Rumäniens herausgeputzte Burghauptstadt

Durch die siebenbürgische Karlsburg weht der Wind europäischer Geschichte

Ein orthodoxer Mauerbogen über dem römisch-katholischen Kirchturm

Hauptportal der Michaelskirche

Orthodoxe Krönungskathedrale

Auf der Karte spätmittelalterlichen Städtereichtums nur vergessen, nicht unterdrückt: Bistritz. Fotos: der Verfasser

Der Luster der Krönungskathedrale erinnert an den Gründungstag des rumänischen Großimperiums.

Das Grab Iancu de Hunedoaras (1407-1456) steht in der römisch-katholischen Michaelskirche in Karlsburg/Alba Iulia. Einfach zu merken, oder? Eigentlich können keine Zweifel daran aufkommen, sobald man den Standort des ehrwürdigen Türkenbezwinger-Sarkophags betritt. Je nach Jahreszeit stehen ein oder beide eisenbeschlagenen Portalflügel der Michaelskirche halb bis sperrangelweit offen. Innen warten gefühlte tausend Kostbarkeiten darauf, entdeckt zu werden.


Doch wäre die römisch-katholische Michaelskirche von Karlsburg nicht der weithin bekannte romanische Dom Siebenbürgens, würde seine Besichtigung nicht bereits draußen vor dem Haupteingang beginnen. Die Anfänge des römisch-katholischen Erzbistums sind auf das Jahr 1009 unserer Zeit datiert. Allerfeinste Geschmäcker in Sachen Baukunst müssen die damaligen Bischöfe, Priester, Ministranten und Kirchgänger gehabt haben. Nicht von ungefähr lehnt man beim Anblick der steinernen Verzierungen des Hauptportals den Kopf instinktiv nach hinten, um sich stillhaltend an dem feingliedrigen Profil zu erfreuen, das vor Ewigkeiten in die harte Materie gemeißelt wurde. Danach ist man reif für den Schritt ins Kircheninnere.


Traumkrämpfe hat wohl Iancu de Hunedoara ausbaden müssen, ehe er im Juli 1456 bei Belgrad das osmanische Heer sprengen konnte. Nach der entscheidenden Drei-Tage-Schlacht wird er Kontrahent Mohammed II. vermutlich das Wasser gereicht und sich selbst einen pechschwarzen Türkischen gegönnt haben. Ioan de Hunedoara, Iancu de Hunedoara, Johannes Hunyad, Hunyadi János – der hohlwangige Woiwode Siebenbürgens wird in drei Sprachen als ein und derselbe geführt. Im historischen Dickicht versteckt sich zudem ein unfreiwilliger Doppelgänger: Bruder Johannes Hunyad der Jüngere starb 1442. Sohn László Hunyadi, Bruder des Matthias Corvinus, überlebte seinen kurze Zeit nach Belgrad vom schwarzen Tod dahingerafften Vater Johannes Hunyad um zwei Jahre. Was für ein verworrener Stammbaum! In seinem Steinquartier erfährt der Türkenbezwinger von Belgrad Gesellschaft von seinen Verwandten Ladislau Hunyad und Ioan de Hunedoara, die ebenfalls in Sarkophagen wie stumme Marktschreier ihre Heldentaten besingen. In welchem der drei nebeneinander aufgestellten Quader ist der „richtige“ Iancu de Hunedoara auszumachen?


Nur weg, von hinten rechts in der römisch-katholischen Michaelskirche Karlsburgs und schnurstracks in diagonaler Richtung nach vorne in das linke Seitenschiff geeilt, wo eine zig Namen lange Liste die Ehrenbegräbnisse vergangener Jahrhunderte schön fein aufzählt. Die Reihe wurde 1307 eröffnet und bis an die jüngsten Krypta-Bestattungen der Karlsburger Bischöfe Áron Márton (1896-1980) und Dr. Jakab Antal (1909-1993) fortgesetzt. Seit 1994 bekleidet György Jakubinyi das Amt des römisch-katholischen Erzbischofs zu Karlsburg.


Wie beschrieben teilt der an der Pest verstorbene Woiwode seine Grabstätte mit Sohn László und seinem gleichnamigen Bruder. Nur zweimal Johannes Hunyad und zwei verschiedene Todesjahre sind hier angegeben. Wer sich nicht an das exakte Datum aus dem lange zurückliegenden Geschichtsunterricht erinnert, sucht den ehrwürdigsten aller Sarkophage wie in einem Hütchenspiel. Da helfen auch seitlich in den Stein gehauene Kampfszenen nicht weiter.


Des Rätsels Lösung steht in großen Lettern über einer Geschichtskarte im 1851-1853 erbauten Offizierspavillon, wohin seit 1968 das Nationale Museum der Großen Vereinigung (Muzeul Național al Unirii) einlädt. Nun ist es klar: 1456 steht für das Scharmützel von Belgrad unter dem Kommando von Stratege Iancu de Hunedoara, der im mittleren der drei Sarkophage im römisch-katholischen Dom von sich reden macht!


In der Dauerausstellung des Nationalen Museums, die alle großen Epochen der Geschichte Siebenbürgens und Rumäniens von der Bronzezeit bis Ende des Ersten Weltkrieges abdeckt, verfliegt so manches leidenschaftliche Herumdoktern an der aktuell arg übertriebenen Selbstgefälligkeit weiter Gesellschaftskreise. Dass Dakerkönig Decebal als Held („erou“) angegeben wird, ist nur einer von wenigen Ausrutschern. Stutzig macht noch vielleicht eine Überschrift des Jahres 1784, die den aufständischen Bauernanführer Horea zum „Symbol der Wiedergeburt Dakiens“ stilisiert. Trotzdem trägt die verzerrte nationale Selbstwahrnehmung hier allenfalls das Kleid eines Klischees, das nirgendwo in der Ausstellung ernstlich Fuß fasst.

Augenpaaren, die sich die Exponate durch die Brille einer Minderheit vornehmen, mag auffallen, dass der im Hochmittelalter wichtige Handelsknotenpunkt Bistritz/Bistrița auf einer Karte aller drei großen Fürstentümer des 14. bis 16. Jahrhunderts schlichtweg fehlt. Chauvinistische Ranküne oder unabsichtliche Informationslücke?


Anno Schnee hochgezüchtete stereotype Feindbilder des jeweils Anderen spielen in der Wahrnehmung großelterlicher Generationen vermutlich noch eine gewisse Rolle. Ob junge Touristen von heute und morgen sich ihnen bereitwillig anschließen? An der Kasse des Nationalen Museums der Großen Vereinigung stehen zahlreiche Bücher zum Verkauf, deren Titel sich kaum voneinander unterscheiden. Eine willkommene Ausnahme ist die Monografie mit rotem Buchdeckel „Alba Iulia. Orașul și monumentele sale în imagini de epocă“ von Autor Gheorghe Fle{er (1948-2016), die vom Verlag Școala Ardeleană Klausenburg/Cluj-Napoca 2018 in dritter Auflage herausgegeben wurde und ihre 70 Lei mehr als wert ist. Auf Seite 18 wird der im 13. Jahrhundert errichtete römisch-katholische Dom als „Unikat der Architektur und religiösen Kunst im rumänischen (Anm. d. Red: statt siebenbürgischen) Mittelalter“ bezeichnet – minderheitlich-rechtskonservativen Lesern kann so etwas sauer aufstoßen.


Doch es gibt einfach zu viel Schönes in Karlsburg, als dass man in der großen „Alba Carolina“ stets Narben ethnischer Gegensätze sucht. Mehr als zwanzig Sehenswürdigkeiten hält die Straßenkarte des Burgareals fest. An allen Kiosks und Informationsstellen ist ein Büchlein in A5-Format und guter Qualität erhältlich. Die Fremdsprachenübersetzungen lassen kaum Wünsche offen. Obwohl die Informationen in allen Sprachvarianten identisch sind, ziert der römisch-katholische Dom den ungarisch-deutschen Burgführer und die orthodoxe Kathedrale die Umschlagseite der rumänisch-englischen Ausgabe. Warum nicht mal ein Foto mit beiden Kirchen?


Rot-weiß-grün umwickelte Gedenkkränze in den Seitenschiffen der Michaelskirche zeugen von einem überholten Imperialismus, dem gegenüber sich die orthodoxe Kathedrale, in der einst das Königspaar Ferdinand I. und Maria gekrönt wurde, vergleichsweise dezent ausnimmt. Das von Garten und Gebäudereihe des orthodoxen Erzbistums umgebene Gotteshaus atmet strahlende Bescheidenheit statt grellen Nationalstolz.


Ein Muss für Fotofreunde ist der am Domkiosk aufliegende Bildband der Michaelskirche in ungarischer, rumänischer und englischer Sprache. Sollte er lokal vergriffen sein, können die 120 Seiten Bilddrucke mit wunderschönen Aufnahmen von Makkai Bence beim AMM Verlag Klausenburg für nur 50 Lei nachbestellt werden. Aus Überresten des befestigten Castrums der XIII. Gemina-Legion wurden seinerzeit die Mauern der Michaelskirche aufgerichtet, die folglich das älteste Gebäude der Nachfolgestadt der römischen Kolonie Apulum darstellt. 2009 schloss der Karlsburger römisch-katholische Dom dank des Fotobuches in die Reihe der Hochglanz-Druckwerke romanischer und gotischer Vorzeigekirchen Europas auf.


Bücherwürmer und Fans des Batthyaneums müssen sich ab sofort bis Anfang 2020 gedulden - die berühmte Filiale der Rumänischen Nationalbibliothek inventarisiert bis Jahresende 2019 all ihre Bestände. Aber auch ohne Literaturforschung gibt die Karlsburg Möglichkeiten für gut und gerne zwei volle Tage Kulturprogramm her. Freier Eintritt und ein einheitlicher Museums-Ticketpreis von 10 Lei sind die Norm. Essen und Trinken zu moderaten Preisen und großzügigen Portionen ist an mehreren Ecken des mit kräftiger EU-Finanzbeihilfe beispielhaft hergerichteten Geländes möglich. Darüber hinaus ist Rumänien in der Karlsburg nicht nur günstig und schmackhaft, sondern auch tadellos sauber. Trotz gewohnt unübersehbarem Kontrast zwischen einer wie aus dem Ei gepellten Kernzelle und ihrem sozialistischen Betongürtel hat Rumänien an diesem Fleckchen urbaner Erde seinen Rückstand gegenüber Westeuropa souverän wettgemacht. Das Pilotprojekt „Alba Iulia Smart City“ macht dem Werbeslogan „Cealaltă Capitală. Bine ați venit în cea mai mare cetate din România“ (Die andere Hauptstadt. Willkommen in der größten Festung Rumäniens) alle Ehre.