Bildschirm statt Konzertsaal

Krankheitsgefahr ist kein Grund zum Verzicht auf Musikgenuss

Auf dem Programm der 35. Musikwoche Löwenstein, die in einem Abschlusskonzert in Heilbronn gipfeln sollte, standen Komponisten aus Siebenbürgen und dem Banat: Hermann Klee (1883 – 1970), Rudolf Lassel (1861 – 1918), Johann Lukas Hedwig (1802 – 1849), Johann Sartorius jr. (1712 – 1787) und Chorsätze der gegenwärtigen Hermannstädter Kantorin Britta Falch. Sicherlich werden diese Werke bei einer nächsten Auflage der Musikwoche aufgeführt werden.

Die rollende COVID-19-Krankheitswelle wird nicht zu lähmender Traurigkeit, wenn man ihr mit geschicktem Weitblick und ohne jede fieberhafte Angst die Stirn bietet. Noch sind teils große Unterschiede in der Anzahl der Infektionen von Land zu Land feststellbar. Mittwochfrüh, am 18. März, gab das Robert-Koch-Institut (RKI) der Bundesrepublik Deutschland bekannt, dass Laboruntersuchungen bereits 8198 Krankheitsfälle auf nationaler Ebene bestätigt hätten. Dienstag, am 17. März, hatte noch die Zahl 7156 gegolten. Ausbreitung um 1042 Infektionen in 24 Stunden ist tatsächlich eine besorgniserregende Nachricht, die jedoch von der Mitteilung des RKI gedeckt wird, dass Tests „strategisch eingesetzt“ würden, um eine realistische Prognose der epidemischen Entwicklung gewährleisten zu können. Mikrobiologe Prof. Dr. Lothar H. Wieler, Präsident des RKI seit 2015, versichert, dass 99 Prozent der Patienten der BRD die Krankheit überleben werden, und vier von fünf Infizierten nur leichte Symptome aufweisen werden.

Rumänien vermeldete am selben Mittwochvormittag, dem 18. März, insgesamt 246 positiv bestätigte Infektions-Tests. Eine kaum nennenswerte Information, wenn man sich vierstellige Fallzahlen westlicher Industriestaaten Europas und fünfstellige Fallzahlen des Iran, der Volksrepublik China und aus dem komplett gesperrten Italien vor Augen hält. Und doch war es eine gute Entscheidung von Staatspräsident Klaus Johannis, den Notstand Rumäniens auszurufen. Nichtregierungsorganisationen wie beispiels-weise der Verein Declic und die Fundația Comunitară Sibiu haben Spenden-Petitionen gestartet und Privat- sowie Rechtspersonen überzeugt, staatlichen Krankenhäusern Rumäniens finanziell auszuhelfen. Petition statt Korruption. Wann wird Rumänien endlich soweit sein, sich selbst auch ohne zivile Opferbereitschaft gesund pflegen zu können?

Rumäniens öffentliche Kultureinrichtungen schei-nen aktuell noch nicht davon sprechen zu wollen, dass der für den 1. April anberaumte Wiederöffnungstermin aller Wahrscheinlichkeit nach aufgeschoben werden muss. Da hat Deutschland in Belangen der Planungsvorsicht von Anfang an mehr Langfristigkeit vorgelegt. Die Berliner Philharmonie bleibt bis einschließlich Sonntag, den 19. April, geschlossen. Die bundesdeutsche Welle der Streichungen von Veranstaltungen wirkt sich sogar bis hin auf das Banat und Siebenbürgen aus, da die in München beheimatete Gesellschaft für Deutsche Musikkultur im südöstlichen Europa e.V. (GDMSE) Freitag, am 13. März, schweren Herzens die Absage der 35. Auflage der Musikwoche Löwenstein, die vom 13. bis 19. April nahe Heilbronn hätte stattfinden sollen, bekannt gab. Etwa 150 Menschen von Jung bis Alt, die meisten von ihnen in Deutschland lebend, aber auch viele aus Rumänien, wurden durch höhere Gewalt um die Gelegenheit gebracht, sich sieben Tage lang eingehend mit Musik aus Siebenbürgen und dem Banat zu beschäftigen.

Auch die Spitzenszene deutschsprachiger Kirchenmusik ist von der Pandemie betroffen. Das Sächsische Staatsministerium für Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt verordnete Mittwoch, am 11. März, bis einschließlich am katholischen und protestantischen Karfreitag, dem 10. April, auf Eigenveranstaltungen zu verzichten. Weder der Thomanerchor Leipzig noch der Kreuzchor Dresden werden demnach Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ am liturgisch gültigen Aufführungstermin singen können. In beiden Metropolen Sachsens muss das alljährlich in Ehren gehaltene Ereignis heuer schlichtweg ausfallen. Wer sich damit nicht abfinden will, kann beim Label Accentus die Doppel-DVD bestellen, die den Live-Mitschnitt der Aufführung der „Matthäus-Passion“ durch Thomanerchor und Gewandhausorchester in der Thomaskirche zu Leipzig 2012 unter der Leitung von Thomaskantor Georg Christoph Biller zeigt. Nicht zuletzt gilt dieses Konzert als eine der letzten Großaufführungen mit Dirigat von Biller, der am 31. Januar 2015 nach über 22 Jahren aus gesundheitlichen Gründen noch vor Erreichen des Rentenalters vom Amt an der Thomaskirche zurücktrat. Sein autobiografisches Buch „Die Jungs vom hohen C“ (Mitteldeutscher Verlag, 2018) ist interessanter Leseschlüssel für Musikfreunde, denen Bachs Tonsprache Herausforderung und Trost bedeutet.

Ebenso wertvoll für Karfreitag ist der am 15. Juli 2018 in der Schwarzen Kirche Kronstadt/Brașov aufgezeichnete Live-Mitschnitt der „Matthäus-Passion“ mit dem Lux-Aurumque-Chor Szeklerburg/Miercurea Ciuc, dem Bachchor Kronstadt und dem auf original barocker Stimmtonhöhe spielenden Orchester des Festivals für Alte Musik Szeklerburg unter Gesamtleitung von Steffen Schlandt, Kantor der Schwarzen Kirche. Die Aufnahme ist leicht auf Youtube zu finden. Steffen Schlandt hätte auch die musikalische Gesamtleitung der 35. Musikwoche Löwenstein (GDMSE) bestreiten sollen. Nun aber kommt es anders. Und die Schwarze Kirche kann auch an krankheitsfreien Frühlingstagen keine großen Konzerte beherbergen, da sie nach wie vor auf eine neue Heizung wartet.

Die allergrößte Geste der Musikszene kommt derzeit von den Berliner Philharmonikern: Wer sich bis 31. März in die Digital Concert Hall einloggt, erhält 30 Tage lang unbegrenzten Zugang zum Super-Video-Archiv des größten Orchesters der Welt. Auch wenn man trotz Coronavirus daheim alle Hände voll zu tun hat und sich erstaunlich wenig Freizeit gönnen kann, lohnt es allemal, von der einmaligen Einladung Gebrauch zu machen und beispielsweise in die Zweite Gustav Mahlers hineinzuhören, die als Sinfonie der „Auferstehung“ von dem erzählt, worauf Eu-ropa und die Welt augenblicklich hoffen. „Auch und vor allem in Krisenzeiten gilt für uns Künstler die dringende Pflicht, auf unsere Produkte aufmerksam zu machen“, sprach Ex-Chefdirigent Sir Simon Rattle zu Beginn des letzten Konzerts der Berliner Philharmoniker, das am 12. März vor leeren Publikumsrängen stattfand, ins Mikrofon.