ADZ-Reihe Wertvolle Jugendbücher: Unheilvolle Gruppendynamik

„Unsichtbare Wunden“, Astrid Frank, Urachhaus Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/ Pavilion, www.goethe.de/bukarest

 

Ein Mädchen erleidet einen Reitunfall. Die 15-Jährige ist sofort tot. Unerklärlich, wo Anna doch so eine gute Reiterin war. Der Vater ist untröstlich. Für wen soll er jetzt noch leben? Vor Jahren verloren die beiden Annas Mutter an Krebs. Anna war sein ein und alles!
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Als die Lehrerin an dem Tag in die Klasse tritt, wird es augenblicklich still. Das liegt an dem Mann in ihrem Schlepptau. Der Direktor, ein Hüne in Schwarz, vor dem sonst alle zittern, beginnt zu stottern. Die Schüler raunen: Was ist passiert? Etwas Gutes, etwas Schlechtes? Gibt es unterrichtsfrei oder hat jemand etwas ausgefressen? Die Lehrerin wirkt ungewöhnlich blass. Frau Heintze sieht aus, als würde sie gleich zu heulen anfangen. „Liebe Kinder... ähm“, hebt der Direktor an. Seit wann sagte der Vogt denn „liebe Kinder“? „Ich habe leider die traurige Aufgabe, euch mitzuteilen, dass eure hochgeschätzte Klassenkameradin und beliebte Freundin Anna Martin...“. Eine gefühlte Ewigkeit bleibt es mucksmäuschenstill. Es dauert, bis die Nachricht einsinkt. 

Dann schreit Manu auf, presst sich schluchzend die Hand vor den Mund. Die Mädchen beginnen wie auf Kommando zu weinen. Die Jungen sitzen betreten da, einige stieren nur vor sich hin. Andere beginnen, wie wild durcheinanderzureden. Frau Heintze stellt eine Packung Kleenex auf den Tisch. Anton schaut Manu an und denkt: du scheinheilige Schlampe...

Zwei Jahre vorher. Anna bekommt zu ihrem 13. Geburtstag ein Tagebuch. Da kannst du deine Geheimnisse reinschreiben, sagt der Papa liebevoll. Ich hab doch gar keine Geheimnisse, denkt Anna. Sie freut sich auf den Schulbeginn. Auf ihre beste Freundin Manu. Auf das Ausreiten mit Elrond nach der Schule. Auf das Kino mit den Freundinnen. Auf Anton, den sie dazu leider nie mitbringen kann, denn er ist das Gespött der Klasse, alle hacken auf ihm rum. Wenn die wüssten, wie der Anton wirklich ist, denkt Anna.

Bald entdeckt Anna die Freude am Schreiben im Tagebuch, freut sich der Vater. Kleine Teeniesorgen, meint er. Pubertätsprobleme. Kinderwelt im Erwachsenwerden. Immer öfter sieht er zu, wie sie abends Blatt um Blatt füllt. Verkneift sich seine Neugier. Anna soll ihm vertrauen. Einmal lässt sie es am Küchentisch liegen. Er widersteht der Versuchung, hineinzuschauen. Ist es nicht normal, dass junge Mädchen kleine Geheimnisse haben? 

Das Haus ist jetzt leer, die Abende dunkel und still. Immer wieder schleicht Simon Martin in Annas Zimmer. Streicht über die Bettdecke, unter der sie nicht mehr liegt. Nie mehr liegt. Sieht das Buch mit dem samtenen Einband. Zögernd nimmt er es auf. Das ist ja wohl jetzt kein Vertrauensbruch mehr. Und er beginnt zu lesen.

Die Klasse soll sich auf das Begräbnis vorbereiten: Welche Farbe soll der Kranz haben? Was war denn Annas Lieblingsfarbe, wer weiß es - Anton? Jakob schlägt vor, sie sollen Anna einen Abschiedsbrief schreiben. Am offenen Grab werden Gedichte vorgetragen. Jeder wirft eine rote Rose hinein. Bewegend, doch: Simon Martin kann sich kaum noch beherrschen. Ihn überwältigt eine unbändige Wut. Er sieht nicht die zarten Rosen, sondern nur ihre Dornen. Und ausgerechnet Paul, der mit den Tränen kämpft. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, zischt er ihm bitter zu. „Wie bitte?“ fragt Paul. „Scher dich weg. Geh – geht!“ stößt Simon Martin hervor. Dann bricht er am Grab seiner Tochter zusammen. 

Langsam, ganz langsam, kehrt in der Schule wieder so etwas wie Normalität ein. Als Anton Herrn Martin davon erzählt, tickt dieser völlig aus. Ob Annas Vater etwas weiß, fragt sich Anton? Aber woher?

Manchmal braucht es nur einen kleinen Schubs, um ein Gleichgewicht zu kippen. Die Tropfen fallen dann in ein anderes Gefäß, das sich langsam, aber stetig füllt. Die Waagschalen tauschen ihre Rollen. Während die eine immer leichter wird, beginnt die andere zu sinken. Langsam, ganz langsam, so dass es lange keiner merkt. Bis sie auf einmal nach unten sackt und das Gewicht zu Boden donnert. 

Wer war Schuld an der  Situation? Die neue Klassenkollegin Nina, die sich an Manu heftet, immer öfter unternehmen sie etwas ohne Anna? Oder Chiara, die Anna noch nie leiden konnte und mit der sich Nina anfreundet? Die Mädchen, die tuschelnd zusammenstehen, alle - und verstummen, wenn Anna dazukommt? Oder Anton, der hilflos zusieht, weil ausgerechnet er ihr am allerwenigsten helfen kann: so würde sie doch erst recht zur Zielscheibe werden! Manu, die in Paul heimlich verliebt ist und in Anna Konkurrenz wittert? Oder Paul, der wütend über Annas Absage zu seiner Kino-Einladung brütet: arrogante Ziege! Dabei tat Anna es Manu zuliebe, weil sie ihr Geheimnis kannte. Oder vielleicht Frau Heintze, die nach Annas Schilderung des Urlaubs auf Mauritius süffisant bemerkt, sie könne sich so einen Urlaub niemals leisten, deshalb mache sie erst gar keinen und Spende das Geld lieber einer wohltätigen Organisation? 

Immer häufiger steht Anna im Abseits. Kleine Hänseleien nehmen zu: „Da stinkt’s nach Pferd“, flüstert man leise, aber dennoch deutlich hörbar, wenn Anna die Klasse betritt. Dann allgemeines Gelächter. Ihr Radiergummi, ausgeborgt, wird in tausend Stücke zerkrümelt. Die Täter: ein kleiner Kreis, der immer mutiger wird. Mitschuldig: die untätigen Randfiguren.  

Wurde Anna in den Tod getrieben? War es ein Unfall, Mord oder Selbstmord? Diese Fragen treiben Simon Martin unruhig um, nachdem er dem samtenen Buch Annas geheimste Gedanken und Nöte enrissen hatte. Er kann an nichts anderes mehr denken. Er hat ja auch nichts mehr zu verlieren. Er muss handeln - für Anna, für sich! Werden Anton und Jakob ihn stoppen können?

„Unsichtbare Wunden“ von Astrid Frank ist eine dramatische Mobbing-Geschichte, realistisch und bewegend als gruppendynamischer Prozess mit schwerwiegenden Folgen geschildert.  Eine Pflichtlektüre nicht nur für den Unterricht, sondern auch für Eltern, Lehrer, Kinder jeden Alters. Wer kennt nicht so eine Anna, so einen Anton, aus der eigenen Schulzeit? Wer dachte damals nicht auch: harmlose Hänseleien. Kinder sind eben so. Lass mal, das sollen die unter sich lösen... 

Es ist die Gruppendynamik, die den Unterschied macht. Der Gemobbte wird  zum Störfaktor gestempelt, so dass sich bald auch die Lehrer fragen: Warum gibt es ausgerechnet immer Probleme, wenn Anna dabei ist?


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.