256 Filme aus 69 Ländern: Die Berlinale 2022

Radu Jude, Preisträger des Goldenen Berliner Bären 2021, präsentierte seinen neuesten Film

Regisseurin Carla Simón (mit Produzentin María Zamora) gewann den Goldenen Bären für die Beste Regie.
Foto: Erik Weiss

Den Silbernen Bären für Schauspiel erhielt Meltem Kaptan.
Foto: Alexander Janetzko

Der Silberne Bär für Regie ging an Claire Denis.
Foto: Alexander Janetzko

Radu Jude (rechts) mit Regie-Kollegen Adrian Cioflâncă
Foto: Dorothea Tuch

Freude herrscht beim Berlinale-Team und Filmemachern aus aller Herren Länder, sowie nicht zuletzt auch bei den Besuchern der 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin (IFB), dass die diesjährige Berlinale, 10. – 20. Februar, mit rund 400 präsentierten Filmen so gut über die Bühnen bzw. Leinwände der 23 Festivalkinos gegangen ist. Umso mehr erfreulich und beachtlich, weil diese Filmfestspiele zu Corona-Zeiten während der Omikron-Welle stattfanden, wenngleich in verkleinertem Format. So durften, um die Abstandsbestimmungen einzuhalten, die Sitzkapazitäten in den Sälen der Festival- und Kietzkinos (Programmkinos in Berliner Bezirken) nur bis maximal 50 Prozent ausgelastet werden, damit zwischen den Besuchern je ein Leerplatz verbleibt. Der Verkauf von Tickets erfolgte im Vorverkauf ausschließlich online. Dies zeitigte auch den Vorteil, dass Filmenthusiasten nicht nachts in Schlafsäcken vor den Ticketschaltern kampierten, wie gar nicht selten in den Jahren vor der Pandemie, um begehrte Tickets zu ergattern. Das Einhalten der Corona-Hygieneregeln wurde strikt gehandhabt, galt es doch zu verhindern, dass die Berlinale zu einem Superspreader-Event wird. 

Zu den Einschränkungen zählte auch, dass Initiativen wie der European Film Market und der Berlinale Co-Production Market diesmal ausschließlich digital stattfanden. Konsequenzen hatte das auch für Radu Judes in Vorbereitung befindlichen neuen Spielfilm „Heia, heia Safari“, der in Koproduktion mit der in Frankfurt am Main ansässigen Firma ijp-film realisiert werden soll. 

Last but not least guckten infolge der Corona-Auflagen feierwütige Partylöwen diesmal in die Röhre. Im Klartext: Keine Partys und keine Empfänge mit Cocktails – was freilich auch Vorteile hatte: Fit und ohne Kopfschmerzen ist man am nächsten Morgen. Die obligatorischen Mund-Nasen-Schutzmasken wären ohnehin beim Cocktail-Nippen eher hinderlich gewesen. Aber das Wesentliche ist doch, dass auch die diesjährige Berlinale allen Teilnehmern viel Interessantes im weiten Genrespektrum von Dramen und Komödien sowie Kurz- und Dokumentarfilmen bot – allen Unkenrufen 2021 im Vorfeld der Berlinale 2022 zum Trotz, als eine „Mission Impossible“ im Raum stand.

Nervenkitzel bis zum letzten Moment

Ob die Berlinale 2022 zu Corona-Zeiten überhaupt stattfinden kann, stand bis Herbst 2021 in den Sternen. Dass die 72. Berlinale schließlich doch noch mit einem riesigen organisatorischen Kraftakt auf die Beine gestellt werden konnte, ist dem unermüdlichen Engagement der neuen Berlinale- Chefs, Carlo Chatrain (Künstlerischer Leiter der Berlinale) und Mariette Rissenbeek (Geschäftsführerin), zu verdanken, freilich im Zusammenspiel mit der Politik, in persona der Staatsministerin für Kultur und Medien, der Grünen-Politikerin Claudia Roth, die die Freude über das Stattfinden der Berlinale mit 2022 mit dem Satz „Das Schönste, das Wichtigste ist: Die Berlinale findet statt!“ auf den Punkt brachte. 

Nach zahlreichen Abwägungen und angedachten Alternativen in den Monaten davor, etwa dem Plan, die 72. Berlinale lediglich digital zu veranstalten, kam dann am 7. Oktober 2021 endlich die erlösende Presseerklärung des Leitungs-Duos der 72. Berlinale, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek: „Wir freuen uns sehr, im Februar mit dem Festival auf die große Leinwand zurückzukehren: Mit einem facettenreichen Filmprogramm, roten Teppichen, Stars und dem großartigen Berlinale-Publikum. 

Das Bedürfnis nach dem Festivalerlebnis und Begegnungen vor Ort ist bei Branche wie Publikum groß.“ Die sonst übliche Festivaldauer wurde kurzerhand auf sechs Tage verkürzt, die restlichen vier Tage als „Publikumstage“ für die Filmfans organisiert. Unter dem Motto „Berlinale goes Kiez“ erweiterte die Berlinale-Leitung die Anzahl der 23 Spielstätten, indem sie in ausgewählten Programmkinos in Berliner Bezirken (Bezirk auf berlinisch: „Kiez“) auch Festivalfilme zeigen ließ. 

Im Kino International wurde der Heiner-Carow-Preis der DEFA-Stiftung zur Förderung der deutschen Filmkunst an Rafael Starman, Kameramann des Spielfilms „Gewalt“, vergeben, der mit seiner Bildgestaltung eine „unglaubliche Poesie erschafft“ (Auszug aus der Jurybegründung). Der mit 5000 Euro dotierte Preis ist dem Regisseur Heiner Carow (1929–1997) gewidmet. Heiner Carow drehte bei der DEFA, dem staatlichem Filmunternehmen der DDR, Filme wie „Die Legende von Paul und Paula“ (1972) sowie „Bis dass der Tod Euch scheidet“ (1979) und „Coming out“ (1989), die auch international Furore machten.

Erfolg für Filmemacherinnen und Schauspielerinnen

256 Spiel- und Kurzfilme aus 69 Ländern wurden auf den 72. IFB aufgeführt. Die Sondervorführungen in diversen Sparten mitgerechnet, gingen rund 400 Filme über die Bühne. Die Filmfestspiele untergliederten sich in neun Programmbereiche (Sektionen). In der Hauptsektion, Wettbewerb Spielfilm, konkurrierten 18 Filme um die begehrten Goldenen Berliner Bären. Diese Sektion ist quasi „die Visitenkarte der Berlinale, präsentiert der Wettbewerb doch eine Bestandsaufnahme des Gegenwartskinos und schlägt Brücken zwischen den verschiedenen Filmwelten des Festivals“ (Berlinale-Programm).
Die Jury des Vorsitzenden M. Night Shyamalan, ein indisch-amerikanischer Filmemacher, entschied sich beim Hauptpreis, „Goldener Berliner Bär für die Beste Regie“, für den spanischen Film„Alcarràs“. Das Drama handelt vom Überlebenskampf katalanischer Pfirsich-Bauern, von mehreren Generationen einer Familie, die Abschied von ihrer traditionellen Lebensgrundlage nehmen. Die Regisseurin Carla Simón überglücklich bei der Preisverleihung im Berlinale Palast: „Ich betrachte mich als Tochter der Berlinale, denn hier fühle ich mich zu Hause.“ 

Mit dem „Silbernen Berliner Bären für die Beste Regie“ wurde das französische Melodrama „Fire. Both Sides of the Blade“ der Regisseurin Claire Denis geehrt, die die beiden Seiten der Gefühlswelt eines anfänglich verliebten Paares meisterhaft inszeniert. Gleich mit zwei Preisen wurde der deutsche Beitrag„Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ geehrt: Meltem Kaptan erhielt den „Silbernen Berliner Bären für die Beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle“. In ihrer Titelrolle kämpft sie den in Guantanamo inhaftierten Sohn frei. Außerdem ging der Drehbuchpreis an die Autorin des Filmes, Laila Stieler. 

Der von der Panorama-Sektion verliehene „Publikumspreis“ wurde dem kasachischen Ehedrama „Baqyt“ (Happiness) von Askar Uzabayev zugesprochen. Die von Laura Myrzakhmetova dargestellte Protagonistin trägt für ihren Job als Influencerin die Harmoniefarbe Orange, lächelt in die Kamera für ihre Followers. Doch Harmonie und Lächeln sind nicht echt, sondern Programmfassade für ihre Produktlinie „Happiness“. In der Realität herrscht bei ihr zu Hause seit Jahren rohe Gewalt. Was es kostet, der Falle Frauenfeindlichkeit zu entkommen, zeigt dieser Film. Damit gingen von den neun verliehenen Berliner Bären sechs an Filmemacherinnen bzw. Schauspielerinnen. 

In der Liga von Cannes und Venedig

Die Berlinale, die zum ersten Mal am 6. Juni 1951 eröffnet wurde, spielt längst in der Liga der renommiertesten Filmfestivals der Welt, gemeinsam mit den Festivals von Cannes und Venedig. Die Berlinale hat sich im Verlauf der Jahre auf politisch relevante Themen fokussiert, weniger auf Glamour und Showtime, wie auch die Berlinale 2022 zeigte. Doch Weltstars wie Claudia Cardinale und George Clooney wandelten durchaus schon auf dem Roten Teppich der Berlinale, in diesem Jahr etwa die Oscar-Preisträgerin Emma Thompson. 

Auch Filmemacher aus Rumänien wissen die Berlinale zu schätzen. Einige reisten bereits mit Berliner Bären im Gepäck in ihre Heimat zurück. Der erfolgreichste „Bären-Jäger“ ist dabei Radu Jude, ausgezeichnet mit dem Silbernen Berliner Bären 2015 für „Aferim“ und dem Goldenen Berliner Bären 2021 für die bitterböse Satire „Babardeal² cu bucluc sau porno balamuc“, eine Entlarvung scheinheiliger Zeitgenossen. 

Auf der diesjährigen Berlinale präsentierte Radu Jude mit Regie-Kollegen Adrian Cioflânc² und Team den Dokumentarfilm „Amintiri de pe frontul de est“ in der Sektion Kurzfilm. Dieser Film ohne Dialog dokumentiert anhand eines Fotoalbums als stummes Zeugnis der Geschichte sorgfältig den Weg des 6. Regiments der rumänischen Armee in den Kriegsjahren 1941/42.  Wenngleich Radu Jude und Team diesmal ohne Auszeichnung nach Rumänien heimgekehrt sind, misst er der Berlinale einen hohen Stellenwert bei: „Die Berlinale ist eines der drei wichtigsten Filmfestivals in Europa und in der Welt. Für Länder wie Rumänien, mit keiner langen Filmkultur, ist es sehr wichtig, an großen Festivals teilzunehmen, um auch im eigenen Land erfolgreich zu sein. Diese Regel gilt für Filmemacher aller kleinen Länder. Die Berlinale war sehr freundlich zu mir, akzeptierte einige Filme und zeichnete sogar zwei meiner Filme mit einem Silbernen beziehungsweise Goldenen Bären aus. Ich wertschätze insbesondere auch den Fakt, dass die Berlinale wahrscheinlich eines der wenigen Festivals ist, die streitbare Filme, also Filme mit Herausforderungen, akzeptiert. Bei der Berlinale etwa sind es die Sektionen Forum und Panorama sowie die Sektionen Kurzfilm und Encounters, manchmal auch die Wettbewerbs-Sektion. Normalerweise laufen ebensolche Challenger-Filme auf keinem anderen Festival sonst. Ich bin sehr stolz, wenn meine Filme auf der Berlinale laufen, so aktuell „Amintiri de pe frontul de est“ in der Sektion Kurzfilm“.

Nicht nur ich bin überzeugt, dass bei zukünftigen Berlinalen wieder Filme von Radu Jude mit dem Siegel „Challenger“ (Herausforderer) Bestandteil des Programms von Berlinale-Sektionen sein werden, möglicherweise wird schon 2023 oder 2024 die in Vorbereitung befindliche rumänisch-deutsche Koproduktion „Heia, heia Safari“ in der Hauptwettbewerbs-Sektion der Goldenen und Silbernen Berliner Bären zu sehen sein. Die Berlinale des Jahres 2023 wird hoffentlich wieder normal, ohne Mund- und Nasen-Schutz, über die Bühnen der Festival- und Kiezkinos gehen. Auch zur Freude der Party-Löwen.