Aufbruch zur inneren Weisheit

Über die Sinnsuche des Mystikers G. I. Gurdjieff im Osten – und seinen Einfluss auf Künstler und Wissenschaftler im Westen

Sehenswert: der Film „Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen“ von Regisseur Peter Brook, nach dem gleichnamigen Buch von G. I. Gurdjieff

„Was ihr das Unterbewusstsein nennt, ist meiner Meinung nach das wirkliche menschliche Bewusstsein.“ (G. I. Gurdjieff) Foto: Wikimedia Commons

Achtzehnhundertirgendwas, an einem entlegenen Gebirgsort an der Grenze zwischen der Türkei und Russland: Inmitten schroffer Felshänge versammeln sich Menschen zu einer seltsamen Veranstaltung - ein Wettbewerb unter den besten Musikern, der nur alle 20 Jahre und nur an dieser Stelle abgehalten wird. Die Aufgabe: Ein perfekter Ton soll die Steine des Berges zum Klingen bringen... 

Auf Eseln und zu Fuß strömen Menschen aus allen Richtungen herbei, ein lautes, buntes Treiben. Plötzlich herrscht Ruhe im Volk. Die Kandidaten hocken würdevoll schweigend auf dem Teppich. Mit einem unmerklichen Kopfnicken wird der erste aufgefordert, sein Können zum Besten zu geben. Archaische Töne steigen aus einer Flöte auf, wabern über das Tal. 

Es gibt keinen Moderator, keine Effekte, keine Show. Die Menschen lauschen geduldig, schweigend. Aus der angespannten Stille lösen sich ungewohnte Laute aus Kehlen oder schlichten Instrumenten, mal kreischend, mal zitternd, mal zwitschernd, fesseln sie den Atem des Publikums. Nach jeder Vorführung  halten alle inne, lauschen angestrengt. Bis endlich gelingt, was bisher keiner schaffte - der Berg antwortet! 
Es ist mehr als nur ein Echo, die Steine beginnen zu vibrieren, Materie und Ton treten in Resonanz, als die umliegenden Felsen das Lied, das die Singstimme vorgegeben hatte, klagend erwidern. Ein kleiner Junge betritt die Bühne, drückt dem Sänger stumm seinen Preis, ein Lämmchen, in den Arm. Schweigend und würdevoll treten die Kandidaten ab. Erst jetzt kommt wieder Leben in die bunte Menschenmenge, die in alle Richtungen schnatternd auseinanderfließt.

Aus dem Nichts

Jahrzehnte später, 1921, taucht in Europa ein unbekannter Mann aus dem Kaukasus auf. Die Menschen erzählen sich von ihm, er habe im Orient die seltsamsten Dinge erlebt. Seine bald zahlreicher werdenden Schüler lehrt er unter anderem einen eigenwilligen Tanz, präzise wie eine Wissenschaft. Jede Haltung darin entspricht einem Buchstaben, jede Bewegung ist  ein Buch, in dem der Tänzer lesen kann. Die rhythmischen Sprünge mit Drehelementen eröffnen ihm den Zugang zu seiner eigenen, inneren Weisheit. Zu Informationen, die vor Tausenden Jahren dort gespeichert worden waren, meint George Iwanowitsch Gurdjieff. Die Technik soll auf eine geheime Mönchsbruderschaft namens Sarmoung aus der Zeit von 2500 vor Christus in Mesopotamien zurückgehen, deren Spuren sich im sechsten Jahrhundert nach Christus verlieren...

Abenteuer Sinnsuche

Mit dem klingenden Berg beginnt der Film über das Leben des spirituellen Lehrers George Iwanowitsch Gurdjieff, der am 19. Januar im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ in Kooperation mit dem Institut G. I. Gurdjeff in Rumänien mit rumänischen Untertiteln gezeigt wurde. 1979 von Peter Brook realisiert, einem ebenfalls für seine Sinnsuche bekannten britischen Regisseur, nach dem gleichnamigen Buch von Gurdjieff „Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen“ (1963) , gedreht in Afghanistan, gewann er auf dem 29. Internationalen Filmfestival in Berlin den Goldenen Bären. Nicht gerade ein aktuelles Thema – doch heute nicht minder faszinierend. Wer war dieser mysteriöse Hauptheld? 

George Iwanowitsch Gurdjieff wurde irgendwann zwischen 1866 und 1872 in Alexandropol (heute Gjumri, Armenien) geboren und wuchs in einer griechisch-armenischen Familie im Kausasus auf, in einer Region, in der mehrere uralte Völker und Sprachen aufeinandertrafen. Schon in jungen Jahren leitete ihn eine flammende Sehnsucht nach Wissen. Bei Priestern, Mönchen und Derwischen fahndete er nach der „Wahrheit“, dem Sinn seines Daseins, anfangs begleitet von einer Gruppe ähnlich beseelter Freunde. Gemeinsam finden sie in einem alten Tongefäß einen Hinweis, dass die angeblich verschollene Sarmoung-Bruderschaft immer noch existieren könnte. Gurdjieff bricht mit einem der Freunde auf eine abenteuerliche Reise auf. Bei einem armenischen Priester finden die beiden eine alte Pergamentkarte, die auf Ägypten verweist... 
Auf seiner langen Irrfahrt durch viele Länder - auf der sich der Freund, fasziniert von der Technik des Schiffes, von ihm trennt, weil er diese studieren will - begegnet Gurdjieff weisen Menschen, stößt immer wieder auf Fragmente einer Lehre, die ihn zutiefst fasziniert. Doch noch kann er sich keinen Reim darauf machen, kommt der Wahrheit keinen Schritt näher, niemand kann ihm all seine Fragen beantworten. 

Durch Zufall trifft er den russischen Prinzen Lubovedsky, ein nach der Sarmoung-Bruderschaft-Suchender wie er, auch dieser hatte das Pergament des armenischen Priesters kopiert. Eine Weile reisen sie gemeinsam. Kurz bevor sich  ihre Wege trennen, verweist ihn dieser darauf, dass er nicht die richtige Lehre, sondern das richtige Wissen suchen müsse: „Wissen geschieht direkt - wenn nicht einmal ein Gedanke zwischen dir und den Dingen steht, die du betrachtest!“ 

Durchbruch

Diese Erkenntis scheint ein Schlüssel in Gurdjieffs Suche zu sein. Denn auf einmal führt eines zum anderen, die vorher fest verschlossene Tür tut sich einen Spalt breit auf. Scheinbar zufällig trifft er im richtigen Moment auf die richtigen Menschen, die ihm jeweils ein Stück des Weges weisen. Derwisch Boga-Eddin in Buchara (Usbekistan) rät ihm schließlich, er solle dem Aman-Daria-Fluss hinauf in Richtung Kafiristan (heute Nuristan, Afghanistan) folgen. Dort werde er auf den Ort stoßen, an dem das alte Wissen noch bewahrt wird. Doch die Reise sei lebensgefährlich…

Gurdjieff lässt sich nicht entmutigen. „Und wenn ich auf dem Rücken des Teufels dort hinreiten müsste“, hatte er einst schon seinen alten Freunden gesagt, trotzig und entschlossen, die Sarmoung-Brüder zu finden. 
Der junge Mann macht sich erneut auf den Weg. Rastet in einem Kloster, von wo aus ihn endlich ein Führer an den gewünschten Ort bringen kann. Mit verbundenen Augen und unter Eid, dessen geheime Lage niemals irgendjemandem zu verraten, reitet er mit seinen schweigenden Begleitern tagelang durchs Gebirge. Dann ist es soweit: Das letzte Hindernis zwischen ihm und seinem Ziel ist eine schmale hölzerne Hängebrücke, über die er alleine schreiten muss. Die Führer nehmen ihm die schwarze Kappe vom Kopf, reiten wortlos zurück. Die Bretter und Seile der Brücke knarzen gefährlich über der tiefen Schlucht...

Gurdjieff ist nicht nur am Ziel angelangt – im Kloster der Sarmoung-Bruderschaft trifft er auch überraschend den russischen Prinzen wieder. Als bereits Eingeweihter macht ihn dieser mit den dortigen Praktiken vertraut, die der Novize fasziniert beobachtet: Männer und Frauen erlernen in Gruppen jahrtausendealte Tempeltänze. Mithilfe von bizarren, baumähnlichen Holzgerüsten üben sie präzise Figuren ein, die den Zugang zur inneren Weisheit öffnen und den Tänzer die beiden Energien beherrschen lässt, die durch alle Menschen fließen: die eine, sanft wie ein Schaf, die andere, reißend wie ein Wolf, allzu leicht könne der Wolf das Schaf verschlingen, warnt Lubovedsky - der Tanz soll sie ins Gleichgewicht bringen. Wer die Technik beherrscht, entwickelt am Ende eine Kraft, die ihm immer und überall den richtigen Weg weist und nichts auf der Welt zerstören kann. Dann ist es Zeit, in die Welt zurückzukehren...

Fußspuren in aller Welt

Fast 20 Jahre dauerte Gurdjieffs Reise durch Zentralasien und den Nahen Osten. Dann taucht er 1912 überraschend in Russland als spiritueller Lehrer auf. Etwa 30 Schüler versammeln sich anfangs um ihn. Wieder beginnt er zu reisen, diesmal auch durch Europa und Amerika. Einige Schüler folgen ihm von dort 1919 nach Tiflis, wo er sein erstes Institut gründet. 
1925 beginnt er in Paris, auf der Basis des im Kloster Gehörten seine eigene Musik für die Tempeltänze zu kreiieren. Ohne jegliche Erfahrung im Komponieren strömt sie zwei Jahre lang aus ihm heraus, rhythmisch, orientalisch, schwer in Noten zu fassen. Ein anderer Takt, andere Unterteilungen des melodischen Flusses, bemerkt sein Schüler, der Komponist Thomas Alexandrovich de Hartmann, der trotzdem den Versuch wagt. 
Im letzten Lebensabschnitt beginnt Gurdjieff erstmals, seine Erkenntnisse niederzuschreiben. Seine  Bücher bauen aufeinander auf, bilden die Basis einer umfassenden Lehre, die Schritt für Schritt erworben werden muss – das Lernen geschieht parallel auf bewusster und unbewusster Ebene. 

Einer seiner wichtigsten Schüler ist der georgische Maler und Regisseur Alexandre de Salzmann, mit Kandinsky und Rilke Mitglied der Jugendstilgruppe. Er stellte Gurdjieff dem Schriftsteller Rene Daumal vor, der ebenfalls ein direkter Schüler wurde, fortan beeinflusste seine Lehre Daumals Werke (z.B. das Buch „Der Berg Analog“) entscheidend. Zu den bekannteren Schülern gehören der Moskauer Journalist, Philosoph und Esoteriker Piotr Demianovich Ouspensky, der sich später von Gurdjieff trennte und auf Basis von dessen Lehre eigene Bücher schrieb. Weitere sind der britische Philosoph John Bennett und sein Landsmann Alfred Richard Orage, Herausgeber der Zeitschrift „The New Age“. Die Lehre faszinierte vor allem gebildete Menschen aus der Mittelschicht, Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller aus verschiedenen Ländern.

Von Brâncuși zur Teilchenphysik

Auch Constantin Brâncuși lernte Gurdjieff in Paris persönlich kennen, sie trafen sich bei einem Kochwettbewerb, wie Cantemir Mambet, Vertreter des hiesigen Gurdjieff-Instituts verrät. Der interdisziplinär forschende rumänische Physiker und Philosoph Basarab Nicolescu behauptet sogar, einige von Brâncușis Skulpturen würden Gurdjieffs Ideen reflektieren. Der Mystiker aus dem Orient inspirierte Nicolescu auch in seinem Fach: In „Gurdjieffs Philosophy and Natur“ vergleicht der Teilchenphysiker dessen Weltbild mit modernen Theorien zur Quantenphysik. 

In der Tat sind Gurdjieffs kosmologische Ausführungen durchaus geeignet, Aspekte der Quantenphysik - bisher nur in abstrakten Formeln erfassbar – auf eine andere, intuitivere Verständnisebene zu heben. Wozu dies in unserer westlichen Welt gut sein soll, in der die Disziplinen strikt getrennt sind? Im Film bemerkt der junge Gurdjieff an einer Stelle frustriert: „Die Wissenschaft beweist das eine - die Religion das andere. Beide scheinen wahr zu sein.“ So mag für das Verständnis des Kosmos und des dahinterstehenden Sinns letzlich beides nötig sein: Wissenschaft und Spiritualität – nicht als zwei Seiten einer Medaille, sondern harmonisch vereint.