Der Schmerz der Ungarn (Teil I)

Das Parlament in Budapest Foto: Zoltán Pázmány

Vor hundert Jahren wurde der Vertrag von Trianon unterzeichnet, durch den Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verlor. Das Land sah sich als schuldloses Opfer der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Aber war es das auch?

Wer Ungarn begreifen will, sollte zwei Daten kennen: den 23. Oktober 1956 und den 4. Juni 1920. Beide prägen bis heute das Selbstverständnis der Bürger ebenso wie die Staatsauffassung aller Gremien und Parteien. Aus den damaligen Entscheidungen wurden jene Lehren gezogen, die das heutige Ungarn kennzeichnen, gleich ob diese an der Oberfläche erkennbar sind oder im Wurzelwerk wirken.

Die Bedeutung des 23. Oktobers lässt sich kurz darstellen, der Tag ist noch manchen Zeitzeugen in Erinnerung. Damals brach in Budapest der machtvollste Aufstand aus, der in einem sowjetisch besetzten und kommunistisch regierten Land Europas seit 1945 je loderte. Er wurde an Wagemut und Härte, aber auch an Brutalität vielfach beider Seiten bis zur Wende 1989 nicht mehr übertroffen. Es war kein Aufstand eines ideologischen Lagers gegen eine andere Ideologie. Es war der Aufstand einer Nation gegen einen übermächtigen anderen Staat, in welcher Systemuniform er auch daherkommen mochte.

Folgerichtig lautete der Ruf der Aufständischen nicht "Sowjets raus", sondern "Ruszkik haza" (Russen nach Hause). Er knüpfte an die Erinnerung an den Einmarsch der zaristischen Truppen im Jahre 1849 an, die den Freiheitskampf der Ungarn gegen den Kaiser in Wien härter niederschlugen, als dieser es vermochte. Mit der Entlarvung der Sowjetunion als zeitweiliger Verkleidung des ausgreifenden russischen Imperialismus standen die Ungarn 1956 schon auf der ideengeschichtlichen Siegerseite, wie es sich kurze 35 Jahre später erweisen sollte.

Der führende Kopf des Aufstands war der amtierende Ministerpräsident Imre Nagy. Verzweifelt suchte er die Rettung der Ungarischen Volksrepublik vor der sowjetischen Weltmacht in der Flucht in eine Neutralitätserklärung. Der Kreml ließ ihn dafür mit dem Leben bezahlen. Wie Hunderte andere nach der Niederschlagung festgenommene Ungarn wurde Nagy unter dem Regiment János Kádárs hingerichtet. Es war jener Kádár, dem die westlichen Medien und Kaufleute schon kurz danach mit Schlagworten wie "Gulaschkommunismus" oder "Lustigste Baracke im Ostblock" zu gesamteuropäischem Glanz verhalfen. Die folgenden Generationen hatten aus 1956 drei Folgerungen gezogen: Ungarn hat in der Not keine tatkräftigen Freunde, Neutralität ist keine Überlebensgarantie, den Zusammenhalt im Volk schafft nicht sozialer Wettbewerb, sondern die nationale Konfrontation mit der Außenwelt.

Zum Leben erweckt wurden die Folgerungen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Eine reformkommunistische Führung um Imre Pozsgay, Miklós Németh und Gyula Horn vollzog die feierliche Wiederbestattung der Hingerichteten, gleichzeitig forderte ein antikommunistischer Studentenführer namens Viktor Orbán zum ersten Mal seit 1956 wieder öffentlich den Abzug der sowjetischen Truppen. Und am 23. Oktober 1989 wurde die "Volksrepublik" der Geschichte übergeben, Parlamentspräsident Mátyás Szürös rief die Republik Ungarn aus.

Allen war klar, dass diese Republik nicht lange im Warschauer Pakt verbleiben würde. Statt eines Übergangs in die Neutralität wurde der Wechsel an das andere Ufer angestrebt, wo die Nato und die Europäische Gemeinschaft hoffentlich ihre Hände ausstrecken würden. Um diese Hoffnung sichtbar zu machen, war der weitsichtige Außenpolitiker Horn schon im Dezember 1988 als jemals einziger Vertreter eines Warschauer-Pakt-Staates von der Nato zur Sitzung der Transatlantischen Versammlung eingeladen worden. Zum ersten Mal nach tausend Jahren waren die Ungarn aus freien Stücken, wenn auch aus zwingenden Vernunftgründen, bereit, sich nicht einem einzelnen Staat, sondern einem Netzwerk vieler Staaten anzuschließen. In den Zielen war sich die Öffentlichkeit mit Regierung wie Opposition einig, stellte man sich doch damit nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern - Stand bis Oktober 1989 - auch gegen die Blockrivalen DDR, Tschechoslowakei und Rumänien.

Keinerlei Aussicht auf irgendetwas Erstrebenswertes bot den Ungarn hingegen der 4. Juni 1920. Auf den Friedensvertrag, der im Schloss Grand Trianon bei Paris unterzeichnet wurde, reagierten die Ungarn mit dem Verzweiflungsschrei "Nem, nem, soha" - "Nein, nein, niemals". Niemals wollten die Ungarn sich mit dem abfinden, was die Siegermächte des Ersten Weltkrieges ihnen "an himmelschreiendem Unrecht" angetan hatten. Fortan lautete das morgendliche Schulgebet: "Ich glaube an einen Gott, ich glaube an ein Vaterland, ich glaube an eine göttliche ewige Gerechtigkeit, ich glaube an die Auferstehung Ungarns." Tatsächlich waren die Einschnitte gewaltig. Das historische Staatsgebiet des Königsreichs Ungarn wurde von 282 000 Quadratkilometer auf ein Drittel, auf rund 93.000 Quadratkilometer, beschnitten. Für das Empfinden der Ungarn war der Verlust noch größer, denn sie hatten sich angewöhnt, auf den Landkarten das mit der ungarischen Krone in Personalunion verbundene Kroatien miteinzubeziehen, so dass Großungarn auf 325.411 Quadratkilometer kam.

Das alte Königreich, also ohne Kroatien, hatte eine Bevölkerung von 18,2 Millionen gehabt, das neue Königreich zählte 7,9 Millionen Einwohner. Der heute führende Historiker Ungarns, Ignác Romsics, weist auf den damit erfahrenen Bedeutungsverlust hin: "Aus einem mittelgroßem europäischen Land wurde Ungarn damit zu einem der Kleinstaaten der Region." Es ist die Eigenheit von Gebietsverlusten, dass sie den Nachbarn als Gewinne zugutekommen, was das Nationalgefühl umso mehr schmerzt. Ausgerechnet die von den Magyaren geringgeschätzten Rumänen freuten sich über eine Vergrößerung ihres Staates um 102 000 Quadratkilometer mit mehr als fünf Millionen Einwohnern, darunter 1,6 Millionen ethnischen Ungarn. Die Gründer der Tschechoslowakei erhielten 61 000 Quadratkilometer und 3,5 Millionen Menschen, davon eine Million Magyaren, aus dem ungarischen Königreich zu ihren aus dem österreichischen Kaiserreich erhaltenen Gebieten hinzu. Dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen wurden 20 000 Quadratkilometer Fläche und 1,5 Millionen Menschen zugeschlagen, jeder Dritte war ethnischer Ungar.

Hundert Jahre danach steht nicht die Überheblichkeit der Siegermächte im Vordergrund, die der ungarischen ebenso wenig wie zuvor der deutschen und der österreichischen Delegation eine Chance zu echten Verhandlungen vor dem jeweils feststehenden Schuldspruch zugestanden. Im Mittelpunkt steht auch nicht die verständliche Empörung, oft sogar Wut der Verlierer über ihre Niederlage und Demütigung, denn diese richtete sich nicht gegen Prinzipien und Machtgelüste, sondern zu oft gegen Nachbarn und Nachbarvölker. Am Beginn des zweiten Jahrhunderts nach der "Tragödie von Trianon" sollte überlegt werden, wo der Zustand seinen Anfang genommen haben könnte, den Romsics für den Zeitpunkt der Aufteilung als "Schwäche und Isolation Ungarns" beschreibt. Für die Gegenwart ist ebenso in Betracht zu ziehen, wie Ungarn seine geographische und geopolitische Neugestaltung aufgearbeitet hat.

Politische Propaganda pflegt Umbrüche in den Lebensumständen der Bevölkerung aus der jüngsten Vergangenheit herzuleiten. 1920 wurden die Monate seit dem Kriegsende und die Kriegsjahre zur Erklärung genutzt; keinesfalls hatten die gerade Regierenden selbst Fehler gemacht. Am 21. März 1920 - nur Monate vor der Vertragsunterzeichnung in Trianon - war das neue Königreich Ungarn entstanden, das jedoch keinen König vorzuweisen hatte. Dessen Platz nahm ein Reichsverweser ein: Miklós Horthy, zuvor Admiral der österreichisch-ungarischen Marine. Da verstand es sich von selbst, neben den über Budapest bis Györ durch ganz Ungarn durchmarschierenden rumänischen und den zielsicher den Norden abschneidenden tschechischen Truppen auch der im vorherigen Jahr 133 Tage lang tobenden Räterepublik eine Mitschuld an der Tragödie zu geben. Der roten Terrorherrschaft unter Führung des mit Lenin verbundenen Béla Kun ging es mindestens so sehr um die Verbreitung von Schrecken in der eigenen Bevölkerung wie um die Abwehr der Eindringlinge.

Der Räterepublik war eine linksliberale "Astern-Revolution" Ende Oktober 1918 vorausgegangen. Am 16. November verkündete der noch von König Karl IV., in Österreich Kaiser Karl I., ernannte Regierungschef Graf Mihály Károlyi die Trennung Ungarns von der Österreich-Ungarischen Monarchie, der "k. und k. Doppelmonarchie", und die Errichtung einer "Volksrepublik Ungarn". Für Károlyi sprachen aus der Sicht seiner Gefolgschaft, die von der Bürgerlichen Radikalen Partei bis zu den Sozialdemokraten reichte, seine vermeintlich guten Verbindungen zur Elite der westeuropäischen Großmächte.

Sobald sich dies als Illusion entpuppte, lösten sich die außenpolitischen Zielsetzungen seiner Regierung in Nichts auf. Das Kunststück, mit zwei Zugeständnissen die territoriale Einheit des Landes zu erhalten, misslang. Zum einen sollte im "neuen Ungarn" die Unterscheidung von Nation und Nationalitäten, also zwischen Magyaren und allen ethnischen Minderheiten, in eine Gleichberechtigung münden, wovon der Verbleib "aller Völker in der alten Schicksalsgemeinschaft" erwartet wurde. Zum anderen wollte man "die neu entstandenen Nationalstaaten der Ukrainer, Polen, Tschechen, Südslawen und Österreicher anerkennen" und sie "davon überzeugen, . . . dass das unabhängige und demokratische Ungarn . . . bereit ist, möglichst innige wirtschaftliche und politische Bündnisse einzugehen", in der Erwartung, dass diese Staaten "unsere nicht minder berechtigten Interessen achten". Doch die Zusicherung "autonomer Entwicklungen" im zehnten der vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson erfüllte in Ungarn wie anderswo im Osten Europas die Hoffnungen der einen und wurde zur Enttäuschung der anderen Seite. Selbstbestimmung war die Losung aller Beteiligten, doch in einem Gebiet mit aufs engste verwobenen Völkerschaften stieß sich das Eigeninteresse jeder Bevölkerungsgruppe an dem der umliegenden Gruppen.

(Fortsetzung folgt)

Dieser Artikel ist am 02.06.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Der Autor stellte ihn der Banater Zeitung freundlicherweise zur Vefügung.

Georg Paul Hefty war zwischen 1981 – 2016 Verantwortlicher Redakteur der politischen Redaktion, Zeitgeschehen der F.A.Z.