Daker als Götter im Herzen von Rom?

Archäologe Leonard Velcescu: Vielleicht müssen wir die Beziehung zwischen Römern und Dakern völlig neu überdenken

Leonard Velcescu im Schillerhaus Foto: Nina May

Dakerstatue aus rotem Porphyr im Louvre, Paris

Dakerkopf im Prado-Museum, Madrid Fotos: AICC

Auch im Vatikan gibt es Dakerstatuen aus dem Trajansforum.

Manche fasziniert das Dakervolk wegen seiner ungewöhnlichen Spiritualität – der Eingottglaube, die Überzeugung eines Weiterlebens nach dem Tod, die daraus resultierende Furchtlosigkeit im Kampf. Vielleicht auch wegen ihres Wissens, das sich in Festungsruinen mit lückenlos aneinandergefügten Mauersteinen widerspiegelt, in astronomisch ausgerichteten Tempeln und goldenen Spiralarmbändern. Ganz sicher aber wegen ihrer Rätselhaftigkeit. Unzählige ungelöste Fragen fordern die Vorstellungskraft heraus: Warum haben antike Geschichtsschreiber so wenig über sie berichtet? Warum sind keine Dokumente erhalten, zumindest aus der Zeit der Eroberung durch die Römer? Was ist mit den Aufzeichnungen geschehen, die Kaiser Trajan persönlich angefertigt hat?

Was wir wissen: Im Jahr 106, nach zwei blutigen schweren Kriegen, haben die Römer Dakien besetzt. Dakerkönig Decebal nimmt sich das Leben. Seine Tochter oder Schwester, Dochia, gerät in die Hände der Römer. Mit dem Säugling in ihren Armen wird sie weggeführt, weitere Dakerkinder folgen, wie das Relief der Trajanssäule zeigt, das den Sieg ausführlich beschreibt. Könnte man das Erzähl-Fries ausrollen, das die Säule von unten nach oben bedeckt, wäre es stolze 200 Meter lang! Kaiser Trajan präsentiert sich damit der Nachwelt überzeugend als Sieger. Dakien wird römische Provinz. Die Daker sind die Besiegten. Alles klar – oder nicht?

Was wir nicht wissen...

Dass die Dinge nicht so einfach liegen, dass wir nicht einmal ansatzweise nachvollziehen können, was nach der Eroberung passierte, dass wir die Beziehungen zwischen Römern und Dakern vielleicht völlig neu überdenken müssen, suggeriert der Archäologe und Kunsthistoriker Leonard Velcescu. Basis seiner Argumentation ist seine Doktorarbeit aus dem Jahr 2000, absolviert an der Sorbonne- Universität in Frankreich. Thema: die Dakerstatuen im Trajansforum. In einem spannenden Vortrag präsentierte er seine wissenschaftlich fundierten Überlegungen am 19. November im Kulturhaus „Friedrich Schiller“. Es ist der Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe zu diesem Thema, verspricht Schillerhausdirektorin Mariana Duliu.

Wir wissen viel zu wenig über Dakien und die Daker aus der Zeit nach der römischen Besetzung, insistiert Velcescu. Originalschriften sind keine erhalten, nur spärliche Fragmente, von Geschichtsschreibern übermittelt. War die Eroberung des „Barbarenlandes“ als historisches Ereignis nicht wichtig genug? Im Gegenteil: Dio Cassius (auch Lucius Cassius Dio) beschreibt die römisch-dakischen Kriege als schlimmste militärische Konfrontation, die das römische Imperium je erlebte! Kein Wunder also, dass die Trajanssäule als Beweis eines schwer erlangten Sieges den damals wichtigsten Ort der Römerhauptstadt zierte: das Trajansforum im Herzen von Rom.

Dakerstatuen im Trajansforum

Unter der Leitung von Apollodor von Damaskus wurde gleich nach dem Krieg im Jahre 107 mit dem Bau begonnen. Sechs Jahre später wurde es geweiht. Wie wir uns das Trajansforum – eines der bedeutendsten sogenannten Kaiserforen – vorstellen können, beschreibt Wikipedia: Der Weg führt vom Kolosseum durch den Triumphbogen als Eingang direkt zum Reiterstandbild Trajans. Die halbkreisförmig angeordneten Trajansmärkte mit Geschäften in mehreren Stockwerken und teilweise überdachten Straßen erinnern an ein modernes Einkaufszentrum. An die fünfschiffige Basilika Ulpia, vermutlich Sitz der Ämter für Justiz- und Schulwesen, grenzen zwei Bibliotheken, eine für lateinische, eine für griechische Bücher an. Dazwischen steht – bis heute vollständig erhalten und an ihrem originalen Platz - die Trajanssäule. Insgesamt sei aus dem Trajansforum bisher wenig ausgegraben worden, heißt es in dem  Beitrag (Stand: August 2019) weiter.

Kein Wort über die dort entdeckten 86 Dakerstatuen - schätzungsweise gab es um die 100 - die Velcescu bereits vor 2000 ausführlich studiert hat! Sie sind in Museen in aller Welt verstreut - über 20 in Rom, dort auch an öffentlichen Plätzen und im Vatikan. In insgesamt 20 Städten kann man die vollständig oder teilweise erhaltenen Statuen der Daker aus dem Trajansforum bewundern: Rom, Neapel, Florenz, Paris, Versailles, London, Cambridge, Dunham, Madrid, Berlin, Kopenhagen, Jerusalem, Efes, Izmir, St. Petersburg, New York, Boston, Athen, Prag und Brüssel. Wer sich von ihrer so seltsam unbekannten Existenz überzeugen möchte, findet ihre Beschreibung, Fotos und eine grafische Rekonstruktion des Trajansforum mit ihrem Standort auf der Webseite der NGO „Asociația Identitate Culturală Contemporană“ (AICC), die sich mit Unterstützung von Experten – darunter Velcescu – mit der kulturellen Identität Rumäniens im europäischen Kontext befasst (siehe: www.statuidedaci.ro). 

Im Trajansforum standen die zwischen 2,60 und 3,24 Meter hohen Dakerstatuen auf einer von Säulen getragenen Galerie – manche Forscher vermuten sogar, es wären zwei Galerien übereinander gewesen – im Geviert und an der Fassade der Basilika Ulpia. Ein gigantischer rechteckiger Innenhof, von allen Seiten mit monumentalen Dakerstatuen flankiert, der Betrachter musste den Blick nach oben heben. Stellt man so bezwungene Feinde dar? Noch dazu im Herzen von Rom! Wären nicht römische Feldherren, Kriegshelden oder Götter dort angebrachter gewesen? Und warum gibt es keine Statuen von anderen besiegten „Barbarenvölkern“? 

Hilft es, zu wissen, dass das Trajansforum mit den Eroberungen aus Dakien finanziert wurde, wie Velcescu erklärt? Dass eine ganze Reihe weiterer Monumentalbauten in Rom ebenfalls aus dieser Kriegsbeute finanziert wurden? Sogar der Bau des Vorläufers des Suezkanals, von Kaiser Trajan weiterbetrieben, war nur dank der Dakerschätze möglich gewesen, fügt er als Kuriosität hinzu. Doch wann jemals bezeugten die Römer einem von ihnen besiegten Volk eine solche regelrecht verherrlichende Dankbarkeit? Niemals.

Aus dem Stein der Götter geschaffen

Im Gegenteil, es gehörte zur üblichen Praxis der Römer, im Krieg unterlegene Völker in erniedrigenden Posen darzustellen - der Sieger schreibt die Geschichte. Die besiegten Daker jedoch blicken aufrecht und würdevoll, sind edel gekleidet, wirken keinesfalls „barbarisch“, primitiv. Ihre Gesichter, ausdrucksvoll und vielfältig, spiegeln komplexe Gemütszustände wider. So manches Antlitz erkennt man auf der Trajanssäule wieder. Man geht daher davon aus, dass es sich um reale Personen handelte, erklärt Velcescu. 

Während auf der Säule auch Frauen und Kinder abgebildet sind, zeigen die im Trajansforum ausgestellten Statuen ausschließlich Männer. Geschaffen wurden sie von namhaften Künstlern in höchster Qualität in drei Serien: Für die erste wurde weißer Marmor mit purpurnen Adern verwendet, für die zweite weißer Carrara-Marmor, für die dritte aber – eine besondere Kuriosität – roter Porphyr aus Ägypten, nur Kopf und Hände waren aus Marmor. Die Verwendung dieses extrem harten Steins – im Vergleich: Marmor liegt auf der von 1 bis 10 eingeteilten Härteskala zwischen 2 und 3, roter Porphyr bei 8 und Diamant bei 10  – wirft weitere Fragen auf. Denn roter Porphyr war damals ausschließlich für die Darstellung des Kaisers oder bestimmter Götter erlaubt! 

Welches Schicksal hatten die Vorbilder dieser Statuen erlitten? Schwer vorstellbar, sie könnten Kriegsgefangene gewesen sein. Waren es tapfere gefallene Krieger? Wurden sie damit – nach Dakerglauben unsterblich – auch für die Römer zu unsterblichen Göttern?

„Es ist das erste Mal in der Weltgeschichte, dass der Eroberer dem Besiegten Monumentalstatuen errichtet“, betont Velcescu. Und: Die Daker sind die einzigen, die so dargestellt wurden. Er liefert keine Erklärung für das Phänomen, regt nur an, man müsse die Beziehung zwischen Römern und Dakern noch einmal gründlich überdenken. „Das Forum ist der wichtigste Platz in Rom, es würde keinen Sinn machen, ausgerechnet dort Dakerstatuen zu errichten, wenn die Daker nicht ein besonderes Volk wären.“ 

Weiteres Rätsel: der Triumphbogen von Konstantin

Erinnern wir uns an die Szene auf der Trajanssäule mit den königlichen Dakerkindern: Was passierte mit ihnen? Velcescu vermutet, dass sie im unmittelbaren Umfeld der römischen Kaiserfamilie aufgezogen wurden. Ihre Nachfahren wurden Römer, mit gleichen Rechten - nur so wäre es erklärbar, dass einige spätere Kaiser dakische Wurzeln hatten, überrascht der Forscher mit einer weiteren, wenig bekannten Kuriosität. Als Beispiel nennt er den 268 ermordeten Regalianus, Dokumenten aus seiner Zeit zufolge angeblich sogar der Urenkel von Decebal. Regalianus sei als römischer Bürger aufgewachsen und in der römischen Hierarchie immer weiter aufgestiegen – bis zum „Augustus“. Auch Geschichtsschreiber Licinius bestätigt, Regalianus sei der Spross einer dakischen Familie. 

Dakischen Ursprungs soll – neben einigen weiteren – auch Kaiser Konstantin der Große (272-337) gewesen sein. Von diesem ist bekannt, dass er die brutalen Christenverfolgungen beendete, zusammen mit seiner Mutter Helena selbst zum Christentum übertrat, (heute gelten beide als Heilige), und nach 324 die Hauptstadt seines Reichs von Rom nach Konstantinopel verlagerte. Warum kehrte Konstantin Rom den Rücken? Rätsel gibt jedoch zuvor schon Konstantins Triumphbogen in Rom auf: Diesen zieren an allerhöchster Stelle acht Dakerstatuen aus dem ehemaligen Trajansforum! Auf dem Triumphbogen von Trajan hingegen wurde dessen Darstellung ausgemeißelt. Welchen Sinn macht dieser – unübliche – Zerstörungsakt?  Und das erneute Erheben der Dakerstatuen? 

Daraus ergibt sich ein ganzes Labyrinth an Fragen: Kann es sein, dass sich Kaiser Konstantin mit seinen Dakervorfahren identifizierte? Angeblich war das ehemalige Dakien doch längst vollständig romanisiert. Freilich mag man sich die Frage stellen, ob aggressive Nationalisierungspolitik nicht Gegentendenzen auslöst. Versuchen nicht unterdrückte Minderheiten oft mit allen Mitteln, ihre Identität – Kultur, Sprache, Religion – zu bewahren, zumindest im Geheimen? Hegte Konstantin Ressentiments gegen die Römer als Eroberer Dakiens? Spielte dies eine Rolle bei der Entscheidung, die Hauptstadt von Rom nach Konstantinopel zu verlagern? Wurden die Aufzeichnungen von Trajan über die römisch-dakischen Kriege etwa gezielt vernichtet – so, wie das Bildnis auf seinem Triumphbogen? Und gibt es eine Verbindung zwischen der Affinität Kaiser Konstantins für das Christentum und dem Eingottglauben bzw. Unsterblichkeitsgedanken der Daker als eine Art Auferstehung nach dem Tod? Rätsel über Rätsel, die  niemand lösen kann. Ein Puzzlestein fügt sich zum andern, kleine Wissensinseln entstehen hier und dort – ab wann lässt sich ein zusammenhängendes  Bild erkennen? Noch bleibt das Puzzlespiel spannend!