„Klein-Paris“, „New York des Ostens“ oder einfach: Bukarest

Eine urbane Wanderung durch die rumänische Hauptstadt jenseits des Reiseführers

Ausschnitt aus dem jährlich übersprühten Graffito an einer Hauswand in der Str. Verona (Version von 2011)

Das 1888 erbaute, neoklassizistische Athenäum

Am Boulevard Magheru thront das mächtige Hotel Ambasador

Überraschende Blicke ins Grüne: Hof einer Villa in der Nähe der Piaţa Romana
Fotos: Robert Pfützner

„Was willst du schon wieder dort?“ Diese Frage stellten mir Freunde, als ich vom Plan einer erneuten Reise nach Bukarest erzählte. Von 2011 bis 2013 nannte ich diese Stadt mein Zuhause und wollte nun noch einmal einige Wochen hier verbringen. Der Reiz, den die rumänische Hauptstadt auf mich ausübt, ist schwer zu fassen. Es ist etwas Magisches an dieser Stadt mit ihrer Dynamik, ihrem Chaos, ihrer schon im Mai hochsommerlichen Hitze.

Es ist nicht das Bukarest, das in den Reiseführern steht, das mich so fasziniert, nicht das gigantomanische „Haus des Volkes“, nicht das - inzwischen fast tot sanierte - Leipziger Viertel. Es ist nicht der schattige Cişmigiu oder der weitläufige Herăstrău Park. Auch wenn ich all diese Orte gern besuche. Ich fuhr früher oft mit der Tram 16 vom Boulevard Lacul Tei zur Piaţa Sf. Gheorghe, die Strada Viitorului entlang. Allein der Name dieser Straße ist ein Versprechen: „Straße der Zukunft“! Freilich eins, das sie nicht halten kann - doch ist es gerade dieser Spalt zwischen dem, was der Name erwarten lässt, und dem, was man dann tatsächlich entdeckt, der so spannend ist. Ein bisschen so wie das Gefühl, wenn man in einem überalterten Brandenburger Dorf über die „Straße der Jugend“ läuft.

Auch kleine Details faszinieren mich immer wieder. Neulich schlenderte ich durch die Straßen und hielt am Schaufenster eines Buchladens inne. Das Gesicht Hitlers starrte von einem als „Bestseller“ beworbenen Buch. Es ging um das „neue Leben Hitlers in Argentinien“. Der Untertitel: „Viaţa Führerului după al doila Război mondial“ (das Leben des Führers nach dem zweiten Weltkrieg) - „Führerului“, ein genitivierter Führer, allein wegen solch zungenbrecherischer Wortschöpfungen lohnt es sich, hier zu sein.

Dutzende solcher Details könnte ich beschreiben. Heute soll es aber um etwas anderes gehen. Ich wollte meinem Wohlgefühl in dieser Stadt auf die Spur kommen - warum gefällt es mir gerade hier so gut? Also verabredete ich mich mit einem baugeschichtlich versierten Bekannten, Jürgen Matuschek-Marian, hoffend, er könne mir erklären, was an Bukarest so fasziniert.

Architektur schnuppern

Wir beginnen unsere kleine Wanderung an der Piaţa Romană, biegen in die Strada Tache Ionescu ein, lassen den Kreisverkehr links liegen und schwenken rechts in die Strada Dionisie Lupu ein. Erste Station ist ein kleiner Park, der sich zwischen uns und der Strada Pitar Moş aufspannt. Wir finden uns umgeben von einem modernistischen Bau-Ensemble, das nur von einer Ecke von einem Palais im französischen Klassizismus unterbrochen ist. Zwar verhindert das dichte grüne Laub der Kastanien ein volles Panorama, aber an der Südseite des Platzes ragt wie der Bug eines Ozeandampfers ein riesiges modernistisches Gebäude auf. Ein Bewohner, dem unsere Anwesenheit suspekt erscheint, spricht uns an. Nachdem wir unser Interesse an dem Haus erklärten, wird er freundlicher und erzählt uns, es sei 1938 gebaut worden, zur selben Zeit und vom selben Architekten wie die beiden rechts. Ein verblassender Schriftzug ziert den Eingang. Ob dies einst ein Hotel war? Nein, Büros seien hier gewesen.

Der Pitar Moş folgend gelangen wir an eine Kreuzung und biegen in die Strada Pictor Arthur Verona ein - ein kurzer Blick auf die 1914 erbaute anglikanische Kirche. Auch wenn diese mit ihrer britischen Architektur eine Besonderheit darstellt, so verdient vielmehr eine Frau Erwähnung, die 60 Jahre lang für Sauberkeit und den Erhalt des Gotteshauses sorgte. Maria, die sich, auch während die Kirche im Zweiten Weltkrieg leer stand, um das Gebäude kümmerte, wurde 1982 vom Erzbischof von Canterbury für ihre treuen Dienste geehrt. Erst mit 78 Jahren hörte sie, nicht ganz freiwillig, auf, in der Kirche zu arbeiten und blieb ihr bis zu ihrem Tod 1991 eng verbunden. Hinter der Kirche erstrecken sich die Parks Grădina Icoanei und Ion Voicu, die sich an heißen Tagen für lange Pausen im kühlen Schatten anbieten.

Wir aber entscheiden uns, noch ein wenig weiter zu gehen und erst im Grădina Verona zu rasten. Auf dem Weg dahin passieren wir eine große Wand, die jedes Jahr während des Street Delivery Festes mit Graffittis gestaltet wird. Das aktuelle Bild, das auf die Probleme des Ölkonsums aufmerksam macht, überzeugt mich jedoch nicht. Wenige Meter später lädt die hinter dem Cărtureşti-Buchladen gelegene Grădina Verona zur Mittagspause ein. Nachdem wir uns mit Tiramisu und Limonadă gestärkt haben, geht die Exkursion weiter, vorbei an dem - leider wie so viele der architektonischen Kostbarkeiten Bukarests von Werbeplakaten verdeckten - Kino Patria.

Wir überqueren den beeindruckenden, nach dem Revolutionär von 1821 und 1848 benannten Boulevard Gheorghe Magheru. Auch hier hat schon wieder einer der neuen „Mega Image“-Supermärkte eröffnet. Es ist ein Graus. Ein Taxifahrer erzählte mir erst kürzlich erzürnt, die Westeuropäer wollten Rumänien in eine ökonomische Kolonie verwandeln. Die in wenigen Jahren beobachtbare Abwicklung der kleinen Läden und die erschreckende postmoderne Monotonie der Mega-Kette lässt diesen Gedanken nicht ganz absurd erscheinen.

Wir bestaunen beim Einbiegen in die Strada Benjamin Franklin das leerstehende Lido. Das in den 1930er Jahren im Art déco Stil erbaute Hotel, dessen facettenreiche Fassade von einem ungeheuren Schokoladenwerbeplakat bedeckt ist, war das erste Rumäniens mit einem Wellenbad - irgendwo dort, wo jetzt urbaner Urwald den Hotelgarten überwuchert. In „Balanţa“ mit Maia Morgenstern gibt es noch Gelegenheit, die Terrasse und das Wellenbad zu bestaunen. Ein kurzer Blick auf das 1937 errichtete und 2013 wieder eröffnete Hotel Ambasador lässt eine Ahnung der Modernität, die Bukarest Ende der 1930er und in den 1940er Jahren ausstrahlte, aufkommen. Jürgen meint: „Das modernistische Bukarest konnte mit der Weltavantgarde mithalten!“ Immer wieder steht an den Gebäuden - oder Jürgen erzählt es - dass sie in den 1930ern erbaut worden seien. Muss es nicht vorher auch Gebäude gegeben haben? Auf meine diesbezügliche Nachfrage meint er: „Es war nicht nur Ceauşescu, der Altstadtviertel zerstören ließ, auch in den 30ern wurden massiv historische Häuser abgerissen.“ Kollateralschäden der Modernisierung.
Apropos Abriss: Wir sind inzwischen auf der weiten, als Parkplatz genutzten Fläche zwischen Athenäum, Königspalast und Universitätsbibliothek angekommen. Hier sollte einst ein riesiger Paradeplatz entstehen, auf dem die Armee Seiner Königlichen Hoheit aufmarschieren hätte können. Viele Gebäude mussten dem Vorhaben weichen. Es wurde jedoch nicht ganz abgeschlossen und so entkam das klassizistische Gebäude der Universitätsbibliothek dem geplanten Abriss.

Vorbei an jenem geht es auf die Pia]a Revoluţiei, um an der Kreuzung zwischen Strada Academiei und Strada Ion Câmpineanu das dortige Ensemble zu erkunden. Ein Geheimtipp, aber leider hat der Platz nicht einmal einen Namen. Autos verstellen die Sicht auf die Art déco-Häusergruppe. Ein Hauch amerikanischer Großstädte umweht uns: „Man kann sich vorstellen, wie Batman sich von Zinne zu Zinne dieses Gebäudes schwingt“, schwärmt Jürgen beim Blick auf die Hochhäuser. Nichts mit Paris. „New York des Ostens“ könne man Bukarest nennen. Hier findet man eine für Europa einmalige Anzahl an modernistischen Gebäuden.
Die Ion Câmpineanu geht es weiter zur Calea Victoriei und zum Telefonpalast, einem 52 Meter hohen Art déco-Bau, der bis 1956 das höchste Gebäude der Stadt war.

Der Palast war der erste Stahlgerüstbau Rumäniens. Wir laufen die Straße weiter und überqueren den Boulevard Regina Elisabeta, vorbei am ehemaligen Goldkaufhaus, Calea Victoriei 22, auch dieses leider leer. Durch die schöne, etwas heruntergekommene Passage Vilacrosse geht es ins touristische Lipscani, wo unsere kleine Reise durch das modernistische Bukarest endet. Ein Spaziergang, der mir eine neue Perspektive auf die Stadt gab - doch nur einen winzigen Ausschnitt der Stadt beachtete. Das lebhafte Treiben auf der Piaţa Obor, die von kleinen Gärtchen umgebenen klassizistischen Villen in den Nebenstraßen, die riesigen Plattenbauviertel der Peripherie - laut Jürgen „ein Missbrauch des Modernismus“ - all diese Zutaten, die zu Bukarest gehören, mussten außen vor bleiben.

Habe ich nach dieser kleinen Wanderung besser verstanden, warum ich Bukarest so mag? Eine Freundin, die lange hier  lebte, nun aber wieder in Deutschland ist, schrieb kürzlich, als sie wieder einmal hier zu Besuch war, eine E-Mail an mich, im Betreff: „Bucureşti, te iubesc!“ - Vielleicht trifft es das am Besten. Diese Stadt erzeugt ein Gefühl, fast, wie das der Liebe, das man nicht restlos erklären kann – und nicht restlos erklären sollte.