Mit Kipa und Kamera durch Licht und Schatten

Zwei zauberhaft gegensätzliche Synagogen vor der Linse – Großwardein und Großkarol

In Großwardein wird der heilige Schrein von zehn Neonröhren erleuchtet – in Großkarol (nächstes Foto) umgeben ihn nur noch die Schatten der Vergangenheit. Fotos: George Dumitriu

In Großwardein (oberes Bild) wird der heilige Schrein von zehn Neonröhren erleuchtet – in Großkarol umgeben ihn nur noch die Schatten der Vergangenheit.

Kurz nach ihrer Renovierung: die orthodoxe Synagoge in Großwardein bei Nacht

Hier nagt der Zahn der Zeit: die Synagoge in Großkarol

Großkarol – spürbarer Charme einer fast vergessenen, für immer verlorenen Welt

Großwardein – mit überirdischer Pracht wurde ein Stück jüdischen Kulturerbes in die Gegenwart geholt...

... und mit unzähligen Lüstern ins rechte Licht gerückt

Unzählige Synagogen haben wir auf unseren Reisen im Herbst 2017 durch Rumänien entdeckt. Tausende Fotos hat George Dumitriu damals geschossen. Eine Ausstellung und ein Bildband sind entstanden, auch ein paar Artikel in der ADZ. Doch wenn man sich rückblickend fragt: „Welche ist die Schönste im ganzen Land?“, drängen sich mir augenblicklich zwei in den Sinn. Sie könnten gegensätzlicher nicht sein, jede beeindruckt auf ihre Weise. Die frisch restaurierte orthodoxe Synagoge von Großwardein/Oradea: erhaben, majestätisch, strahlend. Und die vergessene, dem Verfall preisgegebene, verstaubte, doch vielleicht gerade deswegen so eindringlich nach Aufmerksamkeit heischende Synagoge von Großkarol/Carei.

Was haben sie gemeinsam, dass man sie vergleichen wollte? Den monumentalen Bau? Das Präfix „Groß“ im Namen ihrer Orte? Dass beide im Kreischgebiet liegen? Oder vielmehr die Intensität der Gefühle, die einen beim Betrachten und Entdecken ergreift? In der einen wird man fast erschlagen von leuchtenden Farben, filigranen Arabesken, Buntglas und glänzenden Kacheln. Tausende Lüster, Lichter und Lichtlein, so scheint es, rücken sie ins rechte Licht.
In der anderen lässt sich all dies nur noch erahnen. Dieselbe monumentale Größe. Derselbe Reichtum an Architektur und Ornamenten – doch mit bröckelndem Putz und verblassten Farben, trübem Buntglas, Lüstern ohne Licht. Am verstaubten Gestühl bleiben unsere Spuren haften, wer weiß wie lange. Hier wischt niemand mehr.

Die erste, umgeben von einem Garten mit perfekt getrimmten Zierbüschen, Nebengebäuden, einem geschwungenen Schmiedeeisenzaun, suchen wir in der brodelnden Stadt Großwardein. Am Wächterhäuschen verlangt man unseren Ausweis. Eine Delegation Rabbiner zeugt von lebhaftem jüdischen Leben. Am Eingang liegt eine Schachtel mit Kipas bereit – den Käppchen, die jeder männliche Besucher tragen muss.
Die zweite finden wir leicht, Großkarol ist übersichtlich. Das Gelb der Fassade scheint gegen die grauen Wolken anzutrotzen. Das monumentale Bauwerk auf dem baumlosen Wiesenstück schützt ein verrosteter Maschendrahtzaun, im selben Gelb überpinselt. Den Hüter, der nebenan in einer einfachen Kate wohnt, muss man mehrmals laut rufen. Und die blutroten, überreifen Himbeeren im stacheligen Dickicht an der hinteren Mauer erntet wohl niemand mehr. Es gibt keine Juden mehr in Großkarol.

Wir erleben beide Kontraste innerhalb weniger als 24 Stunden: die erste Synagoge bei Nacht und Regen, die zweite an einem trüben Nachmittag. Die Eindrücke verlinken sich, graben sich als gemeinsame Neuronenbahn ins Gehirn ein. Verleihen dem Erlebten zusätzliche Tiefe.

Großkarol

Die ersten Juden kamen zwischen 1720 und 1740 nach Großkarol. Sie folgten dem Ruf von Sandor Karolyi – das Schloss der ungarischen Adelsfamilie gehört heute zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt – und ließen sich in einem Viertel nieder, „Pasajul Evreilor“ (Judenpassage) genannt. Weitere wanderten aus Galizien und der Maramuresch zu. 1786 lebten in Großkarol fast 1800 Juden, 1940 um die 3000. Es gab zwei orthodoxe Gemeinschaften und eine neologische der Sepharden, den Nachfahren der Juden, die im 15.-16. Jh. von der Iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Die meisten waren Händler, Handwerker und Industrielle.
Die große Synagoge (Str. Progresului 6) im romanischen und maurischen Stil wurde 1866 erbaut und 1890 von der neologischen Gemeinschaft renoviert und verändert. In der Nähe hatten die orthodoxen Juden eine viel kleinere Synagoge, die nicht mehr existiert.

Das jüdische Leben nahm ein jähes Ende mit der Besetzung Ungarns durch die Deutschen: Am 3. Mai 1944 eröffneten die Ghettos von Sathmar/Satu Mare und Baia Mare. In Sathmar wurden 18.900 Juden zusammengesammelt, darunter auch ca. 2200 aus Großkarol. Zwischen dem 19. Mai und dem 1. Juni verließen sechs Züge mit 18.863 Deportierten Sathmar in Richtung Auschwitz.

Großwardein

Die jüdische Gemeinschaft in Großwardein – attestiert seit dem 15. Jh. – zählte vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 30.000 Mitglieder, 27 Synagogen gab es in der Stadt. Die Deportationen begannen dort am 25. Mai. Nur ca. 2000 Juden aus Großwardein überlebten den Holocaust. Rabbi Yitz Szyf beschreibt in der Zeitschrift Kolhabirah das Dilemma der Überlebenden: Übriggeblieben waren vor allem Männer, deren Familien vernichtet worden waren. Es gab kaum noch jüdische Frauen, sodass ein Großteil gezwungen war, Nichtjüdinnen zu heiraten. Doch im Sinne des Rabbinats werden die Nachkommen nichtjüdischer Mütter nicht als echte Juden anerkannt.

Heute gibt es noch knapp 700 Menschen, die am jüdischen Leben in Großwardein teilnehmen, so deren Leiter Teodor Koppelmann. Die Veranstaltungen des jüdischen Zentrums auf dem Gelände der frisch renovierten ortodoxen Synagoge Hevra Sas (Str. Mihai Viteazu 4), der größten in der Stadt, stehen übrigens allen Ethnien mit monotheistischer Religion offen. Organisiert werden dort Bildungs- Kultur- und Sportevents. Besonderer Beliebtheit erfreut sich - auch unter Nichtjuden – die koschere Kantine, erzählt Koppelmann.

Die große orthodoxe Synagoge Hevra Sas wurde 1890 von Ferenc Knapp nach Plänen von Nandor Bach im ekklektischen Stil mit maurischen Dekorelementen erbaut. Renoviert wurde sie mit Mitteln der Föderation der Jüdischen Gemeinschaften in Rumänien (FCER), der jüdischen Stiftung Caritatea sowie der rumänischen Regierung und 2017  auch für den Tourismus eröffnet.

Schatten und Licht

Der Fotograf knipst unermüdlich, wie mechanisch. Hält inne, studiert schweigend. Verlangt nach Beleuchtung oder Schattierung. Ruft herrisch: „Aus dem Bild!“ Die Begleiterin: Fährt, schmiert als Beifahrer Brote auf den Knien. Montiert mit klammen Fingern Lampen, hält Schirme hoch, sucht nach Steckdosen zum Laden. Klettert auf Türme und Balustraden: „Hier ist noch ein Motiv!“  Oder spaziert stundenlang frierend umher. Wischt den Staub der Jahrhunderte mit dem Mantel vom Gestühl - und hat Zeit für die Gefühle, die in allen Ecken lauern: vor Gedenktafeln, Sitzplätzen mit Namensschildern, abgegriffenen Handläufen. In den Schatten der Menschen, die hier und dort einst ein- und ausgingen. In Großkarol im spinnwebenverzierten Lüster, dem Taubenklecks am Davidstern. In Großwardein vor dem cremeweiß-goldenen heiligen Schrein, geblendet von zehn senkrechten Neonröhren. Welche ist die Schönste im ganzen Land? Schatten oder Licht? Sie konkurrieren nicht miteinander.