Bäume haben Wurzeln, doch der Mensch hat Beine

Zweitägige Konferenz zu Migration und Integration

KAAD-Alumni aus fünf zentral- und osteuropäischen Ländern kamen für eine Tagung im Kloster Ciofliceni zusammen.
Foto: Markus Leimbach

Wie sollte die Interaktion mit Migranten gestaltet sein? Welche Rolle spielt dabei die Politik, welche der Einzelne? Wie können christlich-moralische Werte sowohl den im eigenen Land als auch den in anderen Ländern geborenen Menschen vermittelt werden? Wie ist Populismus zu begegnen?

Diesen und weiteren Fragen stellten sich die 31 Teilnehmer der für dieses Jahr ersten Internationalen Tagung der KAAD-Alumni aus Osteuropa. Die ehemaligen Stipendiaten des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes (KAAD) kamen am 16. und 17. Mai im katholischen Karmelitenkloster in Ciofliceni, 40 Kilometer nördlich von Bukarest, zusammen. Mit „Migration und Integration früher und heute“ hatten die Veranstalter Univ.-Dozentin Dr. habil Raluca Rădulescu und Dr. Alexandru Ronai aus Bukarest ein Thema gewählt, das aufgrund persönlicher Erfahrungen der Konferenzteilnehmer sowie aktueller politischer Debatten in den unterschiedlichen zentral- und osteuropäischen Ländern viel Stoff zu Meinungsaustausch bot.

Die Vielfalt an Nationen, akademischen Ausrichtungen, Altersstufen und dementsprechend in Perspektiven und Ansatzpunkten waren für den Verlauf der Konferenz richtungsweisend. Aus Polen, Ungarn, Lettland, der Slowakei, Deutschland, aus verschiedenen Teilen Rumäniens und sogar aus Indien waren Wissenschaftler angereist, um verschiedene Konzepte von Migration und Integration zu präsentieren und zu diskutieren. Archäologen und Historiker trafen hierbei auf Philosophen oder Sprach- und Literaturwissenschaftler; Geografen und Mathematiker auf Vertreter der Kultur-, Medien- oder Politikwissenschaften.

Nachdem der Leiter des KAAD-Osteuropa-Referats, Markus Leimbach, und Prof. Dr. Marcel Popa, Leiter des KAAD-Gremiums von Rumänien, alle Teilnehmer herzlich willkommen geheißen hatten, führte Dr. Rădulescu die Anwesenden durch den ersten Konferenztag.

Der fremde Gast: Freund oder Feind?

Eröffnet wurden die insgesamt 14 Präsentationen am ersten Konferenztag mit der von Prof. Dr. Wilhelm Dancă aus Bukarest gestellten Frage, wie Migranten empfangen werden sollten. Dabei wurde in den Fokus gestellt, dass Gastfreundschaft zwei Seiten hat, und keine davon ist einfach: Es ist das jeweils einseitige Geben und Nehmen, das Probleme bereitet. Und was sollen wir tun, wenn wir als Reaktion auf unser Geben keine Dankbarkeit erfahren? „Am Ende sollst du durch das Geben selbst empfangen“, schloss der Professor für katholische Theologie. Nein, einfach ist die Angelegenheit gewiss nicht. Das zeigt bereits die Etymologie der englischen Wörter „hospitality“ (Gastfreundschaft) und „hostility“ (Feindseligkeit), die beide von dem lateinischen Wort „hospes“ abstammen, das sowohl Gastgeber, als auch Gast, als auch Fremder und damit später Feind bedeuten konnte. Zentral ist also die Perspektive, die man dem Unbekannten gegenüber einnimmt, und dabei ist die Gastfreundschaft auf persönlicher Ebene klar von der politischen zu trennen.

Diese Unterscheidung griff Dozent Dr. Ioan Alexandru Tofan aus Jassy/Iași auf, der drei philosophische Konzepte von Gastfreundschaft vorstellte: Während Immanuel Kant diese als einen vom Staat gewährten, zeitlich begrenzten Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet definierte und damit ein rein politisches Konzept vertrat, sprach der französische Philosoph Jacques Derrida von einer „Erfahrung von Gastfreundschaft“ als der persönlichen Aufnahme von Bedürftigen in einer globalen Welt, in der Staatsgrenzen unbedeutend sind. Der rumänische Geistliche Andrei Scrima schließlich vertrat das Konzept der „absoluten Gastfreundschaft“, nach der Gastfreundschaft nicht bedeutet, zu geben, sondern vielmehr – in einem spirituellen Verständnis –, zu sein.

Den politisch viel diskutierten Zusammenhang zwischen Migration und Religion beleuchtete Dr. Damian Belina aus dem polnischen Lublin in seinem Vortrag. Ja, Religion kann Auslöser für Migration sein und umgekehrt haben Migrationsbewegungen in der Vergangenheit auch die Religionsentwicklung beeinflusst. Und ja, die Frage nach der Religion wird wichtig, wenn es um die Integration von Migranten geht. Aber beeinflussen gegenwärtige Einwanderungsbewegungen in Europa die Zu- oder Abnahme von Religiosität? Bei den Einwanderern oder den Einheimischen? Eine Antwort wird sich wohl erst in der Zukunft geben lassen.

Ähnlichkeit und Wurzellosigkeit

Mit der politischen Debatte um Migration und Integration beschäftigten sich auch die beiden Ehrengäste der Konferenz, Prof. Dr. Dorothee Kimmich aus Tübingen und Prof. Dr. Anil Bhatti aus Neu-Delhi, die in ihrem 2015 erschienenen Buch das Prinzip der Similarität als Alternative zu Differenzdiskursen vorstellen. Die Bereitschaft, Ähnlichkeiten statt Unterschiede im Fremden zu sehen, bestimme das jeweilige Weltbild, erklärten sie. Daher betonten Rechtspopulisten mit Vorliebe die Opposition zwischen Eigenidentität und Differenz und übersähen dabei die Mitte: die Ähnlichkeiten zwischen mir selbst und dem Fremden. Der Ähnlichkeitsdiskurs solle einen Gegenpol zu rassistischen Diskursen bilden, so Kimmich. Gerade für Angelegenheiten der Integration seien die Frage nach den Ähnlichkeiten und die Frage, wo Fremdheit eigentlich beginnt, von großer Wichtigkeit. So sei der monotheistische Islam dem Christentum im Vergleich mit anderen, beispielsweise hinduistischen Religionen, ziemlich ähnlich, was gerne übersehen würde. Die Bezeichnung „Islam“ sei hierbei sowieso eine vom Differenzdiskurs dominierte Homogenisierung einer disparaten Gruppierung; lediglich eingeführt, um Fremdes politisch zu kategorisieren. Mit der Wirklichkeit habe die Zusammenfassung aller islamischen Ausrichtungen unter einem stereotypen Bild von „dem Moslem“ aus christlich-westlicher Perspektive aber nicht viel zu tun.

Trotz oder gerade wegen der zunehmenden Polarisierung von rechts in Europa appellierte Dr. Gheorghe-Ilie Fârte aus Jassy/Iași an die Akademiker, den Austausch mit Populisten zu suchen, ihnen respektvoll zu begegnen und den Versuch zu machen, Verständnis für die andere Meinung aufzubringen. Auch dies sei unvermeidbar, wenn die aktuellen Migrationen erfolgreich verlaufen sollen.

Verschiedene Perspektiven auf Migrationsbewegungen besprach auch Dr. Peter Varga aus Budapest, allerdings ausschließlich solche von Migranten: In der osteuropäischen Geschichte habe es zahlreiche Migrationsbewegungen gegeben, zum Beispiel die der Russlanddeutschen, der Ungarndeutschen oder auch die der Siebenbürger Sachsen. Je nach Kontext seien diese Migrationen von den Ein- und Auswanderern unterschiedlich bewertet worden: als Zwangsevakuierung, als Strafe, als ethnische Vertreibung oder im Fall der Heimatvertriebenen sogar als Rückkehr. Auch dieser Aspekt spiele eine Rolle, wolle man Migranten erfolgreich in die eigene Gesellschaft integrieren.

Prof. Dr. Bhatti war es schließlich, der das Sprichwort „Bäume haben Wurzeln, doch der Mensch hat Beine“ in die Überlegungen einbrachte. Dr. R˛dulescu vertiefte diesen Gedanken mit der Metapher der Wurzellosigkeit: Der Mensch sei nicht auf Wurzeln angewiesen, wie das Nomadentum, das so alt ist wie die Menschheit, und vergangene Massenmigrationen bewiesen hätten. Die Metapher des Rhizoms statt der Wurzel sei dahingegen passender. Mit diesem Bild verändere sich die Selbstdefinition des Menschen in Bezug auf Migration und Integration: Während eine Wurzel eine feste Ortszugehörigkeit, Exklusion neuer Gewächse und Ausbreitungstendenzen impliziert, steht das Rhizom für eine Vernetzung und für Heterogenität.

Von Migration in Literatur bis Literatur für Migranten

Von einem anderen Ausgangspunkt beleuchteten Prof. Dr. Wojciech Kudyba und Dorota Kudyba aus Warschau und Krakau die Thematik, indem sie Beispiele für eine moralische Lehre gegen Fremdenhass aus der Literatur vorstellten.

Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgte Dr. Jana Juhásová aus der Slowakei, die aus der Intention heraus, Jugendliche mit Themen wie Rassismus, Heimat, Arbeit und Krieg sowie Sozialhilfe und Integration zu konfrontieren, mit Hilfe eines deutschen Jugendromans ein Unterrichtskonzept für Deutsch als Fremdsprache (DaF) erstellt hat.

Die Besonderheiten des DaZ- Unterrichts (Deutsch als Zweitsprache), der sich an Einwanderer in Deutschland richtet, im Vergleich zum DaF-Unterricht, der im Rahmen von Bildungsprogrammen im Ausland gelehrt wird, zeigte die Deutschlehrerin Dr. Stanislava Galova aus Bratislava auf: Die Schüler lebten oft in Sammelunterkünften, wo sie isoliert von deutschen Muttersprachlern seien, wegen der Gruppenschlafsäle vermehrt unter Schlafmangel litten und keinen angemessenen Ort zum Lernen hätten. Dazu komme eine biografische Vorbelastung, die oft einen Konzentrationsmangel mit sich bringe, und die sogenannte „Lern-Ungewohnheit“: Viele der Deutschlernenden hätten zuvor nie Sprachunterricht gehabt, seien nur wenige Jahre zur Schule gegangen und beherrschten keine Lerntechniken. Manche seien Analphabeten und auch der Umgang mit Arbeitsmaterialien wie Stiften und Wörterbüchern müsse teilweise erst trainiert werden. Unterrichtsmethoden wie Gruppenarbeit und Lernmethoden wie das Benutzen von Karteikarten für Vokabeln müssten also schrittweise eingeführt werden. Schwierig könne auch die Themenwahl sein, denn während ein direkter Realitätsbezug enorm wichtig sei, da es sich beim Spracherwerb um einen lebenswichtigen Prozess handele, seien einige Themen, wie zum Beispiel die Familie, nur sehr sensibel zu besprechen, so Dr. Galova. Leider hätten die DaZ-Lehrer in der Regel keine spezielle Qualifikation und seien daher auf diese besonderen Anforderungen nicht vorbereitet. Die richtige Auswahl von Lehrwerken sei darum besonders wichtig.

Der KAAD

Bei den gemeinsamen Mahlzeiten, an den Abenden und während eines Ausflugs mit Stadtführung durch das nahegelegene Bukarest konnten die Teilnehmer die angesprochenen Diskussionspunkte weiter ausführen und sich vernetzen. Der zweite Konferenztag bot weitere aufschlussreiche Vorträge. Den Abschluss der Konferenz bildete schließlich ein traditionelles Abendessen im historischen Lokal „Caru’ cu Bere“ in der Bukarester Altstadt.

Dreimal im Jahr kann das Ost-europareferat des KAAD mit Sitz in Bonn seinen Alumni mehrtägige Konferenzen zu diversen Themen anbieten. Solche Tagungen sind aber nur ein Bonus; das Hauptanliegen des Werks ist es, Stipendien für einen Studien- oder Forschungsaufenthalt in Deutschland an junge Akademiker zu vergeben. Das Stipendienprogramm richtet sich an Masterstudenten, Doktoranden und ausgewiesene Wissenschaftler. Gefördert werden können je nach Programm Aufenthalte zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Dabei ist es dem KAAD wichtig, dass die jeweiligen Forschungen im eigenen Land nicht durchgeführt werden können und dass die Stipendiaten nach Ablauf ihres Studienaufenthaltes in ihr Heimatland zurückkehren. Schließlich geht es dem KAAD nicht zuletzt darum, Transformations- und Demokratisierungsprozesse sowie wissenschaftlichen Fortschritt in den Herkunftsländern nachhaltig zu fördern. Seit seiner Gründung vor 60 Jahren hat der KAAD zu diesem Zweck über 9000 Stipendiaten aus verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas, des Nahen und Mittleren Ostens sowie Ost- und Südeuropas gefördert. Aus Osteuropa sind momentan 42 junge Akademiker zu Studien- und Forschungszwecken in Deutschland.