La Serenissima – die Durchlauchtigste

Ein Sprung nach Venedig zum Sehen und zum Nachdenken

Der Campanile und Dogenpalast, gesehen aus der Lagune.

Der Canal Grande im Abendlicht

Die Rialtobrücke ist zu jeder Jahreszeit ein Magnet für die Touristen.
Fotos: Andrey Kolobov

30 Millionen Menschen können sich nicht irren, denkt man und wagt den Sprung nach Norditalien, nach Venedig, die touristenreichste Stadt der Apenninenhalbinsel. So viele Besucher verzeichnete die Stadt, die den Beinamen „Durchlauchtigste“ verdient hat, im Jahr 2011. Für die meisten von ihnen, genau wie auch für mich, war es ein Tagesausflug: Venedig im Schnelldurchlauf.

Auf dem Weg zur Inselstadt

Um überhaupt nach Venedig, genauer gesagt in die Altstadt, zu gelangen, sollte man eines bedenken: Venedig ist eine Inselstadt. Folglich gibt es nicht viele Möglichkeiten, dorthin zu kommen. Die Bahnverbindung verläuft vom Festland über die Ponte Vecchio bis zum Bahnhof Santa Lucia. Neben dieser alten Brücke steht seit 1933 die 3850 Meter lange Ponte della Libertà, die sowohl von den Autos als auch den Fußgängern genutzt wird. In beiden Fällen landet man am nordwestlichsten Ende der Stadt und hat einen Fußmarsch bis zu den berühmtesten Sehenswürdigkeiten. Eine andere Anreisemöglichkeit stellt die Ankunft mit dem Schiff dar: Es ist die geschichtlich richtigere und interessantere Variante.

Bereits die Autofahrt nach Punta Sabbioni auf der strickgeraden, von Bäumen umrahmten Via Fausta stimmt auf Venedig ein. Für 18 Euro erhält man ein 12-Stunden-Ticket, das nicht nur die Fahrt nach Venedig ermöglicht, sondern auch die Nutzung der Vaporetti (Wasserbusse) innerhalb dieser Zeitspanne erlaubt. Von Punta Sabbioni kommend, lässt man die Sant´Erasmo-Insel, die Vegnole-Insel sowie die La-Certosa-Insel rechterhand, die nordöstliche Spitze der Lido-Insel und die unbewohnte San-Servolo-Insel linkerhand. Nach einer scharfen Wendung erblickt man den Turm der San-Giorgio-Maggiore-Kirche auf der gleichnamigen Insel und den Campanile des Markusdoms. Die Schiffe legen nicht weit vom Dogenpalast an. Danach ist man dem Touristenstrom ausgesetzt, der einen in Richtung des Hauptplatzes Venedigs, den Markusplatz, trägt.

Der reißende Touristenstrom

Es scheint, dass alle in Venedig ankommenden Touristen zuerst den Markusplatz besichtigen wollen. Die Riva degli Schiavoni, der bedeutendste Kai der Stadt, wird deswegen zu einer Einbahnstraße. Wenn man Glück hat und es einen Stau gibt, kann man von der letzten Brücke vor dem Dogenpalast die Seufzerbrücke (Ponte dei Sospiri) erblicken. Danach geht es weiter, lavierend zwischen den Verkaufsständen, den fotografierenden Menschen und den stehengebliebenen Gruppen, entlang des Dogenpalastes zum Markusplatz.

Dieser 175 Meter lange und 82 Meter breite Platz ist neben der Paizzale Roma der einzige Platz der Stadt, der die Bezeichnung „piazza“ trägt. Die anderen Plätze wurden „campi“ (Felder) genannt, da sie nicht gepflastert waren. Sogar Mitte Oktober ähnelt der Platz einem Menschenkessel, der mit Vertretern wahrscheinlich aller Völker der Welt gefüllt ist. Der Markusplatz ist von drei Seiten von dreistöckigen Gebäuden, den alten und neuen Prokuratien im Norden und Süden sowie der Ala Novissima oder Ala Napoleonica an Stelle der unter Napoleon abgerissenen Kirche San Geminiano im Westen, umrahmt. Im Osten thront die Basilica di San Marco, der Markusdom. Selbstverständlich nicht zu übersehen ist der Campanile di San Marco, der mit seinen 98,6 Metern das höchste Gebäude Venedigs darstellt.

Die meisten Touristen, die am Markusplatz ankommen, wollen unbedingt ein Foto mit den berühmten, überfütterten und sehr faulen Tauben machen. Im Internet kursieren Bilder mit von Tauben behangenen Menschen. Man soll aber bedenken, dass das Füttern von Tauben verboten ist. Das Zuwiderhandeln wird mit einer Strafe von 500 Euro geahndet.

Der Lauf zu den Sehenswürdigkeiten

Die Altstadt von Venedig hat eine Gesamtfläche von etwa sieben Quadratkilometern. Daraus folgt eine sehr hohe Konzentration von Sehenswürdigkeiten. Der Touristenstrom verlässt den Markusplatz unter dem Torre dell´Orologio (Uhrturm). In der engen Merceria-Orologio-Gasse ist das Anhalten fast unmöglich. Ein Tipp: Menschen mit Verfolgungswahn sollten Venedig meiden, denn aus fast allen Schaufenstern starren unzählige augenlose Masken die Passanten an.

Das Ziel der meisten Stadtbesucher ist die älteste Brücke über den Canal Grande – die Rialtobrücke. Der Canal Grande begrüßt die Ankömmlinge mit Wasserplätschern und Fischgestank. Die am 20. März 1591 eröffnete Rialtobrücke ist eines der bekanntesten und der touristenreichsten Bauwerke der Stadt. Um 1100 existierte noch keine Brücke über den Canal Grande. Eine Chronik berichtet über die Errichtung einer Holzbrücke im Jahre 1246. Von den drei Vorgängerbrücken ist die zweite durch einen Unfall bekannt geblieben: 1444 brach sie zusammen unter der Menschenmenge, die von hier aus die Hochzeitszeremonie der Marchese di Ferrara verfolgte. Der Beschluss, eine Steinbrücke über den Canal Grande zu bauen, fiel zwar bereits 1507, jedoch dauerte es Jahrzehnte, bis er umgesetzt wurde. Am Wettbewerb für die Neugestaltung beteiligten sich namhafte Architekten wie Michelangelo oder Andrea Palladio.

Die Rialtobrücke misst 48 Meter Länge und 22 Meter Breite. Die Tatsache, dass auf der Brücke weitere Geschäfte angesiedelt werden konnten, brachte schließlich dem Baumeister Antonio da Ponte den Auftrag. Von ihm stammt auch der Plan des neuen Gefängnisses, das sein Neffe, Antonio Cotin, durch die Seufzerbrücke mit dem Dogenpalast verbunden hat. Die lichte Weite des einzigen Bogens der Rialtobrücke beträgt 28,8 Meter und die Gründungen der beiden Widerlager bestehen aus Pfahlrosten mit jeweils 6000 gerammten Holzpfählen. Im Übrigen gibt es direkt neben der Brücke auf der San-Marco-Seite ein kleines Café, das nicht nur 5-6 Tische am Ufer und einen schönen Ausblick bietet, sondern auch erträgliche Preise hat. Jedoch wird man das Gefühl nicht los, mitten auf einer starkbefahrenen Autobahn im Rush-Hour den Kaffee zu genießen.

Venedig in Zahlen und Fakten

In der Lagune von Venedig gibt es 118 größere und kleinere Inseln. In der Altstadt selbst zählt man 175 Kanäle, deren Gesamtlänge 38 Kilometer beträgt. Insgesamt 398 Brücken sind über die Kanäle gespannt. Die einzige noch erhaltene Brücke ohne Geländer erschließt ein Privathaus im Stadtviertel Cannaregio. Über den Canale Grande gibt es außer der Rialtobrücke inzwischen drei weitere: Den Ponte degli Scalzi, den Ponte dell´Accademia sowie den Ponte della Constituzione. Obwohl die Infoblätter darum bitten, auf den Brücken nicht stehen zu bleiben, um den Menschenstrom nicht zu behindern, halten sich die meisten Touristen nicht daran.
Eine Besonderheit stellt die jedes Jahr am 21. November gelegte Brücke über den Canal Grande dar, die die Kirchen Santa Maria del Giglio und Santa Maria della Salute verbindet. Auf dieser aus Booten bestehenden Brücke findet eine Prozession zum Dank für die Erlösung von der Pest von 1630/1631 statt. Vergleichbares findet am Samstag vor dem dritten Sonntag des Juli mit dem Brückenschlag über den Canale della Giudecca zur Kirche Il Redentore statt. Hier dankt man für die Errettung von der Pest von 1575/1576.

Rund um den Kernbereich der Stadt liegen zahlreiche Inseln, denen bereits im Mittelalter verschiedene Aufgaben zugewiesen wurden: eine Friedhofsinsel (San Michele), eine für die Glasbläser (Murano) oder eine für die Gemüseproduktion (Sant´Erasmo), andere dienten der militärischen Sicherung der Lagune.

Die Gedanken danach

Die acht Stunden, die ich in Venedig verbracht habe, reichten selbstverständlich nur dafür, um einen Bruchteil der Stadt zu sehen. Ein Tagesausflug ist für mehr eindeutig zu kurz. Ein längerer Aufenthalt ist zwar empfehlenswert, aber auch erheblich teurer. Nur sollte man nicht vergessen, dass die Altstadt von Venedig ein lebendiger Ort ist. Dort leben Menschen, die zwar vom Tourismus profitieren, jedoch von Touristen, milde gesagt, sichtlich übermüdet sind. Keinem wird es gefallen, wenn die engen Calle, Fondamenta und Mercerie, die etwas breitere Campi und Campelli, ja sogar die Corti – die Innenhöfe – voll fremder Menschen sind. Und nicht einmal „acqua alta“, das Hochwasser, schreckt die Touristen ab.

Zweifelsohne stellt Venedig ein einzigartiges Beispiel der Architektur und der menschlichen Durchsetzungskraft dar. Die Stadt ist schön. Sie ist sehenswert. Jedoch verließ mich die ganze Zeit in Venedig der Gedanke nicht, wie würde diese Stadt ohne Touristen aussehen? Wahrscheinlich wünscht sich jeder Tourist, der wieder einmal von einem Artgenossen zu hart geschubst wird, eine touristenleere Stadt sehen zu können. Der unendliche Touristenstrom führte 1999 zu einer ungewöhnlichen Aktion der Stadtverwaltung: Auf Plakaten wurde mit Ratten, verschmutzten Kanälen und verfallenen Palästen vor Venedig gewarnt. Insbesondere die Tagestouristen sollten abgeschreckt werden. Das Ziel wurde augenscheinlich verfehlt.