Die stille Botschaft der Dobrudscha an Europa

Minderheiten zwischen Bewahren und Öffnen, gelebter Identität und bereichernder Vielfalt

Erinnerung an die Kultur der Dobrudschadeutschen: Tschangos in Oituz begrüßen uns mit deutschen Liedern.

Sommerschule in der großen Moschee in Konstanza: König Karl I. stiftete sie 1913 für seine muslimischen Untertanen.

Seit Jahrhunderten gelingt es den Lipowanern in Ghindărești, ihre Sprache und Kirchenkultur zu bewahren und die Jugend dafür zu begeistern. Fotos: George Dumitriu

Ali Ismet, Imam an der Esmahan-Sultan-Moschee in Mangalia, erbaut 1573 von der Tochter des Sultans Selim II.

Sommerschule in der Lipowanerkirche von Ghindărești: Ein kleiner Junge fragt treuherzig: „Weißt du, was da oben unter der Dachklappe ist?“ - „Die Glocken?“ Der Knirps bestätigt strahlend. „Und im Altar haben wir ein goldenes Buch, das hat der liebe Gott geschrieben!“  Dann buchstabiert er mir aus seiner Fibel vor - auf Altslawisch, der Kirchensprache. Natürlich im Flüsterton, denn alle anderen Kinder singen. Wenige Stunden später begrüßen uns die Tschangos in Oituz: Nanu - ein Junge in bayrischen Lederhosen? Kurz darauf erschallen in der katholischen Kirche deutsche und ungarische Lieder. Vier Tage sind wir in der Dobrudscha unterwegs, stündlich wechseln die Welten: Kirchen, Moscheen, Museen, historische Stätten, ein tatarisches Hochzeitszimmer, ein einsames türkisches Dorf mit einem Brunnen als einzige Wasserquelle, dafür Plastikfenster an der Moschee...

Was mag Dichter Ovid heute denken, zu dessen steinernen Füßen auf dem nach ihm benannten Platz in Konstanza/Constan]a Kinder auf Rollern kreischend in der Abendsonne kreisen? Oder die Schlange Glykon in der Schatzkammer des dahinter liegenden archäologischen Museums, mit ihren Menschenohren, bewimperten Augen, dem schmollenden Kälbermund? -  Sie träumen! Träumen uns in eine Wunderwelt hinein, die es hier wirklich gibt: Wo Muslime und Christen Freunde sind und der Islam noch für den Frieden steht – die ursprüngliche Bedeutung des Wortes. Wo uns Menschen verschiedener Ethnien ihre Kulturen, Werte und Traditionen wie kostbare Schatzkästchen eröffnen - und gleichzeitig immer wieder betonen, loyale rumänische Staatsbürger zu sein. Wo Verschiedenheit nicht trennt, sondern verbindet - bereichert, das Herz öffnet für die Welt des anderen in der gemeinsamen Heimat. Lipowaner, Tschangos, Deutsche, Türken, Tataren und Griechen besuchen wir auf dieser sechsten Journalistenreise (2. bis 5. Juli), die das Departement für Interethnische Beziehungen (DRI) an der Rumänischen Regierung organisierte, auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten. Sie führt uns über Ghindărești, Oituz, Konstanza, Medgidia, Fântâna Mare, Mangalia und Vama Veche durch die südliche rumänische Dobrudscha. 

Fasziniert lauschen wir den Geschichten, die sich zu einem bunten Erzählteppich verweben: Die Dobrudscha ist ein Lehrbuch für Europa! Doch es ist in einer blumigen Sprache geschrieben - aus Bildern, Gefühlen und Liedern. Die Herausforderung der Reise besteht darin, das Lehrstück zu erfassen: Seht her, es geht - interkulturelles Zusammenleben ist kein verwegener Traum! Auch kein modernes europäisches Konzept, sondern erprobter, gelebter Alltag, dies über Jahrhunderte.

 Freilich auch mit schwierigen Phasen: So mussten sich etwa die Dobrudschadeutschen, die unter den Osmanen zwar viele Freiheiten genossen, mit Plünderungen durch Tscherkessen, Türken und Tataren aus den Nachbardörfern herumschlagen, bis die Region unter rumänische Oberhoheit gelangte. Was aus ihnen geworden ist? Eigentlich ist ihre Geschichte mit der Umsiedlung 1940, „Heim ins Reich“, beendet. In Oituz treffen wir trotzdem auf zwei ihrer Nachfahren: Emanoil Rujanschi erzählt von gemischten Ehen zwischen Deutschen und den 1923 aus Bac²u angesiedelten, Ungarisch sprechenden Tschangos; er selbst entstammt einer solchen Familie. „Unsere gemeinsame Sprache ist die Kultur. So ist die Dobrudscha!“, erklärt der 63-Jährige, während der Kinderchor „Meeresglöckchen“ deutsche Lieder singt und die Tanzgruppe „Meereswellen“ - zu ihnen gehört der Lederhosenjunge – das Tanzbein schwingt. „Unglück und Glück brachten uns zusammen“, philosophiert Rujanschi und berichtet von den harten Bedingungen, mit denen sich die Siedler, Tschangos wie Deutsche, konfrontiert sahen. „Im Sommer war alles voll Schlangen, im Winter heulten die Wölfe. Einige kehrten frustriert zurück.“ Doch hat alles Schlechte auch sein Gutes: Der ehemalige Traktorfahrer erzählt von einem alten Tataren, der auf der Landwirtschaft seines deutschen Großvaters gearbeitet hatte. „Der sagte mir: Früher, als wir aufs Feld gingen, war es egal, ob neben dir Seite an Seite ein Zigeuner, Lipowaner oder Tschango hackte. Morgens brachen die Frauen gemeinsam auf, und wenn die Kinder im Pferdewagen unterwegs hungrig wurden, hat mal die eine, mal die andere gestillt - das eigene und ein anderes Kind. Die Natur hat ihnen ja allen zwei Brüste gegeben.“ Wehmütig fährt Rujanschi fort: „Es herrschte eine Harmonie und eine Liebe zwischen ihnen... “ 

Auch Emil [ocam hat deutsche Vorfahren: Sein Großvater wurde 1945 nach Russland deportiert, wie Rujanschis Vater. Sein Onkel Heinrich kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS in Sibirien: „Er konnte fließend Russisch, Türkisch und Rumänisch – deswegen kam er ja auch an die Front.“ Heute engagieren sich beide als Rentner vor Ort oder im Deutschen Forum in Konstanza, um ein wenig von der Kultur ihrer Vorfahren für die Nachwelt zu bewahren. 

Im Gegensatz dazu blieben die Lipowaner - altgläubige Orthodoxe (Staroveri), die nach dem Kirchenschisma (1654) aus Russland geflüchtet waren - stets unter sich. Noch heute leben fast nur Lipowaner in Ghindărești, einem Fischerdorf an der Donau, weithin sichtbar durch sein Wahrzeichen, ein riesiges Starovero-Kreuz (2010). Wie einen kostbaren Schatz hüten sie ihre Kirchentradition: Altslawisch, die Kirchensprache, erlernen die Kinder in der Wochenend- und Sommerschule. Zuhause wird ein alter russischer Dialekt gesprochen. Das goldene Buch, von dem der Junge sprach, gehört zum mitgebrachten Kulturerbe. Ihre prächtige Kirche darf man als Tourist betreten, Frauen mit Kopftuch und Rock, hingegen sind Hosen  tabu. Beim Spaziergang durchs Dorf kann man noch traditionelle Häuser entdecken, mit geschnitzten Dachleisten, hellblau oder grün, die Symbolfarbe der Staroveri. Im Kulturhaus bezaubert der Frauenchor „Novoseolki“ mit glasklaren Stimmen und prächtigen Trachten, lustigen Liedtexten zu Akkordeonmusik. Es gibt  Fischsuppe, Donauhering, Blinis und Vareniki-Teigtaschen. 

In Konstanza wird einem ständig vor Augen geführt, wie weit die Multikulturalität in der Dobrudscha zurückreicht: Spaziergang mit Stadtführerin Diana Slav auf den Spuren der Griechen; Besuch im archäologischen Museum und im Volkskunstmuseum. Sommerschule und Gottesdienst in den Moscheen Carol I. und Hunchiar - alles Themen für eigene Artikel. Konstanza mit seinem Hafen und seiner Industrie ist auch die Rettung für viele umliegende Dörfer, deren Einwohner täglich zur Arbeit pendeln und nicht, wie jene in abgelegenen Orten, ins Ausland abwandern. 
So wie viele junge Leute aus dem 70 Kilometer entfernten Fântâna Mare: Memet Sebatin erzählt die Geschichte des alten türkischen Dorfs, die eigentlich keine mehr ist. Die 1860 erbaute Ba{punar-Moschee zeigt kaum noch Spuren der alten Bausubstanz, statt dessen ein Einheitsminarett aus Beton (2006), Thermopanefenster, modern verkleidete Räume, ein Wellpappedach, wie auf vielen  Häusern. An die hochfliegenden touristischen Pläne für das „weltweit einzigartige, traditionsreiche“ Dorf mag man unter diesen Umständen nicht so recht glauben. Schuld daran  ist wohl nicht nur das fehlende Wasserversorgungsnetz, wie Sebatin klagt. Paradoxerweise plätschert das Wasser aus dem Brunnen, das dem Dorf seinen Namen gab, in verschwenderischer Fülle. Fântâna Mare ist ein trauriges Beispiel, wie nachhaltig zerstörerisch falsch verstandener Modernisierungsdrang sein kann, vor allem für ein armes Dorf. So sind vom einstigen Zauber nur die Geschichten geblieben: von Hochzeiten, die fünf Tage dauerten, siebengängigen Menüs, türkischen Tänzen mit Klarinetten, Schüssen und Jägerspielen, gebratenem Hammel, Sorbet und Baklava. Von dem beschiffbaren Kanal, der vertrocknete, zurück blieb nur Sand – und eine unterirdische Quelle. Diese erschloss vor ca. 170 Jahren der reichste Mann im Dorf, das früher an anderer Stelle lag, worauf ihm 30 Familien dorthin folgten, 80 weitere siedelten sich aus der ferneren Umgebung an. Man erzählt sie sich vielleicht noch unter der mosaikverzierten Kuppel des Brunnens, wo sich die Bewohner mit ihren plastikflaschenbeladenen Handkarren treffen. Die jungen Leute wandern ab. Zurück bleiben die Rentner. Wird irgendwann nur noch der  Brunnen daran erinnern, wie hier alles begann?

Medgidia, die Stadt von Sultan Abdul Medjid, die wie ein Phönix ihrer eigenen Asche entstieg, ist ebenfalls eine eigene Geschichte wert... Sie erzählte der tatarische Historiker, Professor Ecrem Gafar, in der dortigen Moschee. Dasselbe gilt für die übrige Moscheenwelt: In Konstanza zeugen die König-Carol I.- und die Hunchiar-Moschee, in Mangalia die Esmahan-Sultan-Moschee, von einem freundlichen, offenen Islam. In ersterer treffen wir auf eine Sommerschule wie bei den Lipowanern, nur dass die Kinder hier arabische Suren lernen. Der  tatarische Imam, Ali Selcin, versichert auf die Frage nach eventuellem Druck oder Einflussnahme aus anderen islamischen Ländern: „In Rumänien ist dies kein Problem - und es wird niemals eines werden! Wir genießen hier Rechte, sind loyale Staatsbürger, leben den Islam nach dem Modell unserer Vorfahren in der Dobrudscha.“ Allerdings, räumt er ein, leide man darunter, dass „gewisse Taten“ im Namen des Islam verallgemeinert würden: „Wenn so etwas passiert, dann sagen wir: Schaut euch unsere Geschichte an! Sind die Muslime in Rumänien nicht okay? Sie sind okay!“

In Mangalia tauchen wir im Archäologiemuseum Callatis erneut in die Geschichte der Griechen ein. Nach dem Rundgang über Festungsruinen empfängt uns der Garten der Esmahan-Sultan-Moschee mit seinem kleinen tatarischen Café wie eine kühle Oase. Über 900 muslimische Familien gibt es noch in Mangalia, erzählt der 80-jährige tatarische Imam Ali Ismet - und drei Imame, zwei aus Rumänien, einen aus der Türkei. Er nimmt sich ausführlich Zeit für uns, Touristen sind ihm willkommen. „Es gibt Besucher aus der Moldau oder aus Siebenbürgen, die haben noch nie eine Moschee, einen Türken oder Tataren gesehen,“ lächelt er breit. Ich verabschiede mich mit „schukran“ - „danke“ auf Arabisch, der Sprache des Propheten. Sein Lächeln zerfließt spontan über das ganze Gesicht: „Wo haben Sie das gelernt? - Schukran! Schukran!“