Ukraine - Bericht aus einer anderen Welt

Ein Wochenende in Tschernowitz und den ukrainischen Karpaten

Eine wohlverdiente Pause
Foto: Oleg Yamalov

Die Fassade der Tschernowitzer Universität.

Das beeindruckende neubarocke Bahnhofsgebäude

Unterwegs in Richtung Hoverla, dem höchsten Berg in der Ukraine.
Foto: Oleg Yamalov

In der heute ukrainischen Stadt Tschernowitz (ukr.: Tscherniwzi, rum.: Cernăuţi), die bis 1918 zu Österreich-Ungarn und in der Zwischenkriegszeit zu Rumänien gehörte, treffe ich meinen Freund Ivan „Vanja“ Onysko. Ivan ist im Moment damit beschäftigt, ein Kultur- und Reisebüro mit dem Namen „Kultour Ukraine“ aufzubauen, das sich auf Fahrradreisen spezialisiert.

Er führt mich durch die Stadt, in der heute noch die architektonischen Zeugnisse aus der Habsburgerzeit zu sehen sind, einige davon, wie etwa der Bahnhof, auch frisch restauriert, die meisten jedoch (einschließlich der Straßen) in eher beklagenswertem Zustand. Ivan zeigt mir das vom Wiener Architekturbüro Fellner&Helmer errichtete Theater aus dem Jahre 1905, die griechisch-orthodoxe Kathedrale am Soborna-Platz und natürlich die berühmte Universität, ein roter Backsteinbau im „pseudo-byzantinischen“ Stil aus dem Jahr 1882.

Nach dem Rundgang geht es in Ivans Studentenwohnheim, wo ich gegen eine Schachtel Pralinen für die Aufseherin in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer im 5. Stock zusammen mit zwei anderen Studenten übernachten kann. Den Waschraum und die „Toiletten“ (eine Art Plumpsklo) teile ich mit weiteren 128 Bewohnern; die Duschen sind im Keller, am Wochenende und an Feiertagen aber nicht benutzbar - da hilft auch eine zusätzliche Schachtel Pralinen nicht, denn die Chef-Aufseherin hat den Schlüssel mitgenommen. Es gibt also nur die Möglichkeit, sich im Waschraum einzuseifen und sich dann mit einer Schüssel kalten Wassers zu übergießen...

Am nächsten Morgen fahren Ivan und ich mit mehreren völlig überfüllten „Marschrutkas“ (einer Art Minibus), die aussehen als wären sie noch aus den 20er Jahren, in Richtung Karpaten. Mehrmals müssen wir umsteigen, wobei ich an keiner Haltestelle einen Fahrplan sehe. Ivan fragt lieber die anderen Wartenden, weil meistens jemand dabei ist, der weiß, wann der nächste Bus fährt.

Von Kolomyya aus fahren wir nach Vorokhta, unserem Ausgangsort, dort kaufen wir Proviant ein und laufen dann los. Nach ca. 15 km erreichen wir die Grenzstation des Karpaten-Nationalparks, wo wir 10 Hrivnas (etwa 1 Euro) Eintritt bezahlen müssen. Die Station selbst ist spartanisch ausgestattet: man kann uns dort seltsamerweise weder eine Karte des Nationalparks, noch irgendwelche Informationen über Wanderwege geben.

Dafür bieten uns allerdings zwei Passanten an, uns für 50 Hrivnas (ca.5 Euro) die nächsten 7 km in ihrem Lada mitzunehmen, was wir dankend ablehnen. Die erste Nacht verbringen wir im Wald neben dem Wanderweg an einem Bachlauf. Bis Mitternacht sitzen wir noch am Feuer, dann geht es ins Zelt. Die Nacht wird kalt, da mein Schlafsack, den mir dankenswerterweise eine Kollegin von Ivan geliehen hatte, viel zu dünn ist.

Am frühen Morgen treffen wir schon am Fuß des Berges Hoverla eine andere Wandergruppe, bestehend aus acht Leuten. „Klar, kommt mit uns!“ sagt der typisch ukrainisch-spontane Gruppenleiter.

Das Treffen erweist sich schnell als großes Glück, denn die Gruppe ist bestens ausgerüstet. Außerdem sind einige Leute dabei, die die Karpaten sehr gut kennen: Oleg Yamalov hat schon ein Buch über Wanderungen in den Karpaten verfasst und schreibt gerade an einem neuen, der Fotojournalist Petro Parowintschak von der Online-Zeitschrift „Karpaten-Galerie“ ist dabei, Sergej Felybaba hat schon öfters Karpatentouren geleitet. Als noch vorteilhafter erweist sich für uns, dass ein Mitglied der Gruppe nach ca. 2 km umkehren muss, dadurch bin ich nun im Besitz eines winterfesten Schlafsacks, einer Isomatte, eines Paars Schneeschuhe und einer zusätzlichen Ration Essen.

Mit den verbliebenen Sieben streifen wir dann in den kommenden zwei Tagen durch die Waldkarpaten, wir übernachten an einem See in 1900 m Höhe bei Außentemperaturen von zwei Grad und erklimmen am zweiten Tag den Hoverla, den höchsten Berg der Ukraine (2090m). Immer wieder reichern Oleg, Petro und Sergej die Tour durch kleine „Geschichtchen“ an.

So erfahren wir, dass Sergej bei einer Wanderung versehentlich auf rumänisches Gebiet geraten war und dort von rumänischen Grenzschützern für ein paar Stunden wegen „illegaler Immigration“ festgehalten wurde. Außerdem erzählen sie von Menschen, die versuchen, nachts heimlich Zigaretten über die rumänische Grenze zu schmuggeln. Oleg berichtet, dass auf dem Hoverla Erde aus allen Teilen der Ukraine vergraben wurde, was die Einheit der Ukraine symbolisieren soll.

Etwa die Hälfte der Route verläuft entlang der ehemaligen polnisch-tschechoslowakischen Grenze, denn „Transkarpatien“ war bis 1939 tschechoslowakisch und die heutige Westukraine gehörte zu Polen. Grenzsteine und einige Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg sind noch zu sehen.

Auf dem Rückweg nach Tschernowitz fällt mir die völlig andere Einstellung der Ukrainer zur Zeit erneut auf, mit ihren Vor- und Nachteilen. Man ist hier offensichtlich freier in der Einteilung seiner Zeit und weniger gestresst, dafür wartet man bei Verabredungen mit Ukrainern auch gerne mal eine halbe Stunde oder (viel) mehr.

Auch das Zusammenleben auf engem Raum hat seine Vorteile, wie sich später im Wohnheim zeigt, wo wir Brot und Obst von unseren Nachbarn bekommen. Es scheint so zu sein, dass viele Ukrainer wenig bis gar keine Privatsphäre haben, dafür ist auch immer jemand da, der einen unterstützt. Überhaupt scheinen die Ukrainer ein anderes Verhältnis zu Gemeinschaft zu haben – ob gewollt oder ungewollt, das sei einmal dahingestellt...

Manche Dinge sind für mich gewöhnungsbedürftig, so etwa die ineffiziente Bürokratie (es kann eine Stunde dauern, bis man eine Fahrkarte „Tschernowitz-Suceava“ gekauft hat) und die Tatsache, dass offensichtlich in jedem Raum, den man betritt, irgendetwas nicht funktioniert (kein heißes Wasser, Heizung geht nicht, Türklinke ist kaputt etc.).

Das Vorurteil, dass es in der Ukraine gefährlich sei, kann ich nicht bestätigen; dass es aber ein armes Land sei, stimmt wohl, denn das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt bei 2.500 Euro (nur ein Drittel des rumänischen, genauso hoch wie Kongo oder Guatemala). Man sieht häufig Menschen, die betteln oder Leute, die selbst erzeugte Waren auf der Straße verkaufen. Die Ukrainer sind jedenfalls sehr erfinderisch und flexibel im Umgang mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage, fast alle haben mehrere Jobs um durchzukommen.

Jemand erzählte mir sogar von einer befreundeten Journalistin, die als Tanzlehrerin für lateinamerikanische Tänze jobbt und sich nebenbei auch als Zahnärztin noch etwas hinzuverdient, wirklich nur ein Gerücht?

Ivan sagte mir zum Schluss noch ein ukrainisches Sprichwort welches lautet: „Dobre tam, de nas nema“, übersetzt etwa „Es ist dort gut, wo wir nicht sind“. Dies kann aus meiner Sicht nicht stimmen, denn insgesamt war mein Besuch in der Ukraine eine interessante, positive Erfahrung, vor allem dank der vielen freundlichen und offenen Menschen, die ich dort kennengelernt habe und die dafür gesorgt haben, dass ich mich schnell wie zu Hause fühlte.


Hugo-Alexander Frohn (36) kommt aus Deutschland, wo er Rechts-, Geschichtswissenschaften und Anglistik studiert und Arbeitserfahrung im Lehramt sowie Projektmanagement gesammelt hat. In den vergangenen zwei Jahren hat Hugo-Alexander Frohn in einer Jugendbildungs- und Begegnungsstätte in Polen internationale Projekte koordiniert.

Nach Siebenbürgen brachte ihn von März bis Mai diesen Jahres ein Praktikum im Bereich Kultur- und Projektmanagement in Kronstadt/Braşov, das im Rahmen des Deutschen Jugendforums aus Mitteln der Donauschwäbischen Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg finanziert wurde. In Tschernowitz ist er nun tatsächlich „wie zu Hause“: ab Juni arbeitet er hier bei „Gedankendach“, zugleich ukrainisch-deutsche Kulturgesellschaft und Zentrum für deutschsprachige Studien an der Jurij-Fedkowitsch-Universität.