Das Wiedersehen

Es ist ein warmer Samstagvormittag in Hermannstadt. So zwischen Winter und Frühling. Frau Lisi ist schon längst bereit. Seit dem frühen Morgen denkt sie an die Fahrt nach Mediasch. Dort wird sie Susi  besuchen, eine Mit-Deportierte von vor siebzig Jahren. In Tschasoviar im Donbass haben sie im selben Lager gewohnt, auf benachbarten Pritschen geschlafen. „Lisitante“ lässt den Gehstock zu Hause, nimmt nur die Tasche mit, in der sie Fotos verstaut hat. Blumen als Geschenk sind schon im Auto. Während der Fahrt gehen ihre Gedanken hin und her, Großscheuern, Stolzenburg, Reussen wecken Erinnerungen. Wie wird es sein, jetzt einer Bekannten aus so fernen Zeiten zu begegnen? Darüber spricht die lebhafte 86-jährige nicht und lässt sich auch keine Aufregung anmerken.

In Mediasch erwartet uns der Pfarrer, der Susi, die 87-jährige ehemalige Deportierte aus Taterloch, gut kennt. Er, der Lisitantes Enkel sein könnte, begrüßt sie herzlich wie eine alte Bekannte und kommt mit in die Rosengasse.  In der unbefestigten Straße, zwischen Einfamilienhäusern, stehen ältere Männer. Hat es sich herumgesprochen, dass Gäste kommen? Als Lisitante das Auto verlässt, wird sie fast stürmisch umarmt. Man ist noch gar nicht im Haus angekommen, als ein Redestrom alle Anwesenden erfasst. Ja klar, das Zeitungsfoto aus dem Januar hat alles ins Rollen gebracht. Wo beginnen? Gestern und heute, hier und drüben, es will alles gesagt sein. Sechs Leute sitzen um den Küchentisch, die sich deutsch, rumänisch, sächsisch und ungarisch unterhalten wie gute Freunde. Vor zwei Stunden hat man einander noch gar nicht gekannt! Lisitante findet ihre Fotos. In Frau Susis Küche steht ein moderner digitaler Bilderrahmen. So ist ihre Familie, obwohl in Kanada, Bukarest, Polen und Deutschland verstreut, ihr immer nahe. Dazwischen: Weißt du noch, als ihr in den Karzer musstet, weil ihr euch krankgemeldet habt, um für einen Tag der schweren Arbeit zu entrinnen? Und der kleine Bruder, der mit 15 auch schon mitmusste, wie gut er es doch hatte? Er, der Schmächtige („der wächst auch nur am Karfreitag“) war im Lager Kuhhirte. In eine Blechdose konnte er sich immer frische Milch melken. Nachts, bei den Tieren, hatte er es warm. Die Russlandzeit ist ihm gut bekommen!

Wir verlassen die alten Herrschaften  und beschließen, sie später zu einem festlichen Mittagessen auszuführen. Gesagt, getan, Tisch reserviert, Menü bestellt, aber vom Ausgehen ist keine Rede! Susi und ihr Mann, sonst vom Essen auf Rädern bekocht,  haben mici in den Ofen geschoben, ein weißes Tischtuch aufgetan und wollen Lisitante keinesfalls „hergeben“. Alle drei winken, ohne ihre Gespräche wirklich zu unterbrechen und sind froh, dass wir allein durch Mediasch spazieren.
Irgendwann kommt der Augenblick des Abschieds. Man verspricht, per Telefon in Verbindung zu bleiben. Lisitante wird bis zum Auto begleitet, die hochbetagten, rüstigen Gastgeber winken vor der Gassentür, bis das Auto um die Ecke biegt. Nachbarn verfolgen das Geschehen. Nein, nach Scholten möchte Lisitante jetzt nicht mehr. Schon lange war sie nicht in ihrem Heimatdorf. Auch wenn der junge Pfarrer erzählt hat, dass noch der eine und der andere Bekannte noch lebt, es zieht sie nicht dorthin. In einem einzigen Raum am Dorfrand haben sie alle zusammen gewohnt. Das Häuschen steht längst nicht mehr. Sie möchte nach Hause, in ihre Hermannstädter Wohnung am Fuß der evangelischen Kirche. Reparaturen wären da nötig, das ist ihr wieder bewusst geworden, als sie an die tipptopp renovierte Wohnung ihrer neuen alten Bekannten in Mediasch denkt.

Bei Sonnenschein rollt das Auto den Weg zurück. Lisitante sitzt vorne und beginnt zu singen: „so ein Tag, so wunderschön wie heute…“. Erst genieren wir uns etwas, dann singen wir mit. Was die beiden Freundinnen heute wohl alles miteinander besprochen haben? Es bleibt ihr eigenes Geheimnis.