30 Jahre und 15 Minuten

Eine dokumentarfilmische Anatomie des verkehrspolitischen Staatsversagens

Stefan Mandachi auf seinem ein Meter langen, selbstgebauten Autobahnabschnitt
Quelle: Screenshot www.youtube.com StefanMandachi

Grafik Verkehrstote Europa 2020
Quelle: Europäische Kommission

2019 erlangte Ștefan Mandachi, mit dem Bau von einem Meter Autobahnabschnitt in seiner Heimatregion Bukowina, den er privat finanzierte, auch über die Grenzen Rumäniens hinaus, große Aufmerksamkeit. Dieser Protestakt sollte zwei Negativrekorde Rumäniens und eine Erkenntnis in den Fokus rücken. In keinem EU-Land gab es in den vergangenen Jahren, prozentual zur Einwohnerzahl, mehr Verkehrstote. Zudem liegt der Karpatenstaat mit einem oft unterbrochenen Autobahnnetz von knapp über 900 Kilometern am untersten Ende innerhalb der EU. Wenn es einer Person gelingt, selbst einen Meter Autobahn günstiger zu bauen, warum kann dies ein Staat nicht auf größerer Ebene bewerkstelligen? 2020 hat er zu diesem Thema auch einen 90-minütigen Dokumentarfilm mit dem Titel „30 Jahre und 15 Minuten“ veröffentlicht, der in Kinos, aber mittlerweile auch auf der Streamingplattform Netflix zu sehen ist. Der Film thematisiert die Kausalität zwischen den Negativrekorden und stellt dabei vor allem auch das infrastrukturelle staatliche Versagen der letzten drei Jahrzehnte in den Mittelpunkt.

Der in zwei Kapitel unterteilte Dokumentarfilm beginnt mit einer düsteren und bedrückenden Anfangssequenz: Mandachi und sein Filmteam nähern sich in der Dunkelheit einem abgelegenen Grundstück. Im Hof sieht man ein abgedecktes und schwer beschädigtes Autowrack. Noch vor dem Haus begrüßt der Filmemacher die Familie. Im Innern des Hauses sind zwei Särge aufgebahrt. Es ist eine Familie, die bei der Totenwache um die Angehörigen trauert, die ohne eigenes Verschulden bei einem Verkehrsunfall ihr Leben verloren. Die Szene steht symbolisch für viele Familien in den vergangenen Jahren, die ebenfalls Angehörige und Freunde durch tödliche Verkehrsunfälle in Rumänien verloren haben. Jeden Monat sterben im Durchschnitt 150 Menschen in Folge eines Verkehrsunfalls. Schaut man auf die Statistiken der EU, ergibt sich sogar ein noch düsteres Bild. In den letzten Jahren stellte Rumänien im Bereich der Verkehrstoten einen EU-weiten Negativrekord auf. Das Land hat statistisch die höchste Anzahl von Verkehrstoten je einer Million Einwohner. 2019 betrug diese Zahl 96. Im Jahr 2020 waren es 85. Ein Zustand der eigentlich unzumutbar sein sollte, wo doch eine weitere Statistik darauf hinweist, dass in den letzten Jahren die Zahl der Verkehrstoten europaweit rückläufig ist.

Kapitel 1: 30 Jahre

[tefan Mandachi, der Eigentümer der Fast-Food-Kette „Spartan“, nutzt seine eigene Lebensgeschichte für die Entwicklung Rumäniens in den über 30 Jahren seit der Revolution. Seine persönlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film. Darüber hinaus traf er für die Dokumentation Opfer von Verkehrsunfällen, Familien der Toten, Journalisten sowie ehemalige Politiker und Entscheidungsträger, die sich zur prekären Situation der Straßeninfrastruktur in Rumänien äußern. Rumänien verfügt über die geringste Anzahl von Autobahnkilometern innerhalb der Europäischen Union. Viele Hauptstraßen, auf denen wir beispielsweise die Karpaten überqueren, stammen aus der Zeit, in der Siebenbürgen noch zu Österreich-Ungarn gehörte und diese nur während der Ceaușescu-Diktatur erneuert wurden, bemerkt ein interviewter Journalist. Wer trägt also die Schuld für diesen infrastrukturellen Missstand? Die verantwortlichen Politiker? „Die Bürgerinnen und Bürger, die nicht in der Lage waren, die richtigen Politiker und Handelnden in die verantwortlichen Ämter zu wählen“, bemerkt ein weiterer Journalist.

Der Wille, Rumänien nach der Wende von 1989 infrastrukturell umzubauen, war da. Premierminister Petre Roman (1989-1991) hatte im September 1991 mit zwei italienischen Bauunternehmen Verträge zum Bau von Autobahnen geschlossen. Geplant waren insgesamt 4000 Kilometern Autobahn mit dem Gesamtwert von 6,8 Milliarden US-Dollar. Die Pläne konnten jedoch aufgrund der fehlenden Finanzierung nicht umgesetzt werden. Rumänien hatte zu dieser Zeit nicht die finanzielle Kraft für ein derartiges Projekt, bestätigt Theodor Stolojan im Film, der selbst von 1991 bis 1992 als Premierminister fungierte. An den internationalen Kreditmärkten gab es noch kein Vertrauen in den postkommunistischen Staat, der noch in der Selbstfindungsphase war. Die fehlende Infrastruktur im Verkehrswesen zeigte bereits 1991 seine Schattenseite. In diesem Jahr starben 3078 Menschen infolge von Verkehrsunfällen. In den folgenden Jahren veränderte sich kaum etwas an der prekären Lage. Mandachi erinnert sich selbst zurück, wie die Familie auf der Fahrt ans Schwarze Meer oft Unfälle mit Toten passierte. Wie die Eltern den Kindern verboten, hinzuschauen. Wie sich seine Eltern über die Straßen und die Unfähigkeit des Staates beklagten. Die schlechte Situation bezüglich der Autobahnen und Schnellstraßen nahm kontinuierlich einen Platz in den politischen Diskussionen ein. Auch in den folgenden Jahren bis Ende der 1990er änderte sich nicht viel auf der infrastrukturellen Ebene. Traian Băsescu, der selbst von 1996 bis 2000 als Verkehrsminister tätig war, erkannte die missliche Lage und das hohe Aufkommen von Unfällen mit Todesfolge. Er machte vor allem den schlechten Zustand der Straßen verantwortlich. Anstatt tätig zu werden, verwies man auf den wenigen Verkehr, der kein großes Autobahnnetz erfordere, stellte er damals auf Nachfrage eines Journalisten fest. 2004 trat Băsescu als Präsidentschaftskandidat u.a. auch mit dem Versprechen an, eine West-Ost-Autobahn von Arad nach Constanta zu bauen. Keiner dieser Pläne und Versprechen wurde auch tatsächlich umgesetzt. Zuvor hatte auch der von 2000 bis 2004 amtierende Premierminister, Adrian Năstase, eine Autobahn Richtung Westen als wichtigen Schritt auf dem Weg zum EU-Beitritt Rumäniens erklärt. Ende der 1990er hatte Ștefan Mandachi die Gelegenheit, im Rahmen eines Schulausfluges, zum ersten Mal Europa zu bereisen. Die Fahrt führte ihm vor Augen wie groß die infrastrukturelle Diskrepanz zwischen Westeuropa und seinem Heimatland war. Von Paris bis Ungarn war er nur auf Autobahnen unterwegs gewesen. Mit dem Beitritt Rumäniens zur EU würden die Autobahnen auch in seine Heimat kommen, stellte er sich vor. Spätestens mit dem Beitritt zur EU 2007 erhofften sich viele Rumänen eine Verbesserung der Straßensituation. 2012-13 war das einzige Jahr, in dem es dem rumänischen Staat seit der Ceaușescu-Ära gelang, eine Strecke von etwa 100 Autobahnkilometern fertigzustellen. Die Unfähigkeit der einzelnen Regierungen, das Land infrastrukturell in die Zukunft zu führen, so wie die gegenseitigen Schuldzuweisungen der ehemaligen Regierungsverantwortlichen ziehen sich durch das erste Kapitel der Dokumentation. Neben der Unfähigkeit wird vor allem auch die hohe Korruption als Hauptgrund angeführt. Die Weltbank bezifferte, das die Baukosten für Straßen in Rumänien 40 Prozent über dem Durchschnitt liegen. Von 1989 bis 2019 gelang es den fünf Staatspräsidenten und den 17 amtierenden Premierministern nur 737 Autobahnkilometer zu bauen. Die mangelhafte Infrastruktur hat auch gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft Rumäniens. Die langen Distanzen und der damit verbundene Zeitverlust verursachen Mehrkosten. Ausländische Unternehmen und Investoren werden dadurch ebenfalls abgeschreckt. Den Zeitverlust durch die fehlenden Autobahnen und Schnellstraßen versucht ein Großteil der Autofahrer durch eine schnellere und riskantere Fahrweise zu kompensieren. Daraus erfolgen die Nichteinhaltung der Tempolimits in den Ortschaften sowie riskante Überholmanöver. Dieses Fahrverhalten ist eine der Hauptursachen für die erschreckende Statistik der Verkehrstoten. Mandachi selbst erinnert sich an die Zeit während seines Studiums, als er zwischen Suceava und seinem Studienort Jassy/Iași pendelte. Die Strecke führte ihn durch über 20 Dörfer und dauerte etwa drei Stunden. Eine Strecke, die man über die Autobahn in gut einer Stunde bewältigen könnte.

Kapitel 2: 15 Minuten

Der zweite Teil des Dokumentarfilms folgt Ștefan Mandachi auf seinem Weg zum Aktivisten, obwohl er sich so selbst nicht bezeichnet. In über 30 Jahren hat es der Staat nicht geschafft, nur einen Zentimeter Autobahn in der Heimatregion Mandachis zu bauen. Diesen Umstand wollte er nicht mehr einfach so hinnehmen. Er entwickelte darauf hin einen Plan, öffentlichkeitswirksam auf die Problematik der fehlenden Autobahnen in Rumänien aufmerksam zu machen. Im März 2019 gelang ihm ein absoluter Mediencoup, als er einen Meter Autobahn in der Nähe der Stadt Suceava eröffnete. Das Autobahnstück wurde auf einem Feld, welches ihm selbst gehörte, von ihm privat gebaut. Es kostete 4500 Euro. Laut offiziellen Angaben kostet das gleiche Stück Autobahn, gebaut von staatlicher Seite, das Vierfache. Seit der Revolution hatte es keine rumänische Regierung geschafft, eine Autobahn nach Suceava oder in der Bukowina zu bauen. Die Berichterstattung sorgte weltweit für Aufmerksamkeit. Die Aktion verbreitete sich vor allem über das Internet wie ein Lauffeuer. Die Problematik der fehlenden Autobahnen hatte es somit in die internationalen Medienlandschaft geschafft. Gleichzeitig war es auch die Geburtsstunde der Bewegung „România vrea autostrăzi“ (Rumänien will Autobahnen). Die Bewegung wurde auch um den Slogan „Și eu“ erweitert. Er wurde zu einer Art Hymne des Protests. Kritiker wähnten hinter Mandachis Bewegung bereits politische Ambitionen. Er initiierte zudem am 15. März 2019 um 15 Uhr für 15 Minuten die Aktion, seine damals über 40 Restaurants zu schließen, und rief die Rumänen in Rumänien, aber auch im Ausland dazu auf, dem Protest und dem Streik zu folgen. Auch Präsident Klaus Johannis erklärte sich solidarisch mit der Aktion. Wie schon der Bau des Autobahnstücks erreichte der Streik weltweit Präsenz in den Medien. Tausende Menschen und Unternehmen folgten dem Aufruf und legten ihre Tätigkeiten für 15 Minuten nieder. Der Dokumentarfilm kommt letztlich am Ende zum Schluss, dass sich trotz der Bewegung auf politischer Ebene, Stand 2020, noch wenig bewegt hat. Die Frage der fehlenden Autobahnen wird daher auch in der Zukunft aktuell bleiben.