Die Antworten des Theaters auf aktuelle Herausforderungen

Anna Maria Krassnigg, künstlerische Leiterin der „Wortwiege“: Wir werden noch mehr darauf schauen müssen, was die Leute wirklich wollen.“

Anna Maria Krassnigg Foto: Christian Mair

Schon im Juli wurden Anna Maria Krassnigg und Christian Mair, die Leiter des Wiener Theater- und Filmvereins „Wortwiege“, von dem österreichischen Kulturforum Bukarest eingeladen, eine Präsentation von „Spotting Orlando“, der ersten Stufe des internationalen Projekts „Sea Change“ im Mediensaal des Nationaltheaters in Bukarest abzuhalten. Die Projekte von „Wortwiege“ thematisieren europäische Mythen und zielen auf vielfältige Veränderungen ab. Über die Projekte des österreichischen Labels und mehrere Aufschlüsse zur gegenwärtigen Theaterszene und deren Herausforderungen erfahren wir von Anna Maria Krassnigg, künstlerische Leiterin der „Wortwiege“, Theaterregisseurin und Professorin am Max Reinhardt Seminar in Wien durch ein Gespräch mit ADZ-Redakteurin Irina Radu.

Wie ist Ihr Projekt Wortwiege entstanden?

Seit ich Theater mache, habe ich sowohl am Staatstheater gearbeitet als auch frei. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich hat man am Staatstheater völlig andere Strukturen, ein großes Budget und so weiter. Auf der anderen Seite hat man bei jedem System starke strukturelle Verengungen. Man kann als Regisseur beispielsweise nicht den Spielplan des Hauses mitgestalten, denn das macht der Intendant, man hat keine freie Wahl seines Ensembles. Die Nachteile des freien Theathers sind offensichtlich: Man muss hart für sein Budget kämpfen. Aber der Vorteil ist, dass es eben frei ist, und diese Freiheit hat mich immer alternativ dazu gebracht, auch frei zu produzieren.

Ich habe in meinem Leben beides gemacht, staatliche und freie Arbeit. Ich brauche das eine zur Erholung vom anderen. Ich hatte Lust und auch die Möglichkeit, eine starke freie Struktur nach meinen Kriterien aufzubauen. Und, ja, das hat geklappt. Der deutschsprachige Raum hat eine sehr fixe staatliche Struktur, aber die ist nicht stark im Bereich dessen, was man in Frankreich „Compagnie“ nennt. Denkt man im deutschsprachigen Raum an freie Gruppen, dann denkt man gleichzeitig an Prekariat.

Die großen anglo-amerikanischen oder französischen Compagnien, aber auch jene aus den Benelux-Ländern, arbeiten frei. Da bricht der Reichtum nicht aus, aber es sind doch solide Arbeitsfelder, wenn man vernünftig finanziert ist.

Es ist uns gelungen, „Wortwiege“ als eine freie Compagnie aufzubauen, die funktioniert wie etwa größere Compagnien im französischen Bereich und die zum Teil auch mit verschiedenen staatlichen Organisationen zusammenarbeitet. „Wortwiege“ wird vom Land Niederösterreich finanziert.

Welche Ziele hat die Compagnie „Wortwiege“?

Ich bin einerseits eine große Unterstützerin und Begeisterte der zeitgenössischen Dramatik, überhaupt zeitgenössischer Autorinnen und Autoren. Wir sind spezialisiert auf Autorentheater. Wir haben zentral diese Leidenschaft: Autoren zu fördern bzw. auch wiederzuentdecken.

Eine weitere Leidenschaft ist es, interessante Stoffe, welche in der Literaturgeschichte verloren gegangen, sozusagen „aus dem Kanon gerutscht sind“, wiederzuentdecken.

Es gibt beispielsweise eine ganz große Klassikerin der deutschen Sprache, eine Österreicherin, die ihre ersten großen Erfolge in Berlin hatte, nämlich Marie von Ebner-Eschenbach. Eine echte Klassikerin – zeitlich zwischen Franz Grillparzer und Arthur Schnitzler. Ebner-Eschenbach, obwohl selbst eine Adelige, war extrem interessiert an den  Problemen der Frauen aus der bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Gesellschaft, auch an Außenseiterinnen. Diese Klassikerin kennt man heute nur mehr, weil ein paar ihrer  Geschichten in der Schule gelesen werden, aber in Wahrheit hat sie bedeutende feministische narrative Texte geschrieben.
Wir haben ihre Texte in gewisser Weise wieder ausgegraben und sie in zeitgenössischen Deutungen gespielt und es kam sehr stark an.

Bei der Auswahl eines Veranstaltungsortes berücksichtigen Sie sowohl seine architektonische Geschichte als auch seine historischen gemeinschaftlichen Wirkungen. Sie haben den Standort der Kasematten in Wiener Neustadt als europäischen Theater-Hot-spot ausgesucht…

Im Grunde sind wir, wenn wir über die Kasematten sprechen, eigentlich schon sehr nah an unserem eingangs erwähnten Projekt „Sea Change“, weil wir durch das Land Niederösterreich und die Stadt Wiener Neustadt die Gelegenheit bekommen haben, unsere Visionen sozusagen thematisch und geographisch zu vergrößern. Nach wie vor gibt es also das Bekenntnis zum Autorentheater sowie zu einem Theater, das auf Augenhöhe mit dem Publikum ist, das Austausch sucht. Es geht um einen Standort, der groß genug ist und in gewisser Weise eine historische Prägung hat, um ein europäisches Theater zu lancieren. Ein Ort, der übrigens auch für den Nachwuchs offen sein soll.

Mich hat es immer interessiert, an „verwundeten Orten“ zu spielen. Damit meine ich architektonisch interessante Orte, die eine leidvolle Geschichte haben. Die historischen Kasematten, ein Renaissance-Wehrgebäude, waren ursprünglich eine Anlage zur Lagerung für Kanonen, Pulver usw. Wiener Neustadt war sehr wehrhaft, die Stadt hat das nahe Wien vor mehreren kriegerischen Invasionen geschützt und das ist im historischen Bewusstsein verankert. Dieses Gebäude hat dennoch eine friedliche Wirkung, weil es bis zum Zweiten Weltkrieg ein Schutz für die Menschen der Stadt war. Es hat eine architektonisch wunderschöne Gewölbestruktur, früher unter der Erde, mittlerweile gehoben durch die Ausgrabungen.

Es sind drei lange, historische Säle und ein komplett zeitgenössischer Neubau, den übrigens ein slowenisches Architekturbüro hervorragend gestaltet hat. Dieser neue Saal in Verbindung mit den verwundeten historischen Räumen passt sehr gut zu unserer Auffassung von Theater.

Wie bei „Sea Change“ machen wir hier zeitgenössisches Theater oder interkreative Formate, wie beispielsweise eben „Orlando Trip“ - unser künstlerischer Beitrag zum internationalen Gesamtprojekt „Sea Change“ - in den zeitgenössischen oder historischen Räumen. Die Bespielung der Kasematten in Wiener Neustadt ist ein langfristiges Zukunftsprojekt, das ab 2022 erfreulicher Weise um 60 Prozent stärker gefördert wird. Wiener Neustadt ist eine Stadt, die sehr nah an mehreren Grenzen liegt und eine stark multikulturelle Bevölkerungsstruktur hat. Sie war königliche und kaiserliche Residenzstadt der Habsburger. Sie ist eine historische Grenzstadt, die schon an sich eine Geschichte von Macht und europäischen Interaktionen erzählt. Es gibt hier im Übrigen auch eine relativ beachtliche rumänische Gemeinschaft.

Das Projekt „Bloody Crown“ läuft in dieser Einrichtung in Wiener Neustadt ab. Wie sieht das Programm aus?

Wir haben eine große Programmschiene, die wir auch in diesem Herbst zeigen werden. „Bloody Crown“, ein Festival der Königsdramatik, nimmt den Geist der Kasematten in Wiener Neustadt auf. Der Spielplan ist weit gefasst, es geht also nicht nur um das Genre des Shakespeare´
schen Königsdramas. Das Programm enthält Machtspiele, die historische oder zeitgenössische Geschichten rund um den „Rise and Fall of Power“ im privaten, gesellschaftlichen oder politischen Kontext adressieren. Es werden europäische Mythen in zeitgenössischen Überschreibungen untersucht.
Uns interessieren letztlich immer die Mythen, die bleibenden Narrative unserer Gesellschaft. Wir befassen uns zum Beispiel heuer mit der Überschreibung des Hamlet-Stoffes durch Ian McEwan, der eine unglaublich faszinierende Neudeutung von Shakespeares „Hamlet“ geschrieben hat, oder mit Georg Büchners „Dantons Tod“ – in unserer Fassung mit dem Untertitel „Narren, Schurken, Engel.“

In der Vergrößerung ab 2022 werden wir eine weitere Programmschiene eta-blieren: die „Bloody Crown Verdichtungen“. In den „Verdichtungen“ werden eigenständige Destillationen literarischer Stoffe und interkreative Formate zwischen Film, Musik, Schauspiel und Literatur produziert und eingeladen. Unsere Einladungspolitik ist international und wir legen großen Wert auf die Präsentation von künstlerischen Arbeiten des Nachwuchses.

Ein anderes von Ihnen initiiertes Projekt ist „Salon5“. Welche Geschichte hat dieser Ort?

Wir hatten in Wien dieses Projekt, „Salon5“, das an einem Ort stattfand, der eine ehemalige jüdische Makabi-Turnhalle beherbergte. Aufgrund der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs war sie fast ganz abgebrannt. Das Gebäude wurde von einem generösen privaten Sponsor wiederaufgebaut. „Salon5“ hatte ein sehr schönes, geschichtsmächtiges Ambiente, mit einer sehr starken Athmosphäre.

Wie kann man durch Theater und Kunst Veränderung bewirken?

Viele bedeutende Theaterschaffende haben unter anderem im weitesten Sinne politisches Theater gemacht und gleichzeitig zugegeben, dass Theater natürlich nicht die Welt verändern kann. Aber ich denke doch, dass Kultur im Allgemeinen und Theater insbe-sondere in der Lage ist, in die Köpfe - und vielleicht noch wichtiger – in die Seelen von Menschen zu kriechen. Ich glaube zutiefst – und in diesem einzigen Punkt vielleicht sogar altmodisch – an die Katharsis. Ich bin davon überzeugt, dass die Anschauung von Szenen, Geschichten und Ereignissen das Denken und Leben beeinflussen kann. Ich halte das für eine sehr liberale, sanfte Macht, die gleichzeitig aber sehr stark ist. Das hat natürlich keine tagesaktuelle Auswirkung, aber doch hat es eine langfristige, erhebliche Wirkung.
Ich bin völlig davon überzeugt, dass Kunst und ins-besondere das Theater in der Lage sind, politische und gesellschaftliche Stimmungen in einem Land sichtbar zu machen und in gewisser Weise sogar zu beeinflussen. Es ist unbedingt eine Aufgabe des Theaters, auch die uralten Fragen anzusprechen. Mit den Worten Ebner-Eschenbachs vor allem die „soziale Frage“ und die „Frauenfrage“, also die Frage nach der Koexistenz der Geschlechter, der Geschlechterbilder und der Gerechtigkeit im Kontext dieser Fragen.

Wie sehen Sie generell die Zukunft des Theaters?

Wir bekommen das Theater, das wir verdienen. Man kann sich in der Entwicklung einer Kunstform nie zur Ruhe setzen. Ich glaube, dass der deutschsprachige Raum ganz dringend Inspirationen von anderen Kulturen braucht, um nicht an seinen eigenen Normen zu ersticken. 

Generell bin ich zutieftst überzeugt, dass es das Theater immer geben wird, weil es ein Urbedürfnis des Menschen ist. Die Frage ist, wie, in welchen Formen institutionalisiert es sich? Und da, meine ich, wird es einen großen Wandel geben. Dieser Wandel ist uns in der Kunst durch die Schockstarre der Covid-Zeit unglaublich bewusst geworden. Natürlich wird es im deutschsprachigen Raum und in Europa die großen Häuser geben – hoffentlich! Aber wenn keine Partizipation, kein „Luftaustausch“ mit den Freien, den beweglichen Ensembles, anderen Nationalitäten, neuen interkreativen Theaterformen passiert, dann wird dieses rein institutionelle Theater an sich selbst ersticken.

Das junge Publikum, das gerade noch ins Kino geht, kommt nicht mehr ins Theater, sondern geht woanders hin. Wenn es den Theaterschaffenden nicht gelingt, dem normalen Publikum, also nicht etwa der studierten Theaterkennerin oder dem Kurator aus der eigenen Blase, die Hand zu reichen und zu sagen „Das ist euer Raum!“, dann werden diese Institutionen früher oder später sterben. Das wirkliche Theaterprojekt, das - im philosopohischen, nicht im tagesaktuellen Sinn - politische Theater, das den Menschen etwas zu sagen hat, wird auch dann stattfinden, wenn bestimmte Institutionen sich abkapseln. Natürlich hat uns Corona eine bittere Zeit beschert, aber was ich positiv sehe, ist, dass die kleinen Häuser, Institutionen, die freien Compagnien letztlich dasselbe Problem gehabt haben, wie die Staatstheater: Covid hat alle in dieser Beziehung gleich gemacht und auch nochmal die Frage aufgeworfen, auf welche Weise das Publikum jetzt, nach dieser doch langen Zeit von anderthalb Jahren, wieder ins Theater zurückkommen wird. Es wird sich etwas ändern müssen. Wir werden noch mehr darauf schauen müssen, was die Leute wirklich wollen. Theater sollte wieder eine Agora werden, gerade das ist sein Sinn.

Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen!