Die Anderen sind auch wir

Podiumsgespräch von Mehrheit und Minderheiten in Hermannstadt hofft auf Fortsetzung

„Die Erinnerung ist nicht immer der beste Ratgeber!“, warf Nadia Badrus (links) am Diskussionsabend auf Einladung des Wahlbündnisses USR/PLUS in der ASTRA-Biblio-thek Hermannstadt ein. In der Mitte Péter Eckstein-Kovács mit verschränkten Armen, rechts Dr. Paul-Jürgen Porr Foto: Klaus Philippi

„Dass Rumänien Klaus Johannis zum Staatspräsidenten gewählt hat, heißt noch lange nicht, dass man Aufschreie wie jene um den Fall Ditrău unter den Tisch kehren kann. Noch immer verteidigen Menschen die Ansicht, von fremden Händen gebackenes Brot sei radikal inakzeptabel“, warnte Radu Vancu (Jahrgang 1978) am Donnerstag, dem 27. Februar, im Jugendstil-Festsaal der ASTRA-Bibliothek Hermannstadt/Sibiu. Zwei pro-europäische Wortführer der nationalen Mehrheitsgesellschaft und fünf Stellvertretende ethnischer Minderheiten Rumäniens äußerten sich auf Wunsch der Lokalfilialen der Union Rettet Rumänien (USR) und der Partei für Freiheit, Einheit und Solidarität (PLUS) öffentlich zur Losung „Și ceilalți suntem tot noi. Din Sibiu către o Europă a diversității“ (Die Anderen sind auch wir. Aus Hermannstadt für ein Europa der Vielfalt). Schriftsteller Radu Vancu war als Moderator eingeladen worden. Auf halber Strecke der abendlichen Begegnung griff er in die Zitat-Kiste von Umberto Eco: „Die Sprache Europas ist die Übersetzung!“

Ein Ausruf, der sowohl Erfolgsgewissheit als auch bangende Erwartung anschlägt. Wie ist er aktuell in Rumänien zu lesen, das im Westen als letzter Hoffnungsträger des zunehmend illiberalen Ostens gehandelt wird? Möchte Rumänien tatsächlich mit dem Bild übereinstimmen, das gutgesinnte Sprachrohre der Europäischen Union ihm von außen aufsetzen wollen? Viele Staatsangehörige beantworten die Frage mit sonnenklarem Ja und behaupten sich gerne als Anhänger der Meinung, die Haltung der Mehrheit wäre ohnehin pro-europäisch und bedürfe folglich keiner Pflege. Die ‘Anderen‘ mögen zwar mit von der Partie sein, doch fehlt ihnen die Stärke zu entscheidender Beteiligung am Diskurs der Allgemeinheit. Wer sich auf sicherer Seite ausgewogener Kräfteverhältnisse fühlt, wurde im November 2019 auf das Spielfeld der Realität zurückgeholt. Wie und warum brachte Ex-Premierministerin Viorica Dăncilă, Wahloption der geschmähten Sozialdemokratischen Partei (PSD), den Einzug in die Stichwahl mit ihrem erklärten Gegner Klaus Johannis (Nationalliberale Partei, PNL) fertig? Nach europäischem Gutdünken hätte eigentlich USR-Vorsitzender Dan Barna die Rolle des Herausforderers im finalen Wahlgang verdient gehabt.

Klaus Johannis hat gewonnen, Rumänien aber noch nicht. Trotz Scheitern von Dăncilă muss Barna sich eingestehen, den vorzeitig gewonnen geglaubten Anschluss nicht wiedergefunden zu haben. Fremdenfeindlichkeit intellektuell unbedarfter Massen ist hierzulande stärker als reflektierte Weltoffenheit von Eliten. Medienberichterstattungen um den Eklat von Ditrău illustrieren nicht nur das Geschehen vor Ort, sondern auch den Umgang der Mehrheitsgesellschaft, deren Nachrichtenkanäle die angebliche kulturelle Unpässlichkeit der ungarischen Minderheit verurteilen. Warnungen vor der Absicht auf Abbürsten eigener Rückständigkeit im Hof des Nachbarn verstecken sich wie Nadeln im Heu.

Traditionsbewusstsein ist erlaubt und darf nicht als Altersmerkmal verallgemeinert werden, obwohl in vorderster Reihe von Fernsehen und Presse meist das Bild junger Intellektueller genährt wird, die sich der Bevormundung durch großelterliche Generationen nicht entwinden können. Dabei wird leicht verdrängt, dass auch einzelne Ältere in kritischer Selbsthinterfragung geübt sind und nicht befreit hoffen können, ob ihre ethnischen Erben auch wirklich ausschließlich progressive Weltanschauung leben werden.

Wer behauptet, Probleme einer Mehrheit und jene von Minderheiten seien verschieden, irrt. Beiderseits warten Keime von Nationalismus heimlich auf Wässerung. Ethnisches Schubladen-Denken und herabsetzende Bezeichnung ‘der Anderen‘ ermöglichen es nicht, ein Miteinander zu schaffen und zu stärken, dem kein Skandal etwas anhaben können soll. Péter Eckstein-Kovács (Jahrgang 1956) hatte am 27. Februar in Hermannstadt nicht ein einziges gutes Wort für die mediale Begleitung der Streitsache von Ditrău übrig. „Meiner Meinung nach ist die Vokabel ‘Migranten‘ verächtlich. Man sollte stattdessen von Flüchtlingen sprechen“, so der Rechtsanwalt aus ungarisch-jüdischem Elternhaus, der Juli 2018 aus Protest gegen Regierungsbeteiligung, die gar den Preis der Missachtung von Rechtsstaatlichkeit forderte, seine Mitgliedschaft in der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien (UDMR) aufkündigte. Von der kompromissbereiten UDMR auf Korruption als Grundeigenschaft aller Minderheitsungarn zu schließen, ist demnach unfair.

In der Politik werden Menschen gemacht – fragt sich allerdings, was für welche. Ramez Hamideh, Palästinenser aus Damaskus, lebt seit 1998 in Hermannstadt und ist seit 2002 rumänischer Staatsbürger. Er fühlt sich „in Syrien fremd, in Hermannstadt zuhause“ und leidet unter den vom Establishment gezüchteten Bildern des Nahen und Mittleren Ostens: „Nein, in Syrien gibt es keinen Bürgerkrieg! Bitte nicht den Islam für eine Phobie halten. Dass der Islam sich über das Töten von Menschen definiert, stimmt nicht! Aber auch hier in Rumänien mag niemand glauben, dass Araber Christen sein können. Meine Frau wurde von ihren Eltern noch vor unserer Hochzeit bestraft, weil ich mich als Araber vorgestellt hatte.“

Nicoleta Degeratu, Studierende der Fakultät für Ingenieurswissenschaften an der Lucian-Blaga-Universität (ULBS) und stellvertretende Vorsitzende der Organisation Junger Roma in Hermannstadt (OTRS), musste sich im Festsaal der ASTRA-Bibliothek derbe Kritik gefallen lassen, die ein Rentner artikulierte. Als Schulleiter habe er jahrelang große Stücke auf einen Klassenbesten gehalten, der Rom war, aber eines Tages bei ihm im Büro erschien und dem Direktor verkündete, ab sofort auf den Schulbesuch verzichten zu wollen und müssen, da er verheiratet sei und Frau und Kinder ihn dringend bräuchten. „Ich blieb in dem Augenblick fast sprachlos und hatte mit all dem gar nicht gerechnet. Schlussendlich musste ich erfahren, dass es mit seiner Vernunft aus kulturellen Gründen nicht weit her war. Aber genau deswegen sage ich es hier und heute Ihnen als Vertreterin der Roma: Wenn Bildung innerhalb Ihrer Ethnie keinen höheren Grundwert zugemessen bekommt, wird sich auch das Ansehen der Roma in Rumänien nicht bessern!“

Die Wortmeldung des ehemaligen Schulleiters war hart, aber fair. Nicoleta Degeratu antwortete ihm mit großer Freundlichkeit und erntete dafür Publikumsbeifall. Obwohl sie rechtfertigend anführte, dass die Roma in Rumänien über Jahrhunderte Sklaven gewesen waren, sprach kein nachtragender Hass aus ihrer Reaktion. Vielmehr bestätigte sie das Dilemma der Roma, dessen Lösung auch vom Umfeld und nicht allein von der geächteten Ethnie selbst abhängt. Journalist Norbert Mappes-Niediek (Jahrgang 1953), freier Korrespondent für Österreich und Südosteuropa seit 1992, hat 2012 sein Buch „Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt“ veröffentlicht (Ch. Links Verlag, Berlin), das eine plausible These aufstellt: „Die Roma sind wahrlich nicht die Wurzel der Probleme Europas. Sie könnten aber der Anstoß zur Lösung sein.“

Dr. Paul-Jürgen Porr (Jahrgang 1951), Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) seit 2013, gab freimütig an, sich „in Rumänien niemals fremd“ gefühlt zu haben. Vom Obmann des DFDR ist auch der Leitsatz bekannt, dass es „ein DFDR geben wird, solange es in Rumänien eine deutsche Minderheit geben wird“. Dr. Porr sprach ihn auf der Podiumsveranstaltung nicht aus. Aber in etwa so könnte Selbstbeschreibung einer jeden einzelnen Vertretungsorganisation oder -Partei der in Rumänien lebenden Minderheiten lauten. Erhebungen der Volkszählung im Jahr 2002 bestätigten die Existenz von neunzehn nationalen Minderheiten auf rumänischem Staatsgebiet.

Soziologin Nadia Badrus (Jahrgang 1951), Mitglied der Jüdischen Gemeinschaft Hermannstadts, wuchs in Bukarest auf. „Erst als Erwachsene in Hermannstadt habe ich mein Anderssein erwähnen können und die Freiheit kennengelernt, über meine Herkunft reden zu dürfen (…) Die Millionen Rumänen, die heute im Ausland leben, machen dort die direkte Erfahrung des Fremdseins (…) Und die Erinnerung ist nicht immer der beste Ratgeber!“

Was natürlich nicht dazu verleiten darf, unvorteilhafte Erinnerungen mit Stillschweigen belegen zu wollen. Ohne die Bereitschaft zu schmerzender Selbsthinterfragung kann Gedächtniskultur sich nicht zu keimfreiem Lernmittel für demokratische Kritikfähigkeit entwickeln. Leider fiel das Stichwort der Erinnerung erst kurz vor Schluss der öffentlichen Podiumsveranstaltung, die aus genau diesem Grund auch nicht zu ernster Debatte werden konnte. Denn im späten Augenblick, als Zuhörer und Referenten gerne begonnen hätten, miteinander über Erinnerung zu sprechen, war der Saft schon raus.

In Rumänien kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es fast ge-nauso viele unterschiedliche Gedächtniskulturen wie Mehrheiten und Minderheiten gibt. Viele kochen ihr eigenes Süppchen nach altüberlieferten Rezepten und sind bisweilen sogar stolz darauf, sich selbst den Anspruch des historisch größten Leides zuzurechnen und ihn all den ‘Anderen‘ zu verweigern. Persönliche bis kollektive Identitäten von heute mit einem empfindlichen Gemisch aus Berührungsangst und elitärem Geltungsbedürfnis zu speisen, das der Vergangenheit angehört, ist eine kontraproduktive Strategie, die den Weg der Allgemeinheit in die Zukunft erheblich behindert. Um es mit Umberto Eco und seinem Roman „Der Name der Rose“ (1980) zu sagen: Jede Gemeinschaft, ganz gleich ob Mehrheit oder Minderheit, hat sowohl ihren Guglielmo von Baskerville als auch ihren Jorge von Burgos.

Wem von beiden vertraut man das Zepter kommender Tage an? Ciprian Ștefan, Direktor der ASTRA-Museen Hermannstadt, hält sich selbst für einen „unheilbaren Optimisten“ und ist „davon überzeugt, dass die Entwicklung nicht aufgehalten werden kann, und seien einige auch noch so konservativ.“