„Und bleibt auf seinem Platz gebannt, als quasi innrer Emigrant“

Kommt Hermannstadt auch ohne Tourismus aus der Kiste?

Blick vom Ratsturm auf die Reispergasse

Der Innenhof des Weidnerhauses in schneefreier Winterstarre. Hier war im 16. Jahrhundert die Familie Wayda zuhause.

An der Werkstatt von Vladimir Tancou haftet noch die Patina der guten alten Vergangenheit. Fotos: der Verfasser

Unheilbar Reiselustigen sitzt der Schmerz des Jahres 2020 noch tief in den Knochen. Er wird wahrscheinlich auch 2021 häufiger als gewohnt zu alternativen Mitteln im jeweils eigenen Wohn- und Lebensraum um die Straßenecke nötigen und mag Steuerzahler und Nutznießer der nach Auslandsurlauben und Rundfahrten lechzenden Konsumgesellschaft zurecht vergraulen. Hatte man doch immer und von überall auf der Welt die ganze Erdkugel buchen können, wenn es die Brieftasche nur irgendwie hergab. Aber unverhofft kommt oft, und wie gewonnen, so zerronnen. Auch wenn man sich selbst zu den Glücklichen zählen darf, in deren Haushaltskasse von der Krise nichts zu spüren ist. Denn allein mit einem dicken Konto als Garantie für lange Fahrten kommt man nicht weit. Möchte es unterwegs aktuell trotz Corona interessant und spannend zugehen, wollen andere Routen erforscht sein: „Die Welt ist toll vor Reisewut, / Indes zu Haus der Weise ruht / Und lächelnd – oft auch leicht verschroben – / In das Gewühl blickt: ‘Lasst sie toben!’“, wie Eugen Roth das „Daheimbleiben“ erklärt.

Es gibt Straßenzüge im alten Hermannstadt/Sibiu, die es durchaus wert sind, nicht nur von auswärtigen Wochenendgästen und Urlaubern neu entdeckt zu werden. Die Reispergasse/Avram Iancu zwischen dem Großen Ring/Piaţa Mare und dem Denkmal in Lebensgröße von Nicolaus Olahus (1493-1568) am Schnittpunkt mit der Spo-rergasse/Str. Gen. Magheru vor der griechisch-katholischen Ursulinenkirche ist Standort des ältesten Wohnhauses im historischen Stadtkern und überhaupt eine der gemütlichsten Ecken im sonst eher hoch kapitalistisch marktorientierten Hermannstadt, das mit Starbucks, dm-Drogeriemarkt und Mc Donalds im Zentrum den Ruf eines in sich selbst ruhenden Aushängeschildes von Siebenbürgen verlieren könnte.

Bei Urlaubern aus Rumänien steht Griechenland hoch im Kurs:  Auf der Heltauergasse/Nicolae Bălcescu in Hermannstadt merkt man es deutlich an der Hausnummer 47, wo noch im Herbst 2019 ein Samsonite-Shop für Hartreisekoffer offen hatte, das Geld jedoch heute in der Kasse eines Gyros-King-Schnellrestaurants klingelt. Nicht zu vergessen die ehemals auch von Einheimischen heiß geliebte Konditorei „Perla“ im Haus des Franck von Franckenstein an der Westseite des Großen Rings, die bald nach Neujahr 2021 vom Schnellrestaurant „Spartan“ abgelöst wurde. Hier ist nicht etwa Schmalhans Küchenmeister, sondern südländisch-mediterrane Üppigkeit das Maß der Dinge auf der Essplatte.

Auch die Zeiten, als man gerne hungrig in der Gaststätte „La Turn“ am Ratsturm/Turnul Sfatului einkehrte, weil die Altstadt recht wenig Vergleichbares zu bieten hatte, liegen etliche Jahre zurück. Erfahrenen Gaumen läuft beim Blick auf diese langweilig deftige Speisekarte das Wasser nicht mehr im Mund zusammen. Was einen  zusätzlich vom Platznehmen auf der Terrasse abhält, ist das arg reparaturbedürftige Dach mit zu vielen Lücken am First. An dieser gemeinsamen Fassade von Ratsturm und Gaststätte schaut nur noch die an den südosteuropäischen Staatengipfel vom Juni 2007 in Bukarest und Hermannstadt erinnernde Metalltafel auf Marmor gut aus.

Ganz klar als kitschiges Überbleibsel des EU-Gipfeltreffens vom 9. Mai 2019 in Hermannstadt zu werten ist der weiße Schotter rings um die Bäume auf den Bürgersteigen der Altstadt. Der EU-Gipfel lief zwar wie am Schnürchen ab, aber kulturell hat sich Rumänien damals in der emsigen Vorbereitung auf die Spitzenbegegnung glatt verzockt. Das Ausstreuen der weißen Steinchen fühlte sich an, als ob Hermannstadts historischer Kern für Europa nicht gut genug gewesen wäre.

Dabei ist die Reispergasse ein Sammelbecken großer Innenhöfe und schönster Häuserfronten. Ein schmuckes Mikroviertel, dessen Menschen nicht darauf warten, dass Europa das Kraut fett macht. Das sauber renovierte Haus mit Innenhof Nummer 11 teilen sich die beiden Wohnhaus-etagen, die im 19. Jahrhundert einer Familie namens Müller gehörten, die gemütlichen Tische des St. Andrews Scottish Pub und der kleine, aber mit leckeren Fressalien ausgelegte Biocoop-Laden. Eine Kasse, an der Hühnereier doppelt so teuer wie im Carrefour-Supermarkt am Ratsturm verkauft werden. In ihrer Schale aber steckt ein Geschmack, der alle schändliche Lust aufs Knausern verdirbt. Unvergleichbar preisverdächtig auch die Milchprodukte, die hier ebenso direkt vom Erzeugerhof feilgeboten werden.

Gegenüber im Haus von Carl und Michael Brukenthal wohnen, wie fast überall in der Altstadt, mehr als zehn Mieter. In Hermannstadts historischem Kern finden sich gar Innenhöfe mit zwanzig oder noch mehr Briefkästen. Die Hausnummer 8 hier auf der Reispergasse  bietet hinter zwei Straßenfenstern im Erdgeschoss ein dunkel und still für sich selbst auf Zukunft harrendes Bild, das mit dem Monogramm CMVB im Geländer des Balkons über dem Haupteingang dem städtischen Barockpalais zur Ehre gereicht. Noch. Was genau darf so ein Prachtbau von der Zeit ab morgen erwarten, die unaufhaltsam auf schnöden Mammon und das Sterben von Kunsthandwerk zusteuert? In die Werkstatt von Vladimir Tancou kann man von draußen durch die Fensterscheibe hineinschauen, doch der alte Meister selbst lässt sich nicht mehr drin blicken. Der Türe zu seiner Werkstatt im Innenhof fehlt nunmehr jede Spur einer Klinke.

„Ein Schlaganfall vor etwa zwei Jahren“, so weiß es die Frau hinter dem Tresen des Biocoop-Ladens. „Er hat sich zwar davon erholt, aber die Aufteilung des Hauses zwischen ihm und seinen beiden Brüdern steht an. Scheint eine komplizierte Angelegenheit zu sein.“ So oder ähnlich spielt es sich wohl in der gesamten Altstadt ab. Schade, dass dort, wo Privatleute sich alleine nur schwer oder überhaupt nicht zurechtfinden, die Stadt den Auftrag von Verwaltung altehrwürdigen Immobilienerbes verstärkt an Akteure zu delegieren bereit scheint, in deren Hackordnung Geldleistung den Ton angibt und Kultur am besten zu schweigen hat. Trotzdem ist die Hausnummer 8 am Haupteingang des Hauses von Carl und Michael Brukenthal auch die Adresse der Hermannstädter Filiale des Rumänischen Blindenvereins. Diesem Palais sind die Daumen zu drücken.

Ein Haus weiter auf derselben Straßenseite Richtung Osten ist die „Şcoala Populară de Arte şi Meserii ´Ilie Micu´“ daheim. Durch Türen und Fenster tönt oft Instrumentalunterricht auf die Straße. Ein nimmermüder Volkshochschulverein. Im Gegenteil zum vergitterten Quartier des „Clubul Sindicatului Independenţa“, das auf einen Mieter wartet.

An der Hausnummer 12 wiederum geht der kleinen Schneiderei „Micul Croitoraş“ die Arbeit niemals aus. Dazu passt, dass 2019 im großen Straßenabteil nebenan der Trödel- und Wohltätigkeitsladen „Magazinul de Fapte Bune“ geöffnet hat, den das Diakoniewerk Rumänien, die Rotkreuzfiliale Hermannstadt, Animal Life Sibiu und der Krebshilfeverein Sus Inima betreiben. Gerahmte Bilder, Spielzeug, Büroartikel, Dekoration und Weltliteratur von Miguel de Unamuno über Henri Charriere bis Thomas Mann – alles für nur ein paar Lei. Die zweistelligen Scheine darf man dafür gerne im Erzeugerladen des Weinguts „Domeniul Ciumbrud“, Hausnummer 20 ein paar Schritte weiter unten, an der Kasse vorlegen. Und sein Stilgefühl kostenlos an den hölzernen und mit schmiedeeisernen Scharnieren ausgestatteten Fensterläden am Haus Nummer 24 schärfen.

Vielleicht ist die für ihren deutschsprachigen Grundschulunterricht bekannte Allgemeinbildende Schule Nr. 2 nicht der einzige Ort auf der Reispergasse, wo man noch dazulernen kann. Die kleine Plakette, die von Renovierung mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) zeugt, ist in dieser Straße auf Schritt und Tritt zu sehen. Haben Eltern, die ihre Kinder von der Schule abholen und sie trocken forschend nach dem fragen, was heute gepaukt wurde, nebenbei Blicke für das übrig, was auf der Reispergasse bereits getan wurde oder noch zu tun wäre? Bildung nur für die Kleinen, aber nicht für die Großen? „Es ist des Lernens kein Ende“, wie der deutsche Komponist und Romantiker Robert Schumann betonte. Das Haus mit den drei Dachgauben in Harfen-Form und dem bröckelnden Putz gibt ihm Recht.