Alles ist relativ

Was bedeutet es im orthodoxen Rumänien, in religiösem Sinne korrekt zu fasten? „De post“ nennt man die erlaubten Nahrungsmittel auf Rumänisch und theoretisch klingt es einfach: Man darf keine tierischen Produkte verzehren und soll auf Süßes verzichten. Also eine streng vegane Diät: kein Fleisch, kein Fett, keine Milchprodukte, keine Eier, nicht mal Zucker.

Auf vorweihnachtlichen oder -österlichen „de post“-Menüs findet man daher seltene Köstlichkeiten für ein Land, in dem das Schwein scherzhaft als „das beste Gemüse“ bezeichnet wird: Bohneneintopf ohne Speck, deftige Bauernkartoffeln und Ciorbă, garantiert ohne tierische Einlage. Hurra, nun können sich auch so exotische Wesen wie Vegetarier endlich mal in allen Kneipen dieses Landes satt schlemmen, ohne dass der Kellner bei der Frage nach einem fleischlosen Gericht verständnislos den Kopf schüttelt oder die Pommes – garantiert frisch zubereitet – heimtückisch nach altem Bratwurstfett muffeln.

Die Fastenzeit ist ein Segen! Hinzu kommt, dass wir Vegetarier von Hause aus einen Vorsprung auf dem Weg ins Himmelreich genießen – wie eine tief religiöse Bekannte ehrfurchtsvoll sinnierte – , da wir sogar außerhalb der Fastenzeit auf Fleisch verzichten! Wie schön, dass die Religion nicht nur um das geistige, sondern auch um das körperliche Wohl der Menschen Sorge trägt, bevor sich diese zu den Festtagen wieder ungesundes Zeug in den Ranzen hauen. Dieses in sich schlüssige Weltbild geriet vor Kurzem ins Wanken...


Beim Tischgespräch auf einer Journalistentagung behauptete eine streng vegane Kollegin, Müsliflocken mit getrockneten Heidelbeeren seien nicht „de post“ – und zwar deswegen, weil sie zu gut schmeckten! In der Tat ist die Ansicht verbreitet, dass man sich beim Fasten kasteien soll. Nun aber wird es kompliziert: ist es Sünde, zur Fastenzeit Pellkartoffeln zu mümmeln, wenn einen der Verzehr derselben erfreut? Müssten Vegetarier zur Buße nicht Sülze würgen und fette Schweinehaut kauen?

Ein ähnliches Paradox tat sich in meinem Dorf im Zusammenhang mit Arbeit auf. Die dort ansässigen ungarischen lutherischen Bauern hielten sich eisern an die Regel, am Sonntag dürfe man ums Verrecken nicht arbeiten – sicher sinnvoll in früheren Zeiten, in denen gierige Fürsten ihren Knechten freiwillig keinen Ruhetag gegönnt hätten, wäre er nicht vom lieben Gott höchstpersönlich verordnet worden. Tabu sind daher Aktivitäten wie Umstechen, Jäten, Holzhacken, Nähen oder Waschen. Selbst das eilige Einbringen von Heu unter Gewitterwolken wird nur zerknirscht verrichtet und kostet sicher etliche Vaterunser.

Aber auch ein andersgläubiger Dorfbewohner wird dieser Regel automatisch unterworfen, wie ich an tadelnden Bemerkungen der Nachbarn feststellen musste, wenn man mich am Sonntag im Gemüsegarten erwischte. Nur noch heimlich traute ich mich in den uneinsehbaren Teil des Gartens, in den ich zuvor wie ein Verbrecher Harke, Rechen und Gießkanne schmuggeln musste. Doch hoppla? Bei strahlendem Sonnenschein in Schilfhut und kurzen Hosen blühende Bohnenranken hochbinden – klingt das nicht eher nach Vergnügen?

Auch der Gedanke an Zaunstreichen in lauer Frühlingsluft oder duftende Heumännchen auftürmen katapultiert mich in jauchzenden Urlaubsglückszustand! Warum soll das am Sonntag verboten sein? Darf man denn sonntags seidenmalen, stricken, fotografieren, dichten oder Klavier üben? Lieber Gott, wie lautet denn nun das eindeutige Kriterium für Arbeit?


Da der Herrgott mir bis jetzt die Antwort schuldig blieb, halte ich mich zunächst an Einstein, der für mich als Physiker gleich nach dem himmlischen Vater kommt. Der sagte: „Alles ist relativ“ und meinte damit, dass jede Messung oder Wertung vom Standpunkt des Beobachters abhängt. Welch göttliche Philosophie sich doch manchmal in den Naturgesetzen verbirgt!