Der vorreformatorische Altar der Hermannstädter Stadtpfarrkirche

Seine Bedeutung und sein Platz in der Kirche

Die restaurierten Tafeln (Foto 1985)

Die Festtagsseite des Altars vor der Restaurierung (Foto 1982)

Die provisorische Aufstellung der Retabel im Chor der Kirche 1985-1987

Die noch vorhandenen Tafeln vorreformatorischer, spätmittelalterlicher Tafelmalerei in Siebenbürgen haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder das Interesse von Kunsthistorikern erregt. Auf Betreiben des Direktors der staatlichen Denkmalpflege Bukarest Vasile Drăguţ hat es im neunten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts in Kronstadt unter der Leitung von Frau Gisela Richter eine kirchliche Altarrestaurierungswerkstatt gegeben, in der über 20 Altäre restauriert worden sind. Die Dokumentation dieser Arbeiten ist 1992 in dem Buch von Gisela und Otmar Richter „Siebenbürgische Altäre“ (Thaur bei Innsbruck, herausgegeben von Christoph Machat) veröffentlicht worden. Eine jüngere Forschergeneration, zu der unter anderen Emese Sarkadi Nagy, Ciprian Firea, Hans-Otto Drotloff, Ioan Albu, Dana Jenei u. a. zählen, hat sich erneut diesem Themenkreis zugewendet und ist zu interessanten, weiterführenden Ergebnissen gekommen.
In diesem Kontext soll hier auf den vorreformatorischen Altar in der Hermannstädter Stadtpfarrkirche näher eingegangen werden. Wie sich die Beurteilung dieses Altars in den beiden letzten Jahrzehnten geändert hat, kann an folgenden beiden Zitaten erkannt werden.

Die Beurteilung der Restauratorin Gisela Richter erkennt in diesem Kunstwerk keinen besonderen kunsthistorischen Wert zu: „Richtungweisend leuchten die bekannten Dürerblätter auf, vermögen es aber nicht, den Nachahmungen den „unnachahmlichen“ Odem einzuhauchen. ... In diesem verlorenen Spiel um den Gleichklang von Inhalt und Form versucht der Maler insofern aus der Not eine Tugend zu machen, als er den architektonischen Hintergründen, der Größe des Altars folgend, in unbegrenzter Grauskala eine schaurige „Leere“ einräumt“ („Siebenbürgische Altäre“ 1992, S. 228). Ganz anders der Klausenburger Kunsthistoriker Ciprian Firea, der diesen Altar als „eines der wichtigsten spätmittelalterlichen Kunstwerke Siebenbürgens“ bezeichnet (Ciprian Firea, „The Great Altarpiece of the Passion from Sibiu and its Painters“, Brukenthal, Acta Musei VII. 2, Sibiu 2012, S. 229-246).

Da im Zuge der laufenden Restaurierungsarbeiten an der Stadtpfarrkirche auch die Gestaltung des Innenraums in Angriff genommen werden soll, gewinnt die Frage nach der Aufstellung dieses Altars im Raum der Kirche an Aktualität. Dabei ist zu berücksichtigen, dass – außer seinem kunsthistorischen Wert – der Altar ein interessantes Abbild der verschiedenen geistlichen, kulturellen und künstlerischen Entwicklungsphasen in der sächsischen Geschichte darstellt.
Ende 1983 wurden der damalige Hermannstädter Stadtpfarrer Wolfgang Rehner und ich, als damaliger Kirchenkurator in die Neugasse zum Krankenbett des Ludwig Andreas Dengel, eines in der Stadt bekannten Markensammlers, gerufen, der uns ein Sparbuch übergab, mit dem Wunsch, dieses Geld für die Restaurierung des vorreformatorischen Altars, der damals in der Ferula der Stadtpfarrkirche auf dem Sockel des Glockenturms aufbewahrt wurde, einzusetzen.

Der Spender ist im Januar 1984 gestorben und die Kirchenleitung war anschließend bemüht, seinen Wunsch umzusetzen. Nach dem Herunterholen des Altars von seinem Platz in der Ferula wurden das Hauptbild und die Flügel in die Altarrestaurierungswerkstatt in Kronstadt gebracht. Dort sind diese Teile des Altars unter der Leitung und dem entscheidenden Mitwirken von Gisela Richter restauriert worden. Es war bekannt, dass dieses Kunstwerk verschiedene Entwicklungsphasen durchgemacht hatte und seitens des Eigentümers wurde die Auflage gemacht, dass nach der Restaurierung Teile von allen drei Phasen seiner Entwicklung erhalten sein sollten. So haben die Restauratoren, die die letzte Übermalung vom Anfang des 18. Jahrhunderts für gänzlich wertlos hielten, auch von dieser Phase einige Flächen, die nicht wertvolle Teile verdeckten, erhalten, sodass heute das Kunstwerk sowohl über die geistliche Orientierung als auch über die künstlerische Qualität der jeweiligen Entstehungsepoche Aufschluss gibt.

Nach Abschluss der Restaurierungsarbeiten wurden die Tafeln nach Hermannstadt gebracht und vor den neugotischen Altar von 1855, zusammen mit der nicht restaurierten Predella, aufgestellt. Als man 1987 beschloss, auch die Predella zu restaurieren, wurden die restaurierten Tafeln heruntergenommen und auf der Ostwand des südlichen Querschiffs befestigt. Nachdem die Übermalung der Predella von der Restauratorin Ursula Brandsch entfernt worden war und der vorreformatorische Zustand von 1519 gesichert werden konnte, wurde die Predella im nördlichen Querschiff aufgestellt. Zu Beginn des vorigen Jahrzehnts wurden die einzelnen Teile des Altars, wie im Artikel von Firea beschrieben, an den Wänden befestigt: „Erst vor Kurzem wurde die Retabel in Teile zerlegt, die sich an verschiedenen Orten in der Kirche befinden: das Mittelbild (325 x 220 cm) wurde an der Ostwand des südlichen Querschiffs befestigt, die Predella (130 x 500 cm) an der Nordwand des nördlichen Querschiffs, und die Flügel (ein Flügel setzt sich zusammen aus zwei übereinanderliegenden Tafeln 320 x 110 cm) wurden an der Ostwand (vier Szenen) und der Westwand (vier Szenen) des gleichen nördlichen Querschiffs angebracht. Eindeutig kann diese Art der Präsentation die ursprüngliche Einheit der Teile schwerlich erkennen lassen.“ Es ist hier zu erwähnen, dass im September 2004 eine schriftliche Eingabe an die Kirchenleitung gemacht worden ist, die diese Aufstellung der Altarteile beanstandet.

In seiner ursprünglichen Form, in der Übergangsform von Spätgotik zur Renaissance, hatte der Altar ein Mittelbild, das ihn als Heilig-Kreuz-Altar ausweist, zwei feste und zwei bewegliche Flügel, eine Predella und eine halbkreisförmige Lünette. Zwei Renaissancepilaster, die sich heute in der Nationalgalerie in Budapest befinden, haben mit großer Wahrscheinlichkeit den Altar seitlich flankiert (Firea, S. 230). Durch die Restaurierung sind auf der Predella das Entstehungsjahr 1519 und zwei Wappen freigelegt worden, das eine von Johann Lulay, der 1507-1521 Hermannstädter Königsrichter war, das andere konnte noch nicht einer Person zugeordnet werden, möglicherweise handelt es sich um das Wappen von Petrus Wolf (Farkas, Lupinus), der zu der Zeit Bürgermeister in Hermannstadt war. Schon Ludwig Reissenberger hat 1884 festgestellt, dass der Maler der vorreformatorischen Phase bei den Passionstafeln Vorlagen von Albrecht Dürer und Albrecht Altdorfer benutzt hat, und zwar Holzschnitte mit folgenden Themen: Abendmahl, Christus am Ölberg, Gefangennahme, Dornenkrönung, Geißelung, Christus vor Kaiphas, Christi Schaustellung und Verurteilung. Dabei ist die Nähe zur sogenannten Donauschule gut erkennbar.

Bei einer genaueren Untersuchung der Tafel Christus vor Kaiphas ist es dem Kunsthistoriker Firea gelungen, auf einem Wappenschild mit drei kleineren Schilden, das in Analogie zu andern Darstellungen das Wappen der Maler und Schildermacher ist, ein Monogramm PS zu identifizieren (Firea, S. 233). In Urkunden aus der Zeit der Entstehung des Altars sind Zahlungen des Hermannstädter Magistrats an einen Symon Pictor erhalten. Durch diese Feststellung kommt zu dem bisher bekannten Altarmaler dieser Zeit Vincencius Cibiniensis, der an den Altären von Seiden, Heltau, Meschen identifiziert werden konnte, ein weiterer Name. Simon könnte um 1485 geboren sein, seine Ausbildung zu Beginn des 16. Jahrhunderts im süddeutschen Raum in der Donauschule gemacht, sich um 1515 in Hermannstadt niedergelassen haben, um 1519 den Auftrag für den großen Altar zu übernehmen. Aus Teilungsprotokollen seines Nachlasses ist ersichtlich, dass er um 1545 gestorben ist.

1545, im Zuge der Durchführung der Reformation, wurde der Altar entsprechend der neuen geistlichen Orientierung umgestaltet. Statt der Heiligen unter dem Kreuz des Hauptbildes, deren Darstellungen radikal durch Abschaben entfernt wurden, sind Bibelzitate getreten. Erhalten geblieben sind die vertieften Randlinien der Heiligenscheine und die Hände der Maria Magdalena auf dem Kreuzesstamm. Die in Goldschrift gefassten Texte auf dunkelblauem Untergrund sind links aus Mathäus 11, 28 („Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“) und rechts aus Jesaja 53, 11 („Mein Knecht, der Gerechte, der vielen Gerechtigkeit machen „wird“; denn er trägt ihre Sünden“). So ist hier sehr klar die reformatorische Umstellung vom Bild und der Heiligenverehrung zum Wort und seiner Verkündigung zu erkennen.

Die vier Buchstaben MATT über dem linken Spruchfeld deuten auf Matthäus hin, können aber auch ein Hinweis auf Matthias Ramser sein, den Pfarrer, der die Reformation in Hermannstadt durchgeführt hat (Firea, S. 235 f.). In der rechten Ecke auf dunkelblauem Grund finden sich die Buchstaben B. M. Untersucht man die Rechnungen der Stadt und andere Urkunden über Malerwerkstätten in Hermannstadt und Schäßburg, so stößt man immer wieder auf den Maler Benedictus, in den Urkunden als Benedictus Pictor oder Moler geführt. Es hat den Anschein, dass dieser Künstler an verschiedenen Orten die Umgestaltung der Altäre im Sinne der Reformation vorgenommen hat, die in Siebenbürgen von der jeweiligen Obrigkeit „sorgfältig koordiniert“ und nicht als radikaler Bildersturm durchgeführt worden ist (Firea, S. 236 f.).

Die dritte Phase in der Umgestaltung dieses Altars hat 1701 stattgefunden, als durch den Maler Jeremias Stranovius, im Auftrag des Kaufmanns Thomas Schemelius, große Teile des Altars übermalt wurden. Auf dem Hauptbild „verlor man die reformatorische Ehrfurcht vor dem geschriebenen Wort und auch jede Hemmung davor, das Kreuzigungsthema in seicht-frömmelnder Weise mittels zweier Gestalten zu verunglimpfen, denen man absolut keinen Bezug zu Maria und Johannes anmerken konnte. Das gleiche geschah auf der Festtagsseite der Flügel, die in einem kaum zu überbietenden Aufgebot an theatralischen Nichtigkeiten mit einer Auswahl des Marien- und Passionszyklusses übermalt wurde...“ (Gisela Richter, S. 226). Sicher ist, bzw. war, der evidente Qualitätsunterschied zu den vorigen Entstehungsphasen auf den ersten Blick erkennbar.

Möglicherweise ist er Abbild und Ausdruck von gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen, die sich im 17. Jahrhundert, dem „dunkeln Jahrhundert der sächsischen Geschichte“ (Maja Philippi), herausgebildet hatten und sich in mangelnder Rechtskultur, Rechtlosigkeit, Sittenverfall, kulturellem Niedergang und Beliebigkeit ausdrückte. Man ist versucht, mutatis mutandis, hier eine Parallele zu dem 1703 stattgefundenen Prozess gegen Sachs von Harteneck zu ziehen, der, auf einer anderen Ebene, kein Ruhmesblatt für die Hermannstädter Obrigkeit jener Zeit darstellt.
Angesichts der wichtigen, durch ihre Wappen gekennzeichneten Stifter und der Größe des Altars stellt sich die Frage seiner ursprünglichen Aufstellung im Raum der Kirche. Da die Hermannstädter Stadtpfarrkirche eine Marienkirche ist, wird er nicht der Hauptaltar gewesen sein, der im Chor der Kirche seinen Platz hatte. Bis zur Umgestaltung des Innenraums 1853-55, wurde der Chor vom Kirchenraum durch einen Lettner getrennt. Es gibt gute Argumente dafür, dass dieser Altar inmitten der Lettnerfront stand und so der Altar des weltlichen Kirchenvolkes war (Firea S. 231).

Der Altar wurde 1720 aus der Hermannstädter Stadtpfarrkirche auf Befehl des kommandierenden Generals Graf von Tige in das den Ursulinerinnen zugewiesene Kloster verlegt. Später stand er bis zu deren Abriss 1868 in der Elisabethkirche und wurde dann in die Ferula gebracht, wo er bis Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts aufbewahrt worden ist.
Die damals durchgeführte Restaurierung des Altars hat dazu beigetragen, dass sowohl sein künstlerischer Wert als auch seine kulturgeschichtliche Aussage wesentlich aufgewertet wurden. Wenn man an seine Neuaufstellung in dem restaurierten Innenraum der Hermannstädter Stadtpfarrkirche denkt, so sollte seiner heutigen, durch die Restaurierung und wissenschaftliche Untersuchungen zugenommenen Bedeutung Rechnung getragen werden. Dabei können verschiedene Varianten eines neuen Standorts ins Auge gefasst werden. Eines sollte jedoch vermieden werden, das Gesamtkunstwerk zu zerstückeln und seine Bestandteile an verschiedenen Orten der Kirche anzubringen, wie das bis zum Beginn der nun laufenden Arbeiten der Fall war.