„Aufzeichnungen aus einer erlebten Zeit“

Ștefan Câlția-Retrospektive im Museum für Gegenwartskunst in Bukarest

„Die Welt wie ein Theater“ (1988-89), Öl auf Leinwand von Ștefan Câlția | Fotos: die Verfasserin

Ein Monster, das über die Erdkugel herrscht. Tusche auf Papier (1991) von Ștefan Câlția

Die Ausstellung „Aufzeichnungen aus einer erlebten Zeit“, die im Nationalen Museum für Gegenwartskunst in Bukarest MNAC (im E4-Flügel des Parlamentshauses, Str. Izvor 2-4, im 5. Bezirk) bis zum 16. April gastiert, bietet nicht nur einen Rückblick über die Werke des bekannten rumänischen Gegenwartskünstlers Ștefan Câlția aus der Zeitspanne zwischen 1965 und 1995, sondern auch eine neue Perspektive.

Ștefan Câlția wurde 1942 in Kronstadt/Brașov geboren und zog 1944, nach der Bombardierung der Flugzeugfabrik I.A.R., in der sein Vater als technischer Zeichner arbeitete, mit seinen Eltern nach Fogarasch/Făgăraș. Seine Kindheit verbrachte er oft in Schönen/Șona, im Haus neben der Kirche, bei seiner Großmutter Eudochia.

Der Maler absolvierte seine Ausbildung am Gymnasium für Bildende Kunst und Musik in Temeswar/Timișoara mit dem Grafiker Julius Podlipny als Lehrer und dann unter der Leitung von Corneliu Baba am Institut für Bildende Kunst „Nicolae Grigorescu“ in Bukarest. Fogarasch, Schönen, Temeswar und Bukarest haben seinen künstlerischen, sozialen und kulturellen Werdegang geprägt. 

Ab 1992 wirkte Ștefan Câlția neben Künstler Sorin Ilfoveanu, Florin Ciubotaru, Florin Mitroi, Vladimir Zamfirescu als Professor an der Akademie der Künste in Bukarest, dann amtierte er als Dekan der Fakultät für bildende Künste und nach 1996 als Leiter der Malereiabteilung.

Nach 1990 tritt Ștefan Câlția der Bürgerallianz „Patria“ bei, welche für die öffentliche Anerkennung der rumänischen Staatsbürgerschaft und -rechte Königs Michael I. durch die rumänischen Behörden kämpfte. Derzeit ist er Mitglied der Stiftung „Negru Vodă“ in Fogarasch, mit der er 2003 versuchte, ein Museum des Kommunismus des Fogarascher Landes zu errichten. Seit 2013 engagiert sich der Künstler gemeinsam mit der Galeria Posibilă und dem Dorfverein „Șona Noastră“ für die Stärkung der Gemeinschaft im Dorf Schönen. Câlția ist außerdem Träger des Nationalen Treudienst-Ordens im Grad eines Großkreuzes und der König Michael-Medaille für Treue.

Ausstellungen

Ab 1977 knüpft der Maler über sich entwickelnde Freundschaften mit dem norwegischen Historiker und Osteuropaexperten Jardar Seim, dem deutschen Architekten Axel Konrad u. a. Kontakte mit den Künstlergemeinschaften und Behörden im Ausland und stellt regelmäßig in Norwegen, Dänemark, Deutschland sowie den Niederlanden aus. Einige seiner Werke werden von den örtlichen Kunstmuseen erworben. 

1993 organisierte der Kunstkurator und Künstler Sorin Dumitrescu in der Catacomba-Galerie der Akademie der Künste Bukarest eine der umfangreichsten und spektakulärsten Ausstellungen mit Ștefan Câlțias großformatigen Grafiken. In den 90er Jahren werden für ihn mehrere Ausstellungen in Deutschland mit der Hilfe seines in Schäßburg/Sighișoara gebürtigen Freunds Uwe Grossu organisiert, zu deren Anlass der Bildband „Zwischen den Welten“ gedruckt wird.

Mit der Gründung der Galeria Posibilă Anfang der 2000er Jahre werden eine Reihe von Ausstellungen der Künstlers in verschiedenen rumänischen Städten veranstaltet. 2004 wurde in der Mansarda Gallery der Westuniversität in Temeswar eine Retrospektive mit über 150 Werken organisiert, 2006 stellte Câlția im Klausenburger Kunstmuseum Referenzwerke aus der Zeit von 1980 bis 2000 aus. 2008 präsentiert er in der Ausstellung „Zeichnungen für Herina“ in der evangelischen Kirche in Mönchsdorf/Herina, Kreis Bistritz-Nassod, großformatige Grafiken und Werke, die christliche Symbole darstellen.

Die 2014 im Temeswarer Kunstmuseum eröffnete Ausstellung „Ștefan Câlția. Orte“, sowie der dazugehörige Bildband, präsentieren die Werke des Künstlers ausgehend von Themen wie Orte, Reisen, Natur oder Theater. 2017 veranstaltete das Museum der Kunstsammlungen in Bukarest die Ausstellung „Sprechende Dinge“, die sich um die Beziehung zwischen dem künstlerischen Prozess und die Inspirationsquellen des Künstlers dreht. 2019 stellt Câlția im nationalen Kunstmuseum der Republik Moldau in Chișinău eine Reihe von Arbeiten rund um das Thema der permanenten Wiederkehr der historischen Ereignisse unter dem Titel „Uroborus“ aus.

„Aufzeichnungen aus einer erlebten Zeit“

Im Fokus der Ștefan Câlția-Retrospektive unter dem Titel „Aufzeichnungen aus einer erlebten Zeit“, die nun im Bukarester Museum für Gegenwartskunst MNAC geöffnet ist, stehen insbesondere seine ab 1965 und kurz nach der Wende bis 1995 entstandenen Werke, die der Öffentlichkeit weniger bekannt sind. 

Ein Rückblick auf diese Zeit seines Schaffens hebt sowohl seine konzeptionelle als auch ästhetische Beständigkeit hervor: Beim Betrachten der Werke kommt eine Vielzahl von Haltungen gegenüber dem rumänischen Alltag zum Vorschein. Diese drückt er durch Kompositionen mit zoomorphen Gestalten oder mittelalterlichen Monstern, die in dunklen Landschaften dargestellt sind und im Schlüssel des Bösen gedeutet werden sollen, aber auch durch Landschaften, Stillleben und Reisen aus, die das Verständnis seiner Weltanschauung erleichtern sowie das Gleichgewicht in einem gestörten kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Raum wiederfinden.

Im Vergleich zu seinen neueren hellen Kunstwerken herrschte in den Bildern aus der kommunistischen Zeit eine dunkle Atmosphäre und einige Gestalten wie Fische und Dörfer, die in die Luft schweben, bleiben wiederkehrende Motive in seinem gesamten Schaffen. Diese Art von Darstellung gehört nicht dem Surrealismus sondern der Strömung des magischen oder träumerischen Realismus an. Mit diesen versucht der Maler, Ideen, Gedanken und Konzepte auf der Leinwand wiederzugeben. Dies sind keine Nachbildungen von wirklichen Gestalten und Orten. Sie stammen aus seiner Vorstellung und sind gleichzeitig stark im Alltagsleben verankert. Ein treffendes Beispiel ist die Gemäldeserie „Die Welt wie ein Theater“ (1988-89), in der eine skurril wirkende Reihe von traurigen, müden, widerstandsunfähigen Zirkusgestalten sich von einem verrückten, scheinbar blinden Anführer leiten lassen. Beim aufmerksameren Betrachten stellt sich heraus, dass diese skurril wirkende Szene auf einem Vorhang dargestellt ist, hinter dem eine Frauenfigur auftritt und eine rotgefärbte Kulisse aufdeckt. 

So weichen die Kuratoren der Ausstellung, Alexandra Manole und Cătălin Davidescu, durch ihre Perspektive über Câlțias Werk von einer bequemen Interpretation ab und schlagen dessen Wiederentdeckung als eindringlichen, mal schwungvollen, mal subtilen Kommentator des Alltagslebens vor.