Das Wort „sozial“ buchstabieren lernen

Gespräch mit Dr. h. c. Susanne Kastner über den Sozialbereich in Rumänien

Susanne Kastner wurde im April in Hermannstadt mit der Honterus-Medaille des Siebenbürgenforums geehrt.
Foto: Holger Wermke

Der „Dachverband zur Unterstützung von Kindern, Alten und Personen in Not“ („Federaţia pentru sprijinirea copiilor, bătrânilor şi persoanelor aflate în nevoi“) wurde 2009 von Vereinen und Stiftungen aus Rumänien gegründet, mit dem Ziel, die Situation sozial benachteiligter Menschen zu verbessern und die rumänische Politik für die Probleme der Bedürftigen zu sensibilisieren. Geleitet wird der Dachverband von Dr. h. c. Susanne Kastner, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags, der Deutsch-Rumänischen Parlamentariergruppe und des Deutsch-Rumänischen Forums e.V. Die Abgeordnete und ehemalige Bundestagsvizepräsidentin engagiert sich seit zwei Jahrzehnten auch im Sozialbereich in Rumänien: Sie hat 1992 die „Rumänien Soforthilfe e.V.“ gegründet und zehn Jahre später ein eigenes Kinderhaus in Lippa/Lipova, Kreis Arad, eröffnet. 

Im Herbst vorigen Jahres hatte Susanne Kastner der rumänischen Regierung einen Forderungskatalog des Dachverbands überreicht, in dem u. a. ein kostendeckender Pflegesatz für private und staatliche Einrichtungen, die in diesem Bereich tätig sind, sowie die Mehrwertsteuerbefreiung für NGO und eine angemessene Entlohnung und Fortbildung der Arbeitskräfte verlangt wurden. Im April dieses Jahres konnte noch ein Schritt in die erwünschte Richtung getan werden, indem Nicolae Ivăşchescu, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Familie und Soziales, auf der Mitgliederversammlung des Dachverbands in Hermannstadt anwesend war, das neue Sozialgesetz vorstellte und mit den Vertretern der Vereine und Stiftungen diskutierte. Im Anschluss zur Sitzung ergab sich für ADZ-Redakteurin Christine Chiriac die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Dr. h. c. Susanne Kastner.

Welches ist Ihr Fazit nach der Sitzung des Dachverbands?

Ich bin froh und dankbar, dass der Staatssekretär Ivăşchescu anwesend war, dass er Rede und Antwort gestanden hat. Nicht alle Antworten waren für uns aus Sicht der NGO hundertprozentig zufriedenstellend, aber es war ein konstruktiver Anfang. Ich fürchte nur, dass wir wegen des Wahljahrs immer wieder dieselbe Diskussion mit unterschiedlichen Verantwortlichen führen werden. 

Sie kennen Rumänien schon seit den neunziger Jahren. Wurde in den zwei Jahrzehnten auch ein Fortschritt im Sozialbereich gemacht, geht es in die gute Richtung oder wird noch zu stark gezögert?

Es ist ungefähr wie bei der Echternacher Springprozession: drei Schritte nach vorne, zwei Schritte nach hinten. Es ist immer der Weg der kleinen Schritte: Es werden Gesetze verabschiedet, die ziemlich lang und kompliziert sind, der Vollzug dieser Gesetze ist jedoch denkbar schwierig, manchmal fehlen eine entsprechende Ausführungsverordnung und die kompetenten Leute. Was die Sozialgesetzgebung anbelangt, ist die Verwirrung in Rumänien noch immer groß. 

Woran liegt das? Wie könnte Rumänien einen großen Schritt nach vorne tun, und keinen zurück?

Bukarest müsste erst einmal das Wort „SOZIAL“ buchstabieren lernen. Wenn sich die Verantwortlichen ein bisschen mehr für die soziale Situation der Menschen hier im Land interessieren würden, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter. Andererseits sind die qualifizierten Arbeitskräfte ein großes Problem: In Rumänien werden Arbeitskräfte ausgebildet, die dann natürlich ins Ausland gehen, weil die Bezahlung und die Anerkennung in diesem Bereich hierzulande so schlecht sind. So sind sie für Rumänien verloren und man fängt mit der Ausbildung und der Qualifizierung wieder von vorne an. Ich weiß nicht, inwiefern Bukarest sich darüber Gedanken macht. 

Das heißt, man müsste zuerst die Politik sensibilisieren und nachher die Gesellschaft?

So lange können wir nicht warten! Die Politik zu sensibilisieren ist schon schwer genug und bleibt eine immerwährende Aufgabe. Ich habe es auch dem Staatssekretär sehr deutlich gesagt: Die alten Menschen, die in Rumänien ihr Lebenswerk vollbracht haben, haben auch in Heimen das Recht auf einen erfüllten Lebensabend. Genauso muss man auf die Kinder, die die Zukunft Rumäniens repräsentieren, ein spezielles Augenmerk richten. 

Vielleicht sollte man hierzulande – nach dem EU-Beitritt – nicht mehr so viel Hilfe „vom Westen“ erwarten, sondern sich selbst helfen lernen?

Die rumänische Regierung bekommt viele Milliarden Euro bis zum Jahr 2013/2015, und doch hat sie – auch im Sozialbereich – äußerst wenig abgerufen. Dann müssen sich die Verantwortlichen auch fragen lassen, warum eigentlich. Man könnte hier sehr viel mehr leisten, auch mit EU-Geldern. Wenn Nichtregierungsorganisationen EU-Projekte machen wollen, scheitern sie oft an der Administration. Wir haben für Lippa auch ein kleines EU-Projekt im Wert von 8000 Euro beantragt: Wir wollen Jugendliche aus Deutschland nach Rumänien bringen, ihnen die Kontaktaufnahme zu rumänischen Jugendlichen ermöglichen, gemeinsam einen Spielplatz bauen. Die Beantragung bedeutet sehr viel Arbeit, aber ob etwas daraus wird, das ist ungewiss.

Was motiviert die Mitglieder des Dachverbands, unter diesen schwierigen Bedingungen im Sozialbereich trotzdem weiterzumachen?

Sie führen seit Jahren Kinder- oder Altenheime in Rumänien und lassen sich natürlich ungern ihre Lebensleistung zerstören. Außerdem sind die Bewohner der Einrichtungen auf die kontinuierliche Unterstützung der NGOs angewiesen. Wir können sie nicht einfach auf die Straße setzen. 

Eine konkrete Frage zu Ihrem Kinderheim in Lippa: Zurzeit wohnt in der „Casa Prietenia“ bereits die zweite Kindergeneration. Wie kommen die jungen Menschen aus der ersten Generation zurecht?

Von zehn Kindern sind drei noch in Rumänien und sieben leben und arbeiten im Ausland – natürlich mehr oder weniger qualifiziert. Darunter ist aber auch ein Zahnarzt, der in Temeswar studiert hat und jetzt in Detmold tätig ist. Ich bedauere sehr, dass so viele junge Menschen ins Ausland gehen. In Rumänien leben eben aus diesem Grund ganz viele Kinder bei der Oma, in Heimen oder ganz allein. Auf Dauer hat diese Situation selbstverständlich auch Nachfolgekosten. Gegenüber dieser Frage muss ich bei den Verantwortlichen in Bukarest immer wieder eine Ignoranz oder Gleichgültigkeit feststellen. 

Die Pateneltern der Kinder aus der „Casa Prietenia“ kommen einmal im Jahr aus Deutschland auf Besuch. Auch Sie sind oft in Rumänien, ob auf Dienstreise oder privat. Welche Seite von Rumänien kommt am besten an bei Touristen, die das Land vielleicht zum zweiten oder dritten Mal besuchen?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Die Pateneltern fanden es fantastisch, Hermannstadt und Kronstadt zu besuchen; letztes Jahr in der Maramuresch waren sie auch vom „ursprünglichen“ Rumänien hell begeistert. Dieses Jahr fahren wir in die Walachei und in die Dobrudscha, für eine der nächsten Reisen haben wir uns auch die Moldau vorgenommen... So sieht und erlebt man Rumänien von unterschiedlichen Seiten. Es macht uns auch nichts aus, einmal in einem ausgedienten Hotel aus der kommunistischen Zeit zu übernachten, denn es ist auch eine Facette von Rumänien. Das Land ist unglaublich vielseitig, man kann hier sehr gut Urlaub machen.

Vielen Dank für das Gespräch!