Das Leben rückwärts aufgerollt in „Lichtungen“

Eine Buchrezension und ein Interview mit der Erfolgsautorin Iris Wolff

Iris Wolff: „Lichtungen“. Roman. Verlag Klett Cotta Stuttgart, 2024, 256 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-608-98770-6

Iris Wolff Foto: Von Dieraffe (Wikipedia)

„Zugehörigkeit, sagte Ferry, ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.“ – der Spruch des Großvaters Ferry ist ein Leitmotiv des Romans „Lichtungen“ von Iris Wolff, das in neun Kapiteln immer wieder aufs Neue thematisiert wird. Die Geschichte der Familien von Lev und Kato, zwei Randfiguren aus einem Maramureschener Dorf an der Iza, um die sich die Ereignisse ranken, sprechen von Zugehörigkeit, Abstammung, Anpassung, Zuneigung, inneren und äußeren Grenzen, Mut und Freiheit. Die in Siebenbürgen geborene, in Semlak im Banat großgewordene und in Freiburg im Breisgau lebende Iris Wolff hat in ihrem neuen Buch, 2024 im Klett-Cotta Verlag erschienen, eine neue Region für die Handlung aufgetan: die nördliche Maramuresch, das Land der Wälder und Berge, der Holzkirchen und Traditionen. 

Während sie in ihren bisherigen Romanen („Halber Stein“, 2012; „Leuchtende Schatten“ 2015; „So tun, als ob es regnet“, 2017; „Die Unschärfe der Welt“, 2020) hauptsächlich Siebenbürgen und das Banat durchstreifte, zieht sie nun in eine Randregion, wo ebenfalls eine deutsche Minderheit zu Hause ist: die Zipser. Aber das ist nicht der Grund für Wolffs neuen Romanstoff, vielmehr bewegt sie sich in Rumänien, vom Ort ihrer Kindheit, über andere Länder hinweg durch Europa - Österreich, Frankreich, Slowenien, Italien bis in die Schweiz, in Zürich, wo ihr Buch einsetzt. Ihr Roman ist rückwärts erzählt, was seinen besonderen Charme ausmacht. Der Leser ist nicht mehr neugierig auf die Fortsetzung, also auf das Ende, da die Gegenwart mit dem 9. Kapitel beginnt, sondern auf die Vergangenheit. Was war davor? 

Jedes Kapitel wird mit einem Zitat aus siebenbürgischen oder Roma-Märchen, Liedtexten, Kinderreimen, einem ungarischen Sprichwort, aus einer Fabel, aus einem Gedicht oder aus der Bibel eingeführt. Dies lässt Raum für Interpretationen. Es wird eine Geschichte der Freundschaft und Liebe zwischen Lev und Kato erzählt, die in dem Dorf an der Iza in den Waldkarpaten aufwachsen. Durch einen Zufall werden sie Freunde aus Leidenschaft, die sie für immer verbindet. Als Lev als Kind ans Bett gebunden ist, ist es die Schülerin Kato, die ihm die Hausaufgaben nach Hause bringt und ihn mit den Schularbeiten unterstützt. Bei diesen Besuchen, denen Lev, der mit seinen beiden Halbbrüdern und einer Halbschwester Bredica und der Mutter Lis zusammenlebt, anfangs skeptisch gegenübersteht, entwickelt sich eine feste Zuneigung zu dem Mädchen, das mit dem Vater, einem Imker, allein am Dorfrand lebte. Kato ist unkonventionell, klug und sehr begabt, sie malt, singt und liebt die Natur, und vor allem ihre Unabhängigkeit. Bis eines Tages Tom aus Hamburg im Dorf auftaucht und Kato mit ihm wegzufahren beschließt. Sie lässt alles zurück, die historische Wende bot endlich die Möglichkeit, die Grenzen zu überschreiten. Kato zieht mit Tom durch zahlreiche europäische Städte und landet in Zürich, wo sie in ihrem Rover als Straßenmalerin lebt. 

Bei Levs Ankunft in Zürich beginnt die Autorin die Geschichte der Freundschaft rückwärts aufzurollen. Kato schickte Lev immer Postkarten, bis eines Tages eine Karte mit drei Worten ankam: Wann kommst du? Es war, als hätte Lev auf diese Aufforderung gewartet. Er ließ seine Arbeit im Sägewerk, das er zusammen mit seinem Chef Imre übernommen hatte, liegen, da dieser ihm sagte, er dachte schon, er würde ihn nie fragen, ob er weggehen kann. Lev reist nach Zürich, wo er seine Freundin trifft. Sie lebt inzwischen getrennt von Tom und verdient ihren Unterhalt mit Straßenkunst. Das Vertraute zwischen ihnen ist noch immer da. Lev ist der Sohn einer siebenbürgischen Mutter und eines rumänischen Vaters, sein Großvater war Wiener, wie er immer erzählte, und die Großmutter stammte aus Schässburg/Sighi{oara. Nach ihrem Tod zog der Großvater Ferry zurück nach Wien, da er meinte: „Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender.“ Liebevoll, fast schon nostalgisch erzählt Iris Wolff von der „Bunica“, die Mutter des Vaters, die auch in dem Dorf der Maramuresch lebt. Bunica hieß eigentlich Maria Aurica Costin, sie war Witwe, nachdem sie Mann und Sohn verloren hatte, und doch war nichts „unvorhersehbar in ihrem Leben gewesen… Bunica sah die Spur eines Vogels in der Luft, noch bevor er dort flog.“ „Bunica war immer in Bewegung, zwischen Küche, Stall, Scheune. Sie hatte Hühner in wechselnder Zahl, ein Dutzend Schafe…und einen staubgrauen Esel, den sie m˛g˛ru{, Eselchen, nannte… Für Bunica waren die Toten nicht tot… ihr Mann, ihr Sohn, ihre Eltern, Großeltern und auch deren ganze Paraputch, alle konnten schließlich die Welten wechseln.“ Sie stellte immer ein zusätzliches Gedeck bei den Mahlzeiten auf den Tisch und war nicht nur hellseherisch, sondern auch abergläubisch. 

Ins Banat gelangt man schließlich auch wieder. Nach etwa 217 Seiten im vorletzten Kapitel beschreibt die Autorin detailreich den Kuraufenthalt des Großvaters Ferry mit seinem Enkel Lev in Busiasch/Buzia{. Hier entfaltet sich fast eine „Zauberberg“-Atmosphäre der Tischgesellschaft im Kurspeisesaal mit den anderen Gästen verschiedener Herkunft. Geschichtliches sowie literarische und zeitgenössische Probleme tauchen auf. Lenau wird zitiert, Kaiser Franz Josef, der im Kurbad Gast war, ein Kinoabend mit dem bekannten rumänischen Märchen „Tinere]e f˛r˛ b˛trâne]e“ wird erzählt, die Bädertradition detailliert geschildert sowie Spaziergänge im Kurbad, entlang der „Kolonnade, am Kaffeehaus und der ehemaligen Kaiservilla vorbei, durch den Park mit seinen Platanen“. Aber hier geschieht ein tragischer Unfall und Lev erleidet eine Beinlähmung. Das letzte oder erste Kapitel ist dem Vater gewidmet, den Lev kaum kannte, da er früh bei einem Bergrutsch ums Leben kam. Trotzdem hat Lev später auch die Arbeit als Waldarbeiter gewählt, nachdem er die Schule nicht weiterführt, da ihm Freiheit und Unabhängigkeit wichtig waren.

Der Roman von Iris Wolff hat in wenigen Wochen Platz Zwei der „Spiegel“-Bestsellerliste erreicht. Und zurzeit steht er auf Platz Eins der österreichischen und schweizerischen Belletristik-Liste. Die zahlreichen Preise, die die Autorin bereits mit ihrem Buch „Die Unschärfe der Welt“ erhalten hat, das bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde, zeugen von internationaler Anerkennung über jene Grenzen hinweg, die sie in ihren Geschichten immer wieder erzählerisch aufhebt. Sie erzählt spannend in einem unaufgeregten, realistischen Stil vom Gehen und Bleiben in verschiedenen politischen Systemen, von inneren und äußeren Grenzen im Leben. Raffiniert mischt sie in die Erzählung Traditionen, Landschaftsbeschreibungen, Aberglauben, Religion und Dorfriten ein. „Lichtungen“ erhält verschiedene Bedeutungen, „der am weitesten entfernte Ort“ (166) oder in Erinnerungen, die „waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen“ (76) sowie konkret in den Waldlichtungen der Waldkarpaten. Häufig erwähnt sie auch traditionelle Speisen des Landes, wie „Zakuska“ oder „Maisbrei“. Die Begegnungen, bei denen eine an die andere rührt, sind nicht nur die mit Menschen, sondern auch jene mit den Tieren: Von dem Hund Khalil, der Katze Pax oder den Hühnern von Bunica ist die Rede. Wolff entfaltet nicht nur eine vielfältige bunte Familiengeschichte mehrerer Generationen in verschiedenen Gesellschaftssystemen und Ländern, sondern auch Szenen eines filmreifen Road-Movies (Lev radelt mit Kato durchs Iza-Tal, Kato fährt mit Tom durch europäische Städte, Kato und Lev fahren mit dem Schiff sechs Wochen lang von Paris bis Montpellier und weiter, Lev fährt mit dem Rad durch Siebenbürgen, besucht Schässburg und zahlreiche Dörfer). Die Schriftstellerin taucht auch in die Lebensgeschichte ihrer Nebenfiguren ein, sei es die des Großvaters Ferry und Christa in Wien, von Bredica in der Maramuresch, die des Waldarbeiters Imre oder von Fabiu, seinem Schulfreund, die der Familie Radu in Busiasch, von Lonja, jene der Krankenschwester sowie die Geschichte Helgas aus Siebenbürgen beschreibt sie präzise und konkret, lässt jedoch vieles offen. Ein Rezensent (NZZ) nannte sie „die Jongleurin vibrierender Worte“. Der Leser kann seine Fantasie weiterspinnen lassen oder auf eine Fortsetzung der Geschichten dieses fesselnden Romans hoffen.


Im Gespräch mit der Autorin

Dein neuer Roman „Lichtungen“ führt uns Leser wieder einmal in die Landschaft deiner Kindheit und in die Regionen unserer oder unser Eltern Herkunft in Rumänien. Grenzen spielen darin auch eine wichtige Rolle. Landes-, Sprach- oder Kulturgrenzen? Welche dieser Grenzen sind für dich die entscheidendsten für unser Dasein?

Der Roman fächert die Lebensgeschichte des Protagonisten Lev anhand von neun Kapiteln auf, und zwar rückwärts: Von dem Erzählanlass in der Gegenwart bis zu einer der frühesten Kindheitserinnerungen Mitte der Sechziger Jahre im Norden Rumäniens. Lev wächst während des Kommunismus auf, erlebt als Jugendlicher die Revolution und die Öffnung der Grenzen, und als Erwachsener die Abwanderung großer Teile der Bevölkerung. Die Landesgrenzen und auch die Grenzen zwischen den verschiedenen Nationalitäten haben sein Leben bestimmt. Nach und nach merkt er, dass die engsten Grenzen jene sind, die er sich selbst auferlegt; am schwersten ist es, sich von den Traumata der eigenen Vergangenheit zu befreien

Ins Banat gelangt man wieder ausführlich ab S. 217 bei dem Kurbesuch in Busiasch. Hast du vielleicht selbst einmal jemand zur Kur nach Busiasch begleitet und wie ordne ich den Vorspann zu diesem Kapitel 2 dazu, das Zitat von Leopold Zunz aus der Bibel?

In jedem meiner Romane gibt es Erinnerungs-Einsprengsel, also Erlebtes, Beobachtetes oder auch Geschichten, Lebenserinnerungen anderer Menschen (die im Dank genannt werden). Die Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits war auf Kur in Busiasch und wir besuchten sie - das Bild, wie wir im Kurpark Eichhörnchen füttern, hat sich mir eingebrannt und war der Auslöser für das Kapitel. Es sind diese lebendigen Bilder, die mir den Weg in eine Szene ermöglichen; und was das Zitat anbelangt: Am Tisch des Speisesaals werden nationale Besitzansprüche verhandelt. Levs Großvater ahnt den Verlust, die schiere Unausweichlichkeit der Auswanderung und zitiert in diesem Kapitel jene Bibelstelle aus dem Propheten Daniel.

Die Frage der Zugehörigkeit, die wir Banater (und vielleicht auch Siebenbürger) uns oft stellen, steht immer wieder zur Diskussion. Ist es wirklich eine eigene „Entscheidung“ (S. 233), wie Großvater Ferry meint im Buch, oder eine politische Zuteilung?

Gerade aus dieser Spannung heraus leben und handeln die Figuren. Politische Zuteilung und eigenes Identitätsgefühl standen sich vor allem im letzten Jahrhundert gegenüber. Nationalität und Staatsangehörigkeit waren zwei verschiedene Dinge; und während erstere blieb, wechselte letztere mitunter mehrmals im Leben. Die Frage nach Zugehörigkeit stellt sich immer wieder neu, immer wieder anders. Ich bewundere Ferry um die Antwort, die er für sich gefunden hat.

Die „Lichtung“ der Waldarbeiter (S. 166) erhält im Roman immer weitere Bedeutungen, freiheitlich, sozial, emotional. Eine schöne erweiterte Worterfindung. Wie kamst du darauf? Oder warum ist dieser Titel so wichtig?

Die Lichtung ist durch Grenzen definiert, von Wald umgeben, sie ist ein freier, von Bäumen geborgter Ort - ein Ort auf Zeit, inmitten der Dunkelheit. Sie hat im übertragenen Sinn mit Aufbrechen zu tun, mit Losgehen, mit Finden. Die Lichtung ist für mich zu einem Bild des Erzählens und Erinnerns geworden. Während ich schreibe, lasse ich mich darauf ein, nicht zu wissen, wohin die Geschichte mich führen wird. Unsere Erinnerung wiederum ist nicht linear, kein Kontinuum, wir erinnern einzelne Erlebnisse und Erfahrungen, die uns zu denjenigen gemacht haben, die wir sind. Im siebten Kapitel reflektiert Lev: „Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.“

Ich fragte mich bei dem Namen des Hauptprotagonisten Lev, welche Zugehörigkeit Lev (Abkürzung von Leonhard) noch zugeschrieben wird. Lev ist eher eine slawische Form (etwa Lev Tolstoi) - oder hebräisch? Lev ist aber der Sohn einer siebenbürgischen Mutter und eines rumänischen Vaters? Diese Abkürzung wird wohl doch eher selten in Rumänien verwendet?

Ich gehe frei mit den Namen meiner Figuren um. Ob es Sine im Halben Stein, Florentine in „Die Unschärfe der Welt“ oder Lev & Kato in den Lichtungen ist – mir ist der symbolische Gehalt der Namen, ihr Klang, ihre Musikalität wichtiger als die eindeutige ethnische Zuordnung. Lev heißt im hebräischen Herz, Kato auf indisch „Das Zeichen“. Diese Bedeutungsfelder helfen mir, den Charakter dieser Menschen zu fassen, sie vor meinem inneren Auge zu sehen. Es mag seltsam klingen, doch ich könnte ihre Namen nicht ändern, das würde bedeuten, dass ich eine andere Geschichte schreiben müsste.

Wunderbar sind deine Einbindungen von Namen, Geschichten, Märchen, Legenden der rumänischen, ungarischen oder sonstiger Kulturgemeinschaften, die im Land lebten oder noch leben. Eine wahre Bereicherung des Textes. Recherchierst du diese Geschichten, Ausdrücke, Sprichwörter vor dem Schreiben?

Ich glaube an den Zufall im schönsten Sinne des Wortes: Dass einem die Dinge zu-fallen, lenkt man die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen. Auf einer Recherchereise durch die Maramuresch besuchten wir einen ruthenischen Gottesdienst, dann wusste ich: Auch dieser Dialekt muss ins Buch. Fund und Fortgang der Geschichte bedingen einander, etwa bei dem siebenbürgischen Märchen „Der Federkönig“ ein Junge erhält von einer Katze einen Mantel aus Federn. Dieses Märchen spiegelt die Verbundenheit zwischen Lev und jener Katze, die ihm Kato schenkt. Und so sind Ende und Anfang verbunden: Kato schenkt ihm Flügel; ohne sie hätte er nie den Mut gehabt, aufzubrechen.