Überreste der Zwischenkriegszeit am Ufer der Donau

Die traurige Schönheit der Stadt Brăila

Die Hauptstraße in Brăila. Kaum Fußgänger, die am Corso flanieren...

Die Zukunft vieler Gebäude könnte schöner aussehen – fände nur jemand Geld und Willen, um sie zu sanieren.

Prachtvolle Marmortreppen im Maria-Filotti-Theater.
Fotos: Aida Ivan

Wir parken also in der Innenstadt. Der quadratische Platz liegt genau im Zentrum, am Rand gibt es eine altmodische, hellblaue Uhr und daneben ein großes Hotel aus der Zeit des Kommunismus, das für zeitgenössische Augen höchst unattraktiv wirkt: Das ist, was man beim ersten Blick in Brăila zu sehen bekommt. Wir folgen aber einer hundert Jahre alten Karte, auf der die Stationen des Stadtrundganges markiert sind.

„An diesem Platz, wo die Häuser in europäischer Weise dicht zusammengedrängt, Giebel an Giebel stehen (...) drängen sich Orient und Okzident zu einem hochinteressanten, merkwürdigen Bilde in kleinem Rahmen zusammen. Die in der Strada Bucure{ti befindlichen zahlreichen Kaufläden und Gewölbe haben sich hier bereits zum offenen Bazar entfaltet und an einem Markttag ist hier so buntes, lebendiges Leben und Treiben, dass man meinen könnte, man wäre tief in den Orient hinein versetzt.“

Mein Begleiter hält den ganz besonderen Reiseführer parat. Den Überbleibseln des einstigen Schmelztiegels am linken Ufer der Donau kommt man mit Hilfe eines der bestmöglichen Ratgeber auf die Spur: Rudolf Henke, ein Deutscher, der seine Aufmerksamkeit auf den „Hauptstreitpunkt der orientalischen Frage“ gerichtet und im 19. Jahrhundert eine dreijährige Reise nach Rumänien unternommen hat. Sein Buch hat einen langen Titel mit ausführlichen Erklärungen - „Rumänien in geographischer, historischer, statistischer und ethnographischer Beziehung sowie in Reiseerinnerungen nach dreijährigen eigenen Beobachtungen und mit Benutzung authentischer Quellen“ und ist im Jahre 1877 in Leipzig erschienen. In seinem Buch bringt der Autor u.a. allerlei Aspekte der Stadt Brăila ins Gespräch – darunter  die Bauart, die Lage, die Geschäfte, die Straßen, die Kirchen und religiösen Gebräuche, die Hotels, die Sitten und Gewohnheiten der Bewohner, die orientalischen Einrichtungen, Bahnhof und Eisenbahn, und die Bevölkerung.

Fast 300 Jahre lebten die Bewohner der Stadt Br²ila unter türkischer Herrschaft. Hier gab es einst eine Festung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgebaut wurde, damit die Struktur der Stadt modernisiert wird. Unter der Stadt gibt es aber auch heutzutage ein Tunnel-System, das von den Türken benutzt wurde, von der Hauptstraße hat man noch Zugang zu einem der Eingänge in den Tunnel.

Der Besucher, der erstmals in die halbkreisförmige Stadt kommt, kann von Anfang an hinter den Fassaden der ein wenig verstaubten und grauer gewordenen Häuserzeilen die einst blühende Vergangenheit wahrnehmen. Brăilas verführerischer Charme besteht in ihrer traurigen Schönheit. Ihr erliegt man auf den ersten Blick: Die Architektur der reichlich verzierten Bauten, die große Anzahl von Kirchen verschiedener Konfessionen –  all das steht als Beweis dafür, dass das heute eher müde aussehende Br²ila früher eine sehr weltoffene Stadt war.

 „Ein seltner Genuss ist es, abends bei Sonnenuntergang hier oben zu stehen. Man sieht nach Osten. Hundert und mehr Fuß unter dem Beschauer liegen ruhig und still die langhingestreckten schnurgeraden Reihen der grauen Magazine, dahinter der majestätische Donaustrom mit seinen  zahllosen Schiffen  und regem Getreibe, seinen fahrenden Dampfern und kreuzenden Segelschiffen aller Nationen. Die Bewohner von Brăila sind vielleicht  zur Hälfte Rumänen, die zweite Hälfte gehört allen möglichen anderen Völkerschaften an. Von letzteren sind Griechen und Deutsche am meisten vertreten (...) Nach den Deutschen rangieren wohl in betreff der Masse Franzosen, Armenier und Italiener, dann Engländer, Russen, Türken, spanische Juden, Zigeuner, Bulgaren, Serben, Ungarn, Slovaken, Polen und verschiedene Andere“, wusste der Reisende vor fast 150 Jahren über die Donaustadt zu berichten.

Die Altstadt Brăila ist am Anfang des 20. Jahrunderts stehengeblieben, die Zeit aber nicht. Geht man ein paar Schritte Richtung Donau, entdeckt man Straßen, die den Glanz des vergangenen Jahrhunderts noch direkt widerspiegeln: Schön verzierte Häuser, die sich aneinanderreihen – von ihrem einstigen Prunk ist wenig geblieben. Die Straßen sind schweigsam, die Bauten noch mehr. Sie sind das Produkt der Händler aus verschiedenen Ecken der Welt, da Brăila in der Periode der Wende zum 20. Jahrhundert der größte Hafen an der Donau und Sitz der größten Börse für landwirtschaftliche Produkte war. „Brăila schwamm in Gold“, meinte der rumänisch-französische Schriftsteller Panait Istrati über seine Heimatstadt, einst zweitwichtigste Stadt der Walachei nach der Hauptstadt Bukarest. Der Handel auf der Donau war gebührenfrei, und wurde deshalb  immer intensiver betrieben. Die Stadt wurde auf diese Weise kosmopolitisch und die Gewinne wurden u.a. in Gebäude investiert.

Zu den eindruckvollsten Gebäuden der Stadt zählt beispielsweise das Embericos-Haus, ein Palast, der von einem  griechischen Schifffahrtsunternehmer errichtet wurde. Nach mehreren Umbauten wurde es zum Nică-Petre-Kulturzentrum, benannt nach einem aus der Stadt stammenden  bekannten Bildhauer. Prachtvoll ist auch das Maria-Filotti-Theater (früher Rally), das ursprünglich als Gasthof errichtet wurde und dessen üppige inneren Marmorverzierungen erstaunlich sind.  Außerdem haben die vielen hier lebenden Nationalitäten auch für ein reiches Geistesleben gesorgt: Rudolf Henke erwähnt in seinem Buch acht griechisch-orthodoxe, eine römisch-katholische und eine evangelische Kirche, außerdem eine Synagoge. Seither ist die Einwohnerzahl viel größer, aber es haben sich   auch die Verhältnisse geändert: Mehr als 90 Prozent der Bewohner sind Rumänen, z. B. wird jetzt das Gebäude der evangelischen Kirche von der orthodoxen Kirche verwendet.

Wie es früher war...

Die Vielfalt der Ethnien sorgte nicht nur für die kulturelle und ökonomische Entwicklung der Stadt, sondern auch für ein pulsierendes Leben: Tausende von Schiffen kamen jedes Jahr, Handel wurde mit Papiergeld aus der ganzen Welt getrieben. Zu hören waren allerlei Sprachen der Welt, zu kaufen allerlei Produkte. Kultivierte Menschen, Händler, Scharlatane, Zuhälter, Menschen aus allen Schichten konnte man in den Kaffeehäusern finden. Die vielen  Schiffsbesitzer vertrieben ihre Zeit in den Hunderten von Kneipen:  Gefeiert wurde die ganze Nacht, die Zigeuner spielten Musik, und die Kutschen fuhren durch die Stadt zu jeder Zeit. Hier wurde viel Sekt getrunken, die Frauen trugen sehr elegante Kleider. In der Stadt gab es sogar einen „Palais des fleurs“, das heißt ein Vergnügungslokal, das heute immer noch völlig mysteriös wirkt, auch wenn es am Verfallen ist.

Auch über die früheren Gewohnheiten der Rumänen berichtet Rudolf Henke und bringt dadurch idyllische Darstellungen zum Vorschein: „Der Rumäne schläft im Sommer gern im Freien. Hat er nun weder  Hof noch Garten, weder Dach noch Veranda, so legt er sich einfach auf die Straße.(...) so kommt es oft genug  vor, dass der Mensch, welcher im Freien zu schlafen gedenkt, erst seinen Platz dazu von den Hunden erobern muss. Im Übrigen schlafen Beide ungestört nebeneinander, sie wissen zu gut, dass Keiner dem Andern etwas zu Leide thut.“

Die Hunde sind aus dem Stadtbild immer noch nicht verschwunden – ein Trost für den zeitgenössischen Besucher, es gibt also trotzdem etwas Konstantes im Leben der Stadt.
Auf den Straßen wurden im Sommer allerlei Stoffe oder Lebensmittel – Reis, Orangen, Hasen, Gänse – zum Verkauf gestellt. Abgesehen von dem türkischen Kaffee und der Nargila (Wasserpfeife), besonders bevorzugt wurde auch das „Dultschetz“: Man bekommt ein Glas frisches, durch Tropfstein filtriertes Donauwasser und dazu in einem Theelöffel, welcher auf einem flachen Tellerchen liegt, ein wenig Süßigkeit; entweder ganz in Zucker eingekochte Apfelsinen (hier Portugallen oder Pomeranzen genannt), Rosen, Kirschen, Weichsel, Wallnüsse, Erdbeeren oder andere Früchte“. 

Solche Düfte sucht man heute vergebens, Überraschungen kann man auch haben,  wenn man in manch einem Restaurant versucht, traditionelle Fischgerichte zu probieren. Für einige mag es wohl normal klingen, dass man hier am Ufer der Donau keine Fischsuppe kocht, weil man eben keine frischen Fische zur Verfügung hat, für andere wohl nicht. Man kann sich immerhin eine Dose Sardinen kaufen.

Was den Untergang des Flusshafens Br²ila markierte, war die Gründung des Hafens in Konstanza/ Constanţa. Die Industrialisierung der Stadt ging auch schonungslos mit der damals florierenden  multiethnische Gesellschaft um. Was aber noch intensiver als die schönen, ungepflegten Gebäude auf den Betrachter wirkt, ist die spürbare Sehnsucht der alten Menschen nach einer weit entfernten Vergangenheit.