Die normativen Züge des Provinzialismus

Eine Zwischenbilanz nach einem halben Jahr Kulturhauptstadt

Eine böse Anklage hatte der Autor dieser Zeilen Ende 2022 im Zusammenhang mit dem damals bevorstehenden Temeswarer Kulturhauptstadt-Jahr in dieser Zeitung veröffentlicht und auf etliche Probleme hingewiesen, die zwar das bereits zur Hälfte verstrichene Jahr nicht zu einem totalen Misserfolg werden lassen, jedoch den Erfolg, sollte es noch zu einem kommen, deutlich schmälern. Geschrieben hatte ich, dass noch nie Stadt und Region so schlecht verwaltet wurden wie derzeit und dass seit 2016, als Temeswar den Titel bekam, wertvolle Zeit mit peniblen Streitereien vergeudet wurde, sodass zum Beispiel überhaupt keine bleibende Infrastruktur geschaffen werden konnte, die über 2023 hinaus die Attraktivität der Stadt steigern könnte.

Das alles ist wahr, die Bilanz der ersten Hälfte des Kulturhauptstadt-Jahres bestätigt durchaus die damalige Diagnose. Das Programm ist reich, glänzende Veranstaltungen gab es durchaus, an Highlights hat es sicherlich nicht gefehlt. Doch der Eindruck der mangelnden Koordination, der fehlenden Planung, der teilweise vertanen Chancen verschwindet nicht. Auf das Kulturhauptstadt-Jahr hat man sich nur schlecht vorbereitet, die langen Jahre ermüdender Querelen prägen nun ein Programm, das zwar einiges bietet, doch weder von außen noch von den Temeswarern selbst in seiner Tragweite und seiner Symbolik wahrgenommen wird. Dass Bürgermeister Dominic Fritz bei jeder Gelegenheit die beeindruckende Geschichte dieser Stadt und ihr Potenzial unterstreicht, ist lobenswert und es gab sicherlich auch Ohren, die ihm zugehört haben. Zum Beispiel Deutschlands Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der Temeswar mit seinem Besuch eine Ehre erwiesen hat, für die sich sein entrückter rumänischer Amtskollege zu gut glaubt. Erschreckend ist, dass ein Diskurs, wie der Bürgermeister ihn pflegt und der im Grundsatz richtig ist, bei den Temeswarern selbst zunehmend auf taube Ohren stößt.

Wer nichts Besseres zu tun hat, schaue sich mal an, was die Bürger so von sich geben. Das begrünte Gerüst, das der Architektenorden vor der Oper aufstellen ließ, sei das Resultat einer Verschwörung, die sich zum Ziel gesetzt habe, die Sicht auf die Kathedrale zu trüben und als nächstes die Kreuze von den Kirchtürmen demontieren wolle. Die Hälfte der geplanten Kulturveranstaltungen diene dem mehr oder minder verborgenen Zweck, in Temeswar eine LGBTQ+Kultur zu etablieren, das habe man im Westen so entschieden. Egal ob Ausstellung, Theateraufführung oder Konzert, alles was aus der Reihe fällt, wird diffamiert und demoliert, jedwede Provokation, auch noch so klein, hängt mit der versteckten Agenda irgendwelcher Verschwörer zusammen. Dass da der ehemalige Bürgermeister Nicolae Robu, dessen Realitätssinn inzwischen einen Totalausfall erlitten hat, in Steinmeier gleich einen Kolonialherrscher und in Fritz dessen Lokalmatador sieht, gehört auch dazu, auch wenn es an Peinlichkeit nur schwer zu überbieten ist. Denn so denken mittlerweile (zu) viele. Und es sind gerade die, auf die man als Tourist in Temeswar trifft: Taxifahrer, Kellner, Hotelrezeptionisten. Die zum Beispiel nicht wissen, wo das Kunstmuseum liegt, da sie eigentlich nicht wissen, dass es in der Stadt überhaupt irgendein Museum gibt, sodass sie den in- oder ausländischen Gästen empfehlen, die beiden Malls zu besuchen, dort sei es in Temeswar am schönsten. Shoppen, das tollste Erlebnis, das die Stadt bietet, Foodcourt inbegriffen. 2005, als die erste Mall eröffnet hat, konnte man das ja noch nachvollziehen, aber heute?

Man sollte aber vielleicht nicht so viel Wert darauf legen, was einem der Taxifahrer erzählt, sondern schnell das Milieu wechseln und sich nicht nur die Kommentare der Bürger im Netz anschauen, sondern auch jene Texte, die sie ausgelöst haben. Dort wird in totaler Verkennung des Geistes dieser Stadt gegen alles Neue, alles Andere, bitter gekämpft und dabei gerade dieser Geist beschwört. Wenn ein Schauspieler auf der Bühne unzierlich spricht, verlässt die zornige Journalistin den Saal. Das 19. Jahrhundert lebt fort. Eröffnet einer der wenigen echten Kunstmäzene dieser Stadt, der Unternehmer Ovidiu Șandor, eine Ausstellung, die das bietet, was die Kunst ab und zu auch bieten sollte, nämlich eine Provokation, verlässt der Hochschulprofessor angeekelt den Raum und beklagt bei Instagram den Tod des wahren Temeswar. Spricht der deutsche Philosoph Sloterdijk über das postheroische Europa, wird er vom Publikum sofort aufgefordert, Rumänien zu bereisen und sich von der Landschaft bezaubern zu lassen, weil ihm nur die typisch rumänische Abwechslung von Hügeln und Tälern die Augen eröffnen könne und er so den wahren Kern Europas begreifen werde.

Wie lässt sich das alles zusammenfassen? Auf die freundliche Art: Es geht um nichts anderes als um einen tief sitzenden Provinzialismus. Dieser ist ein „Ismus“, den die Wissenschaft wahrscheinlich nicht so eingehend studiert hat, wie andere solcher „Ismen“, den Populismus, den Nationalismus oder den Totalitarismus, natürlich deshalb, weil er von all diesen der am wenigsten gefährlichste ist. Oder zumindest so zu sein scheint. Jedenfalls taucht hierzulande der Provinzialismus in den unterschiedlichsten Bereichen auf, er ist eine beliebte Übung. Einer meiner langjährigen Zeitungskollegen hatte mir einmal gesagt, als wir über Rumänien und die EU sprachen, wenn diese eine Großstadt sei, müsse man Ungarn als eine Kleinstadt und Rumänien als ein Dorf begreifen. Zugegeben, die Diskussion fand vor etlichen Jahren statt, als das westliche Nachbarland noch zu den Musterschülern des Westens gehörte. Wie dem auch sei, niemand dürfte leugnen, dass Temeswar im Vergleich zu Bukarest provinziell ist, Bukarest im Vergleich zu Paris, Paris zu London oder London zu New York. Aber nicht darum geht es. Im Falle von Belanglosigkeiten, wie zum Beispiel der Aufstellung eines Denkmals, der Rezeption eines neuen Buches oder einer gerade eröffneten Kunstausstellung, dürfte der Provinzialismus, so lange er keine normativen Züge entwickelt, sogar sympathisch sein, weil er keinen größeren Schaden anzurichten verspricht.

Die Chance, die Temeswar mit der Verleihung des Kulturhauptstadt-Titels bekommen hat, war eben jene, den provinzlerischen Staub abzuschütteln und den Weg in die Gegenwart einzuschlagen. Das hatte die Stadt schon einmal gewagt, unter anderen Vorzeichen, nämlich als die relative Öffnung der kommunistischen Diktatur in den 1960er und 1970er Jahren von verschiedenen, zugegeben, kleinen Gruppen beim Wort genommen und der Anschluss an europäische Tendenzen geprobt wurde. Jetzt hätte es leichter sein können, aber es scheint viel schwieriger. Denn im Geist scheint man provinzieller als je zu sein und dieser nun geübte Provinzialismus nimmt durchaus normative Züge an, denn immer wieder werden Verbote, Ordnung und Ruhe gefordert. Kein Konzert nach Mitternacht, keine Nacktheit auf der Bühne, kein Gerüst vor der Kirche. Saubere Fassaden, gestrenge Blicke. Die Scheinheiligkeit der Provinz eben. Dass zur Freiheit auch jene zur Provokation gehört, hat man gerade in der Stadt der 1989er Revolution noch nicht gelernt. Schade. Wundert es da noch jemanden, dass Rumäniens Staatspräsident Klaus Johannis sich bislang hierher nicht getraut hat und zum Beispiel seinen bundesdeutschen Gast auf der halben Strecke zwischen Bukarest und Temeswar sich selbst und den lokalen Gastgebern überlassen hat? Natürlich nicht, die Meisterschaft im Provinzialismus ist längst entschieden.

Deshalb sollte man die tatsächlichen Glanzmomente der ersten Hälfte des Kulturhauptstadt-Jahres unterstreichen und auf die kommenden hinweisen. Dazu zählen die Besuche des Philosophen Peter Sloterdijk im Februar und des Schriftstellers Orhan Pamuk im April, die Paul-Neagu- und Victor-Brauner-Ausstellungen im Kunstmuseum, insbesondere die letzte, die Tausende Besucher angezogen hat, auch zahlreiche Ausländer. Auf die zweite Hälfte des Jahres mit der Brâncuși-Ausstellung, mit vielen Open-Air-Veranstaltungen bis zum Herbstbeginn und den Abschlussfeierlichkeiten im Dezember darf man sich sicherlich freuen.