Mit Kipa und Kamera im Herzen Siebenbürgens

Der Große Tempel in Neumarkt gilt als eines der schönsten jüdischen Bauwerke

Der Große Tempel dient heute vor allem auch als Stätte für Gedenken und Kulturveranstaltungen.
Fotos: George Dumitriu

Gewaltige Architektur: Auf den Emporen wohnten einst die Frauen dem Gottesdienst bei, im Hauptraum unten beteten die Männer.

Blick in Richtung Osten, zum heiligen Schrein, dem Aron Kodesh, in dem in funktionierenden Synagogen die Tora-Rollen aufbewahrt werden.

Das Gewölbe der Kuppel ziert ein bunter, achtarmiger Stern.

Zahllose architektonische Details bieten zauberhafte Fotomotive – man kann mühelos ein-zwei Stunden knipsend im Tempel verbringen.

Im Hof steht ein Quittenbaum, mitten in der Großstadt. Duftend, voll beladen, einige Früchte liegen am Boden. Bunte Blütenkelche züngeln an der Mauer eines alten Hauses empor, dazwischen üppiges Blattwerk. Eine orange Wand, von der der Putz leicht abblättert. Weiß getünchte Simse. Eine alte hölzerne Hintertür mit Davidstern auf dem Fenstergitter, der sich in der Glasscheibe widerspiegelt. Man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, auf eine Insel seltsamer Gefühle. Heimelige Vergangenheit, romantische Melancholie, wache Neugier und die Euphorie eines Aufbruchs ins Unbekannte geben sich dort die Hand...

Es ist die typische Gefühlsmelange, die einen ergreift, wenn man gleich durch das Zeittor in eine parallele Welt vordringt. Vom Hinterhof des Großen Tempels führt eine kleine, unscheinbare Seitentür in das Gebäude. Wir sind mit dem Auto direkt in den Hof gefahren und die eigentliche Fassade, imposant und erhaben, lässt sich von hier aus nicht mal erahnen. Gut so! Zu sehr hätte sie mir die Überraschung beim Eintritt in den gewaltigen Innenraum genommen, der mir den Atem stocken ließ: leuchtende Farben, faszinierende Symmetrien. Geschwungene Bögen, mit filigranen Arabesken verzierte Balkone. Licht fällt großzügig durch riesige Rosettenfenster.

Zeitzeuge einer lebhaften jüdischen Welt

Mein Mann fingert nach seiner Kipa in der Fototasche. Es lohnt sich, eine eigene zu haben, denn wir befinden uns auf einer Reise durch das ganze Land, um für die Wanderausstellung „Tempel und Synagogen Rumäniens“ (zuletzt im Nationalen Geschichtsmuseum) jüdisches Kulturerbe zu fotografieren. Vasile Dubb, Präsident der lokalen jüdischen Gemeinschaft, lächelt über die Frage, warum auch nichtjüdische männliche Besucher in der Synagoge ihren Kopf bedecken müssen:„Es gibt viele Erklärungen - aber eine gefällt mir am besten: Die Kipa ist die schützende Hand Gottes, die auf dem Scheitel ruht. Und von diesem Schutz sollen auch andere profitieren.“ Warum Frauen von dieser Pflicht ausgenommen sind? „Religiöse Belange fallen im jüdischen Glauben ausschließlich den Männern zu.“ Bereitwillig plaudert Dubb von der jüdischen Gemeinschaft, die diese Synagoge einst frequentiert hat. „Die meisten Leute heutzutage wissen gar nichts mehr über sie, deswegen bemühen wir uns gerade, ein Museum über 250 Jahre jüdische Geschichte in Neumarkt und Umgebung einzurichten.“

Zwischen 1899 und 1900 wurde der Große Tempel in der Strada Aurel Filiman Nr. 21, die frühere Strada Școlii, erbaut. Die Pläne für das heute unter Denkmalschutz stehende, mehrmals restaurierte Gebäude im eklektischen Stil, stammen von dem jüdischen Architekten Jakob Gärtner aus Wien.

Der Große Tempel ist nicht die einzige Synagoge in Neumarkt/Târgu Mureș – 1928 beschlossen die reicheren Juden, sich von den ärmeren abzugrenzen und ein eigenes, wesentlich größeres Gebetshaus zu bauen, das ebenfalls noch existiert, aber nicht mehr genutzt wird. Ohnehin reicht es an Ästhetik bei Weitem nicht an diese Synagoge heran, die als eine der schönsten in ganz Siebenbürgen gilt, bemerkt Dubb.

Von der Blüte zur Vernichtung

Die Fassade besticht durch zwei Zwiebeltürme mit slawischen und maurischen Dekorelementen, die eine Kuppel mit zentralem Rosettenfenster säumen. Arkaden mit romanischen Säulen überspannen die drei hölzernen Portale. Auch die Türme sind mit Rosetten und eigenen Eingängen versehen, die auf die Empore führen. Dort beteten früher die Frauen, durch ein Gitter vor den Blicken der Männer verborgen. Der reich dekorierte Innenraum mit hölzernem Klappgestühl beherbergt an der Ostwand einen schmucken Aron-Kodesh, den heiligen Schrein, in dem die Tora-Rollen aufbewahrt werden. Daneben erinnert eine marmorne Gedenktafel an die Opfer des Holocaust: 5493 Menschen kamen 1944 im Vernichtungslager Auschwitz ums Leben.

Vasile Dubb, pensionierter Ingenieur, Hobby-Schriftsteller und historisch sehr belesen, erklärt, warum der Holocaust gerade für die Juden in Neumarkt und am Mieresch/Mureș eine besondere Tragödie war: Im Vergleich zur Moldau oder der Walachei genossen sie hier bereits ab 1867 volle Bürgerrechte, also ungefähr 60 Jahre länger, und der Grad der Assimilierung durch die lokale Bevölkerung war sehr hoch. „Praktisch war der Großteil sprachlich und kulturell in dieser aufgegangen, mit Ausnahme der Religion. Umso härter traf sie ab 1939 die Erkenntnis, plötzlich als Bürger zweiter Klasse zu gelten“, vermittelt Dubb.

Laut Volkszählung gab es 1940 ca. 5600 Juden in Neumarkt – etwa 14 Prozent der Stadtbevölkerung. Die Mehrheit war arm, lebte von einfachen Berufen oder arbeitete in Fabriken. Bis Anfang 1944, als in Ungarn - und damit auch in Siebenbürgen - ein ultrafaschistisches System eingerichtet wurde, gab es zumindest keine Lebensgefahr. Im März 1944 wurden dann 7500 Juden aus Neumarkt und Umgebung in einem in der alten Ziegelfabrik errichteten Ghetto zusammengetrieben und ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. 5493 kamen nicht mehr zurück. Der Rest verließ die Region nach und nach. Die größte Auswanderungswelle fand nach der Gründung des Staates Israel 1948 statt, aber auch zur Zeit Ceau{escus verließen viele das Land. 1960 zählte man noch 600 Juden in Neumarkt. „Heute sind es 88 - mit mir 89“, fügt Vasile Dubb melancholisch an.

Vom Aussterben bedrohte Minderheit

„Meine Großeltern konnten noch Jiddisch“ erzählt er und erklärt, die mit hebräischen Buchstaben geschriebene, aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene Sprache sei die der Aschkenasen gewesen, der größten Gruppe der europäischen Juden. Aber auch die Sprache der Armen. Die Sepharden hingegen, aus Spanien und Portugal eingewandert, sprachen Ladino, eine Mischung aus Hebräisch und Spanisch, nicht zu verwechseln mit Ladinisch aus der Dolomitenregion.

Die Juden in Neumarkt waren nicht so streng religiös wie jene Gemeinschaft, die Nobelpreisträger Elie Wiesel aus Sighet beschreibt, fährt Dubb fort. Und fügt an: Je religiöser ein Jude, desto komplizierter gestaltete sich sein Alltag, denn unzählige Regeln aus dem Talmud schreiben selbst kleinste Einzelheiten vor, etwa, welcher Schuh zuerst angezogen werden muss. Besonders streng ging es am Schabbat, dem Feiertag am Samstag zu, an dem jede noch so geringe Tätigkeit untersagt war. So gab es sogar einen speziellen Knoten, der das Binden und Lösen der Schnürsenkel erleichterte, so dass das An- und Ausziehen der Schuhe nicht als Arbeit galt. Auch kreative Hobbys sind am Schabbat verboten. Die Küche blieb kalt, nicht einmal Aufwärmen war erlaubt. „Und was macht die Jüdin, wenn ihr Kleinkind auch am Schabbat nach warmer Milch brüllt?“ fragt Dubb belustigt und schaut mich herausfordernd an. Stillen, vielleicht? „Nein“, lacht er amüsiert auf, „sie geht zur rumänischen Nachbarin und bittet diese, die Milch aufzuwärmen!“ So richtig in Fahrt gekommen, gibt er eine Kuriosität nach der anderen zum Besten. „Verheiratete Frauen mussten sich den Kopf rasieren“, erzählt er munter weiter. Auf meinen entsetzten Blick fügt er an: „Ist das nicht ein wunderschöner Liebesbeweis für den Ehemann?“

Heute können wir uns jüdisches Leben, vor allem in stark religiösen Gemeinschaften, kaum noch vorstellen. „Damals war es an der Tagesordnung, dass selbst ein Kind von sechs oder sieben Jahren in religiöse Ekstase verfiel, wenn ein berühmter Rabbiner die Gemeinschaft besuchte. Tausende Menschen versammelten sich, um dem frommen Mann zuzuhören.“

Auch Vasile Dubb hört man gerne zu. Obwohl so manches, was er preisgibt melancholisch stimmt. Etwa, dass das Durchschnittsalter der jüdischen Gemeinschaft weit über 60 liegt, dass es keine Hochzeiten mehr und kaum Nachwuchs gibt. „Wir sind eine Minderheit, die im Aussterben begriffen ist“ sagt er leise. Nennt Sovata, Târnaveni, Iernut oder Schäßburg/Sighișoara als Beispiele für Orte, an denen es keinen einzigen Juden mehr gibt. An ihre schillernde, heute exotisch anmutende Welt erinnern nur noch ihre (fast) verlassenen Synagogen.