederholen? Ein in Halbkreise geteilter Kreis, umrundet von einem Kreis. Sind das nicht die stilisierten Gesichter der Küssenden aus Brancu{is gleichnamigem Werk „der Kuss“  (Bild 2)? Was hat sich der Künstler dabei gedacht? Betrachten wir  das Symbol auf den Säulen  (Bild 3): Könnte es nicht auch eine Eichel in einer Vulva sein?  Der Kern der Zygote nach der ersten Zellteilung (Bild 5)? Samen in einer Kapsel (Bild 4) oder die Keimblätter eines Pflänzchens (Bild 6)? Ich betrachtete  stets das gleiche Element - und doch rückte jedes Foto eine andere Facette in den Vordergrund. Siehst du nur das eine, bist du überzeugt: Ja, das muss es sein. So aber sind sie alles in einem: Kuss, Zeugung und werdendes Leben. Was ich sah, war kein Symbol des Todes. Im Gegenteil: die Schöpfung neuen Lebens!

Aber: Was hat all dies auf einem Sarg zu suchen? Neugierig geworden, besah ich ihn mir näher. Die Küssenden auf den Säulen - das sind immer zwei, also 4 Paare pro Pfeiler oder 8 Männchen - wiederholen sich dort als stilisierte Reliefs. Auf einer Schmalseite 4 Paare, also 8 Männchen – 16 Männchen auf beiden. Auf einer Breitseite 16 Paare, also 32 Männchen - 64 auf beiden. 2, 4, 8, 16, 32, 64... Das ist eine mathematische Reihe, bei der jedes Glied durch Verdopplung entsteht – das Prinzip der Zellteilung, das Grundprinzip allen Lebens! Ist der Kasten, den die Säulen-Männchen auf ihren Schultern tragen, eine „Aussteuertruhe” für das Geheimnis des Lebens? Das Vermächtnis ihrer Vorfahren, das sie – küssend, sich liebend und fortplanzend - an künftige Generationen weitergeben? Ist es so, Constantin Brancuși?

Irdischer Lebensweg

Durch die Dimensionen, die uns trennen, spüre ich das Grinsen des Künstlers. Ist es hämisch - oder zwinkert er mir bestätigend zu?
Das nächste Foto zeigt das Tor des Kusses in Richtung Tisch des Schweigens. Treppen führen entlang der „Allee der Stühle“ nach oben. Links und rechts davon: Stühlchen in Gruppen, alle mit viereckiger Sitzfläche. Wie praktisch veranlagt der Künstler wohl war, hat er doch gleich für Sitzgelegenheiten zum Bewundern seiner Werke gesorgt. Oder was sonst sollen die Stühlchen bedeuten? Da überfällt es mich schon wieder, dieses Gefühl des zweideutigen Grinsens von Brâncuși…

Warum sind die Sitzflächen der Stühlchen, die zum Tisch des Schweigens führen, quadratisch (Bild 9) - aber die um den Tisch selbst herum (Bild 7) rund? In der orthodoxen Kirche symbolisiert das Quadrat die irdische Welt, der Kreis hingegen den Himmel. Himmlische Figuren sind auf Ikonenwänden immer in Kreisen dargestellt. Himmelsschalen öffnen sich stets im Kreis. Oft sieht man diese Schalen - „ceruri“, die Himmel, im Rumänischen ein Pluralbegriff - als gegeneinander verdrehte Quadrate, erst gemeinsam bilden sie einen Kreis. Drehen wir ein Quadrat um die eigene Achse, beschreibt es einen Kreis.  Der Kreis als Vielzahl gegeneinander verdrehter Quadrate  - oder Welten – ist die Vervollkommnung des Quadrats. Der Kreis ist also ein  Symbol der Vervollkommnung -  himmlischer Erleuchtung? Damit ist für mich klar, was die „Allee  der Stühle“  bedeutet: Vom „Tor des Kusses“ (Zeugung, Geburt) führt sie durch die diesseitige Welt zum „Tisch des Schweigens“, ins Jenseits.

Spekulation?  Oder lässt sich diese Himmelssymbolik irgendwie bestätigen? Ich zähle 12 runde Stühlchen um den Tisch. 12 Jünger hatte Jesus. 12 Bereiche durchfährt die Seele des Toten in der Barke des Ra auf dem Fluss der Unterwelt, so das  Ägyptische Totenbuch, bevor sie mit dem Sonnengott zusammen aufersteht. Ein Hinweis? 
Direkt hinter dem Tisch des Schweigens fließt der Jiu. Auch bei den Griechen der Antike teilte  ein Fluss - der Styx -  die Welt der Lebenden und Toten. 

Ost und West – Diesseits und Jenseits

In der ägyptischen Mythologie liegt das Totenreich stets im Westen. Der Osten hingegen steht für Geburt und Auferstehung. Und tatsächlich: Der Fluss, der Jiu, liegt im Westen, das Tor des Kusses im Osten! Der Fluss ist der Tod – das Tor des Kusses die Geburt bzw. Zeugung. 
In der orthodoxen Kirche ist  diese Symbolik aus der Antike wohl irgendwie erhalten geblieben. Der Eingang der Kirche, oft mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts versehen, liegt im Westen und steht für den Tod. Der Weg durch die Kirche bis zum Altar repräsentiert die Fahrt der Seele durch eine jenseitige „Zwischenwelt“ (in den Totenbüchern der Alten Ägypter als Bereich voller Gefahren beschrieben), bis sie im Osten, an der Stelle des Pantokrator-Turms vor dem Altar, zu ewigem Leben aufersteht. Man beachte, nur nebenbei betrachtet, die Bedeutung des Wortes „Altar“: auf Rumänisch kommt es von „alt“  (hoch), „înal]are” (Auferstehung), auf Deutsch verweist „alt“, „Alter“ auf  zeitliche „Höhe“, auf Englisch  „altitude“ auf räumliche. Der Altar liegt immer im Osten, wo die Sonne aufgeht – und die Seelen der Toten im Alten Ägypten zu neuem Leben auferstehen.

Was vermittelt vor diesem Hintergrund der „Heldenweg“? Nach der Zeugung/Geburt am „Tor des Kusses“ folgt die Seele ihrem Erdenleben  - quadratische Stühlchen, Treppenstufen – auf einem Weg, der am „Tisch des Schweigens“ endet: im Himmel, bei Jesus.

Eine Leiter zum Himmel

Interessant ist, dass auf der verlängerten Achse des „Heldenwegs” im Osten, weit vor dem „Tor des Kusses“, eine orthodoxe Kirche steht.  Sie wurde zwar für den Komplex  erbaut, steht aber an Stelle einer älteren Kirche. Bestimmt hat  Brâncu{i sie irgendwie bedeutungsvoll „integriert“...  
Am einen Ende der  Achse liegt also der „Tisch des Schweigens“,am anderen die „unendliche Säule“. Wie passt die denn nun ins Bild?  Die Fotos, die ich dazu finde, sind überwältigend:  Gleißende Lichtreflexe spiegeln sich am oberen Ende, als würde sie die Himmelskuppel durchstoßen und göttliches Licht aus der Perforation treten. So wirkt sie tatsächlich unendlich (Bild 14)! 

Ich zähle die bauchigen Elemente der Säule und denke: Komisch, warum beginnt und endet sie mit je einem halben? Bis es mir wie Schuppen von den Augen fällt: In der Säule wiederholt sich die Form der Stühlchen - muss man so die Elemente betrachten? Dann ergibt sich auch eine ganze Zahl: 16. 16 Stühlchen, oder sanduhrenförmige „Männchen“ – verweisen sie mit ihrer Form auf die zeitliche Vergänglichkeit des irdischen Lebens? 16 Elemente, 32 Hälften. Da ist sie wieder, die vertraute Zahlensymbolik. 
Sind die 16 Elemente Menschen? Ist die Säule eine Leiter, auf der sie in den Himmel steigen? Die Leiter der Tugenden, die Jakobsleiter etwa? Eine berühmte Darstellung von dieser gibt es im Kloster von Sucevi]a. Fieberhaft suche ich das Foto (Bild 8). Zähle die Sprossen der Leiter: 32! Auf der ersten Sprosse betritt man die Lebensleiter, hat dann 30 Tugenden zu bewältigen, auf der letzten wartet Jesus mit ausgestreckter Hand.

 Wen wundert es jetzt noch, dass zwischen dem Tor des Kusses und dem Tisch des Schweigens genau 30 Stühlchen stehen? Dass die Jakobsleiter 32 und nicht 30 Stufen hat, ich habe mich also nicht verzählt, interpretiert übrigens Wilhelm Schmidt Biggemann in „Geschichte der christlichen Kabbala“ als Hinweis auf das Buch Jetzira und dessen 32 Wege in die Weisheit.

Verbindung zu fernöstlicher Mystik

16 Sanduhren-Männchen klettern auf der endlosen Säule nach oben. 32 Halbelemente. Als Physiker denke ich: Irgendwie sieht die Säule wie eine stehende Welle aus. Jedes Männchen wäre darin ein stabiler Schwingungsknoten, eine halbe Wellenlänge also, so betrachtet bestünde die Säule aus acht ganzen Schwingungen. Acht! Acht ist die Zahl der Vollkommenheit im Christentum. Frühchristliche Gnostiker sprechen von acht Himmelssphären, die Etrusker von acht Weltzeitaltern. Im Judentum bedeutet die Zahl 8 den Übergang von der Zeitlichkeit in die Überzeitlichkeit. Im Buddhismus führt der achtfache Pfad zur Befreiung, auch dabei geht es um Tugenden. Die Kosmogonie des Mystikers G. I. Gurdjieff, den Brâncuși übrigens gekannt hat, stützt sich auf acht Dimensionen. Das I-Ging, Weisheitsbuch der Chinesen, besteht aus acht Yin-Yang-Symbolen – acht Schwingungen, die zusammen die Welt erschaffen. Und nicht zuletzt ist eine liegende 8 das Zeichen für Unendlichkeit!

Steht die Säule tatsächlich als Symbol für seelische Entwicklung und Auferstehung? Ihre Lage hinter dem Pantokrator-Turm der Kirche scheint dies  zu suggerieren. Doch wäre es nicht logischer gewesen, sie hinter dem Fluss, am anderen Ende des Ensembles, zu errichten? Vielleicht  - doch dann wäre die orthodoxe Kirche nicht als Teil desselben zu erkennen.  

Betrachten wir noch einmal die Säule: Wie der Pantokrator-Turm in der Kirche verbindet sie unsere irdische Zeit mit einer zweiten, kosmischen Zeitachse  - der Himmelszeit, Engelszeit dem sogenannten Eschaton. Sie wäre damit eine Art Weltenbaum, Axis mundi, wie er in den kosmogonischen Mythen zahlreicher Kulturen vorkommt. Auch das bereits erwähnte Buch Jetzira beschreibt den Weltenbaum oder Lebensbaum.  Zwischen diesen Elementen, die auch in Mythologien anderer Kulturkreise vorkommen, hat Brâncuși offenbar die orthodoxe Kirche als Bindeglied „eingebaut“. 

Dreigeteilte Seele oder Raumzeit-Kegel?

Betrachten wir erneut das Bild der Säule (Bild 14): Ihren Schattenwurf, ihren Materiekörper, den Übergang ins Licht. Drei Komponenten, die nahtlos verschmelzen. Ist die Säule vielleicht auch ein Sinnbild der dreigeteilten Seele? Mit dem Schatten als Unterbewusstsein, dem metallenen Teil als Ego in der materiellen Welt und dem Lichtteil als unsterbliche Seele? 

Man könnte die Sanduhr-Männchen in der Säule - oder  auf der „Allee der Stühle“ - aber auch als Raumzeit-Kegel nach der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie interpretieren (Bild 9 und 10 – sehen die Stühlchen mit diesem Schattenwurf hier nicht sogar wie sitzende Männchen aus?): Die Einschnürung in der Mitte wäre dann die Gegenwart, der infinitesimal kleine Beobachtungspunkt, auf dem das Ich-Bewusstsein (der Beobachter) durch die voranschreitende Zeit reitet. Der nach oben offene Kegel zeigt in die Zukunft – in parallele, wahrscheinliche Zukünfte, wie sie die Quantenphysik verlangt. Der Kegel nach unten wäre nach dem Einstein-Minkowski‘schen Lichtkegel dann als Vergangenheit zu interpretieren. Als Zeitgenosse Einsteins hätte Brâncu{i  durchaus Zugang zu den Grundideen der Speziellen Relativitätstheorie haben können.

Archaische Symbole aus Rumänien

George Dumitriu, erfahrener Fotograf von rumänischem Kulturerbe, sieht auch archaische Symbole aus diesem Kulturraum im Schattenwurf der „endlosen Säule“.  Ähnelt er nicht verblüffend dem gewundenen Seil, das Maramurescher Holzkirchen ziert und für die Polaritäten im Leben steht: Glück und Unglück, Schatten und Licht? Oder einer Holzkirche (Bild 11), einer Bäuerin in Tracht (Bild 12)?  Oder den Skulpturen von Brancuși: dem Hahn (Bild 13), dem Vogel Maiastra - einem seiner wichtigsten Werke, das es in vielen Versionen gibt? Eine davon stellt einen Lichtvogel dar, der die Spitze einer ganz ähnlichen Säule wie die „unendliche Säule“ ziert. George Dumitriu ist überzeugt: „Brâncuși muss nicht nur Bildhauer, sondern auch Fotograf gewesen sein. Sonst hätte er all dies alles nicht so meisterhaft in sein größtes Kunstwerk einschließen können!“ 

Doch wo ist er, der Vogel Maiastra? Oder der Seelenvogel, übrigens auch ein Symbol, das schon die Alten Ägypter verwendeten. Der Vogel, der auf alten rumänischen Friedhöfen hölzerne Grabstelen zierte. Der Vogel, der im Christentum den Heiligen Geist symbolisiert.
Brâncuși wurde einmal kritisiert, weil er keinen Soldaten oder zumindest solchen Vogel an die Spitze der Säule gesetzt hatte – immerhin sei das Ensemble doch ein Denkmal für die Helden des Ersten Weltkriegs. Er reagierte darauf verärgert mit dem berühmten Spruch: „Ihr habt ja keine Ahnung, was ich euch hinterlasse!“  
Doch, lieber Constantin, ich glaube, jetzt ahnen wir es: Wäre die Säule oben nicht leer und glatt, würde sich dort die Sonne nicht reflektieren. Dein Vogel Maiastra? – Er ist aus purem Licht!