Armut, Ausgrenzung und Akzeptanz

Roma in Berlin: Zurück ist keine Option mehr

Berliner Bildungsstadträtin Franziska Giffey: „Es besteht nicht mehr die Option: Wir müssen uns nicht weiter darum kümmern, da die sowieso weggehen. Das ist nicht so.“
Foto: Ana Sălişte-Iordache

Maria blickt unsicher und misstrauisch, wenn man sie auf Deutsch anspricht. Wechselt man auf Rumänisch, beginnt sie zu lächeln. Die Schüchternheit bleibt aber. Maria ist 14 Jahre alt, stammt aus einer Roma-Familie aus Botoşani und lebt seit etwa vier Jahren in Berlin. An diesem späten Vormittag, mitten in der Woche, steht die 14-Jährige vor ihrem Miethaus an der Schillerpromenade im Berliner Bezirk Neukölln. Heute sei sie ausnahmsweise nicht in die Schule gegangen, weil sie im Haushalt helfen musste, sonst gehe sie aber „oft“ hin, auch wenn es ihr nicht besonders gefällt. Hauptsächlich weil sie dort nur wenig Freunde gefunden hat, weil sie Kommunikation schwer findet und weil da manchmal die Sehnsucht nach zu Hause stärker wird. „Es gibt da auch Kinder, die nicht mit uns sprechen wollen“, sagt sie nebenbei.

Und da ist noch die Sprache. „Deutsch ist wirklich schwer“, sagt sie. Die Schule ist aber immer noch ein Ort, um abzuschalten. Vom beengten Alltag, von der Armut und von einer überfüllten Wohnung. Im dritten Stock, in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung, sei es zwar eng, aber sauber, betont sie. Mehrere Matratzen, eine Couch, ein Bett, acht Personen: Sechs Geschwister, der Vater – in der Baubranche tätig – und eine arbeitslose Mutter. Zurück nach Rumänien? Sie schüttelt fest entschlossen den Kopf: „Nein“. Warum nicht? Die Frage kann oder will sie nicht beantworten. Über Geld möchte sie auch nicht sprechen. Hier, unter Nachbarn, habe sie Freunde gefunden. Andere Roma aus Rumänien, auch aus Bulgarien, Polen und Mazedonien.
 
In den Heimatländern ist alles verkauft

Auf den Briefkästen in der Schillerpromenade kann man meist rumänische, polnische, serbische und bulgarische Familiennamen lesen. Ähnlich sieht es aus in der Flughafenstraße, in der Stuttgarterstraße, in der High-Deck-Siedlung sowie in der Kirchhofstraße – alle im Bezirk Neukölln. Nach der Wende zogen vermehrt Ausländer hierher. Seit 2007 kamen insbesondere viele Rumänen und Bulgaren. In den letzten zwei Jahren gab es hier auch den massivsten Zuzug von Roma-Familien.

Die Zahl der gemeldeten Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien hat sich, laut Statistischem Landesamt, seit 2011 von knapp 20.000 auf 25.000 in einem Jahr erhöht. Am größten ist der Anstieg in den Bezirken Mitte und Neukölln. Die meisten haben den Wunsch nach einem dauerhaften Aufenthalt in Deutschland, denn für viele ist die Rückkehr in die Heimatländer längst keine Option mehr. „Wir sind aus einem sanierungsbedürftigen Haus bei Bukarest weggezogen. Da leben noch unsere Großeltern“, erzählt Maria. Die sollen bald auch nach Deutschland kommen, wenn die Familie eine größere Wohnung findet.„Wir haben gar nicht“, wohin wir zurückgehen könnten“, fügt sie hinzu.

Über 3000 Gewerbeanmeldungen in Neukölln

Viele Rumänen und Bulgaren, die nach Deutschland kommen, nutzen aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeitsbeschränkungen bis Ende 2013 eine Regelungslücke und melden ein – nur anzeigepflichtiges – Gewerbe an. Sie üben dann dieses Gewerbe aus. Oft sind sie Subunternehmer oder Scheinselbstständige. „Wir wissen, dass wir allein in Neukölln über 3000 Gewerbeanmeldungen von rumänischen und bulgarischen Unternehmern haben. Dann haben wir hier noch etwa 800 Kinder in den Schulen, die alle Geschwister und Eltern haben. Wenn man auch die Gewerbe gegenrechnet, da gibt es sicherlich Überschneidungen, aber wir gehen davon aus, dass wir hier etwa 10.000 Menschen haben müssen. Allein in Neukölln“, so die Neuköllner Bildungsstadträtin Franziska Giffey (SPD).

Zwar gibt es die Möglichkeit für Selbstständige, für einen Zeitraum beim Jobcenter aufstockende Leistungen zu beziehen, doch kann man für Neukölln davon ausgehen, dass nur etwa ein Drittel der hier lebenden Bulgaren und Rumänen Leistungen beziehen, heißt es im dritten Romastatus-Bericht von Neukölln. Darin wird auch die schwierige Wohnsituation angesprochen: Roma und zunehmend auch Rumänen haben auf dem Wohnungsmarkt wenig Chancen, eine Wohnung direkt anzumieten. Diese Notsituation kommt anderen, Geschäftstüchtigeren, zugute, die für geschätzte 200 Euro einen Schlafplatz in sanierungsbedürftigen Häusern, manchmal ohne Heizung und Strom, vermieten. „Wir haben inzwischen 26 große Mietshäuser, die komplett von diesen Familien bewohnt sind. Es sind keine Wohnungsbaugesellschaften, die das vermieten, sondern private Eigentümer. Stellen Sie sich vor, Sie besitzen hier so ein Haus, wollen nicht mehr weiter investieren und es kommen nun diese Zuzügler.  Zehn  Leute pro Wohnung, eine Matratze kostet 200 Euro im Monat. Man kann also aus einer Schrottimmobilie noch richtig Geld machen“, so Giffey. Viele sind, trotz schlechten Wohnbedingungen und geringem Lebensstandard, fest entschlossen, hierzubleiben. Leicht ist es nicht: Sie müssen die Sprache erlernen, mit anderen Migranten klarkommen, sind Diskriminierungen ausgesetzt.
 
Rumänische Lehrkräfte  für Roma-Kinder

An einer Klassentür in der Neuköllner Grundschule „Eduard Mörike“ kleben zweisprachige Anzeigen: „Bitte die Sprechstunden einhalten“. Die Worte kann man sowohl auf Deutsch, als auch auf Rumänisch lesen. Es ist kurz vor acht. Oana Bauer sitzt schon an einem Tisch im Klassenraum, vor ihr zwei Mütter aus Rumänien. „Sie müssen dem Kind noch ein Sandwich, einen Regenmantel und zwei Paar Schuhe einpacken“, sagt Oana Bauer. „Müssen es neue Schuhe sein?“, fragt eine der Mütter. „Nein, einfach noch ein Reservepaar“, antwortet Bauer. „Der Kleine hat mir gesagt, er braucht neue“, so die Mutter. Sie lacht. Oana Bauer übersetzt eine auf Deutsch verfasste Liste, die die Eltern von der Klassenlehrerin ihrer Kinder bekommen haben. Es  geht um Sachen, die die Kinder für einen Ausflug nach Bernau bei sich haben sollen.

„Ist das weit, Bernau?“, fragt die andere Mutter. „Nein, gar nicht. Machen Sie sich keine Sorgen darüber“, beruhigt sie Oana Bauer und fährt mit der Aufzählung fort. Oana Bauer ist eine der elf rumänischen Lehrkräfte, die seit 2011 in mehreren Neuköllner Schulen eingesetzt wurden, um Kindern rumänischer Herkunft in speziellen Lerngruppen Deutsch beizubringen. Nachdem die Kleinen ihre Sprachkenntnisse verbessert haben, gehen sie in die Regelklassen. Manchmal läuft es auch parallel: Die Kinder lernen einige Stunden am Tag Deutsch, den Rest der Zeit sind sie im normalen Unterricht. Viele erkennen in diesem Sprachkurs eine Integrationschance: „Es gibt Kinder, die überhaupt keine Pause zwischen den Unterrichtsstunden einlegen wollen, um mehr lernen zu können“, sagt Oana Bauer.

Jeden Monat eine neue Klasse

Da die Anzahl der Kinder gestiegen ist, sollen nun in den Berliner Schulen noch mehr Lehrer mit Rumänischkenntnissen eingesetzt werden. „Allein 2012 kamen in die Schulen in Neukölln 215 Kinder aus Rumänien und Bulgarien. Insgesamt sind es ungefähr 800 Kinder. Wir haben fast jeden Monat etwa eine Schulklasse, die hinzuzieht, also zwischen 20 und 25 Kindern, allein aus Rumänien und Bulgarien. Ob das jetzt Roma-Kinder sind, ist unbestimmt, da können wir uns auch nur auf Schätzzahlen stützen“, so Franziska Giffey. Viele Kinder kommen mit keinen oder wenig Deutschkenntnissen. „Wir haben Zwölfjährige, die nicht schreiben und lesen können. Einige sind richtig zielstrebig, die müssen nur Deutsch lernen und können dann in die Regelklassen kommen. Wir haben aber auch Kinder, die erstmal lernen müssen, was eine Gruppe ist und wie eine Schule funktioniert“, so Giffey.

Die Rolle der rumänischen Lehrkräfte geht dabei auch weit über das Unterrichten hinaus: Sie sind auch Vermittler zwischen Eltern und Schulleitung, zwischen Migranten und Beamten. Für viele Zuzügler sind sie die einzige Vertrauensperson, da sie die Sprache beherrschen und sich verständigen können. „Es war schwer, ihnen beizubringen, sich an bestimmte Regeln und Termine zu halten. Viele kamen einfach vorbei, wenn sie ein Problem hatten. Sie haben auf die Sprechstunden nicht geachtet. Das mussten wir ihnen abgewöhnen“, so Oana Bauer.

Migranten grenzen  Roma-Familien aus

Das Problem kennt auch Hirijet Ajeti allzu gut: Vor einigen Monaten wartete sie vergebens auf eine Roma-Mutter, die zur Beratung kommen sollte. Kein Einzelfall. Ajeti arbeitet zweimal die Woche im Verein „Internationaler Bund“ in der High-Deck-Siedlung in Berlin Neukölln. Sie bietet Beratung und Betreuung für Zuzügler aus Südosteuropa, darunter auch für Roma-Frauen. Diese seien anfangs auch nicht immer zu den vereinbarten Terminen gekommen. „Man muss da viel Geduld haben. Wenn die Leute dann drei Tage später spontan gekommen sind, habe ich sie abgesagt und mit ihnen einen neuen Termin vereinbart“, so Ajeti.

Die 46-jährige Mazedonierin versucht vor allem, ein tolerantes, konfliktfreies Zusammenleben zwischen Familien mit unterschiedlichem Migrationshintergrund zu schaffen. „Die Roma werden meist nicht von Deutschen ausgegrenzt, sondern von anderen Migrantengruppen“, sagt sie. „Roma würden sehr gerne an verschiedenen Veranstaltungen teilnehmen, wie etwa Elterncafé oder Deutschkurse für Migranten. Sie werden aber automatisch von den anderen abgelehnt. Da trauen sie sich dann nicht mehr. Jedwelche andere Einladung lehnen sie später automatisch ab, weil sie wissen, dass sie nicht willkommen sind. Das ist meine Erfahrung”, so Ajeti.

In der High-Deck-Siedlung passiert es oft, dass Roma-Kinder von anderen Migrantenkindern gehänselt, manchmal geschlagen werden. Da versucht Ajeti einzugreifen. Für ein besseres Verständnis zu sorgen. Die Familien werden zu gemeinsamen Gesprächen eingeladen. Dabei ist es so, „dass die Roma-Familien kommen, die anderen aber nicht“. Sie hat Familien mit unterschiedlichem Migrationshintergrund zu gegenseitigen Besuchen aufgefordert. Sie sollten da die Wohnbedingungen der anderen sehen. „Da haben viele gestaunt, als sie bemerkt haben, dass die Wohnungen der Roma sauber und ordentlich waren“, erzählt sie.

Viele Vorurteile baut sie einfach ab. Kein Wert auf Bildung? „Die Eltern sehen schon ein, dass Bildung für ihre Kinder wichtig ist“, sagt Ajeti. Schmutzige Wohnungen? „Für Roma-Mütter wäre eine schmutzige Wohnung eine Schande.“ Tatsächlich kann sie aber auch Gegenbeispiele nennen, die solche Vorurteile bestätigen. Aber darum geht es beim ganzen Problem nicht. Es geht um Toleranz, mitten in Berlin, es geht um ein friedliches Zusammenleben, um Kinderschicksale.
Bis aber Akzeptanz etwas Selbstverständliches wird, wird es noch einige Zeit dauern. „Da haben wir noch viel zu tun”, schließt Ajeti.