Entwicklung des Handels in Rumänien

Studie der Friedrich Ebert Stiftung: Bilanz nach 30 Jahren, aktuelle Tendenzen und Probleme

Die Studie wurde am 22. November von Victoria Stoiciu (FES), Ștefan Guga und Marcel Spatari (Syndex România) im Hotel Intercontinental vorgestellt. Foto: Nina May

„Der Rhythmus des Wachstums in Rumänien lag weit über dem europäischen Mittel, vor dem Hintergrund günstiger wirtschaftlicher Bedingungen, jedoch hauptsächlich bewirkt von einer stark erhöhten Arbeitsproduktivität“. Dies steht als Neugierigmacher auf der Titelseite  der Studie „Sectorul comerț în România: Un bilanț după trei decenii de transformări“ (Der Sektor Handel in Rumänien: Eine Bilanz nach drei Jahrzehnten der Transformation), realisiert von Syndex România, von der Friedrich Ebert Stiftung (FES) in Auftrag gegeben und am 22. November in Bukarest vorgestellt. Was auf den ersten Blick so positiv klingt, entpuppt sich tatsächlich als Missstand: Trotz steigender Gewinne werden die Angestellten immer schlechter bezahlt und Personalmangel mit höherer Arbeitsintensität kompensiert. Interessant auch, dass sich Rumänien im Lebensmittelhandel zunehmend von ausländischem Kapital abhängig macht – was die Frage aufwirft, ob die Vorteile die Nachteile aufwiegen. Mit Spannung liest man über die umstrittenen Praktiken großer ausländischer Player im Online-Handel im Kampf um den Markt in Osteuropa.
 
Die Studie setzt statistische Informationen, untermauert mit zahlreichen Diagrammen, in Kontext und ist daher nicht nur für Wirtschaftsexperten wertvoll, sondern für jeden interessierten Bürger lesenswert. Beleuchtet wird auf 70 Seiten die Entwicklung des Handels in den letzten 30 Jahren, von den ersten ausländischen Investitionen Anfang der 1990er Jahre bis zur Etablierung multinationaler  Unternehmen in der Zeit nach der Krise. Sie bietet eine Bewertung der aktuellen Lage, analysiert die wirtschaftliche und finanzielle Leistung der wichtigsten Player, verrät, wer vom steigenden Mehrwert profitiert, bis hin zur Situation der Angestellten, den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung.

Gespannte Lage für einheimische Einzelhändler

Nach 1990 wurden im Handel drei Entwicklungsphasen beobachtet: 
1. In den 1990er Jahren bis Anfang 2000 blühte der einheimische Kleinhandel auf. 2. Mitte 2000 bis Ende 2010 war die Ära der großen multinationalen Ketten, 3. ab den späten 2000ern bis heute hat sich der Online-Handel etabliert, wenn auch derzeit noch unterentwickelt.
Die Krise Ende der 2000er Jahre hatte den Abstieg des Kleinhandels und den substanziellen Aufstieg des Großhandels, beherrscht von multinationalen Ketten, zur Folge. Bis zur Krise Ende der letzten Dekade profitierten noch beide vom steigenden Konsum in einer Zeit des Wirtschaftswachstums. Nach der Krise verlor jedoch der Kleinhandel mit einheimischem Kapital stark an Terrain gegenüber dem Großhandel mit ausländischem Kapital. Die „Industrialisierung“ des Handels rief als Folge multinationale Unternehmen auf den Plan, die den Markt in kürzester Zeit überschwemmten, während Einzel- und Familienunternehmen mit einheimischem Kapital massiv zugrunde gingen. Mit den Preisreduzierungen, die sich die Multinationalen wegen ihrer substanziellen Gewinne erlauben konnten, konnten die kleineren einheimischen Unternehmen nicht mithalten. Für die wenigen noch existierenden spitzt sich die Lage weiter zu. 

Abhängigkeit von ausländischem Kapital

Die Entwicklung der Hypermarktketten (Kaufhallen mit Verkaufsfläche ab 5000 Quadratmetern, z.B. Carrefour, Auchan, Kaufland, Cora) und der Rückgang des Kleinhandels mit einheimischem Kapital scheint jedoch negative Auswirkung auf den Selbstbedienungsgroßhandel vom Typ Cash & Carry (z.B. Metro, Selgros) zu haben – darunter die ersten ausländischen Investoren auf dem rumänischen Markt. 

Derzeit scheint aber auch das Wachstum der Hypermarktketten sein Limit erreicht zu haben, womit wenigstens einige der von diesen praktizierten sehr aggressiven Entwicklungsstrategien enden. Die Tendenz geht derzeit zu einem Ausbau von kleineren Supermärkten mit geringer Distanz (z.B. Mega Image, Artima, Profi). Größere Ketten streben augenscheinlich für die Zukunft eine Expansion in Kleinstädten und sogar auf dem Land an – den einzigen  übriggebliebenen Bastionen des Kleinhandels mit einheimischem Kapital, aber auch eine Intensivierung der Konkurrenz in mittleren und größeren Städten. Die Folge ist eine immer größere Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Man mag sich die Frage stellen, ob die damit einhergehenden Vorteile (große Investitionen, Steigerung der Produktivität) die Nachteile (zunehmende Importe, Alimentierung des Handelsdefizits) tatsächlich aufwiegen.

Im Kampf um den Online-Markt

Der Online-Handel ist derzeit einer der Hauptmotoren des Wachstums im Sektor Handel. Noch ist er in Rumänien relativ unterentwickelt: Aktuelle Daten zeigen, dass sich weniger als die Hälfte der Bevölkerung im Internet über Waren und Dienstleistungen informiert und nur ein Fünftel tatsächlich Online-Käufe tätigt. 
Obwohl ein starkes Wachstum mit hoher Dynamik zu erwarten ist, findet man im Bereich der auf Online-Handel spezialisierten Firmen eine geringe Anzahl von ausländischen Playern mit sehr hohem Marktanteil. Allerdings ist auch die Anzahl kleiner Firmen mit einheimischem Kapital, die versuchen, auf diesem neuen Markt Fuß zu fassen, im Steigen begriffen. Zwar stellt diese Sparte auch heute noch eine Entwicklungschance für Unternehmen mit einheimischem Kapital dar, doch erodiert die aggressive Expansion spezialisierter großer Online-Händler in den letzten Jahren die Gewinnspanne, was vor allem kleine Unternehmen benachteiligt.
Die Entwicklung des Online-Handels hat in den letzten zehn Jahren aber auch zusätzlichen Druck auf  Händler mit physischen Verkaufsräumen erzeugt. Der allgemeine Trend zum elektronischen Einkauf zwingt sie immer häufiger, ihren eigenen Online-Vertrieb aufzubauen. 

Derzeit ist noch ein guter Teil des Online-Handels in Händen von Firmen mit einheimischem Kapital. Große ausländische Firmen verfolgen jedoch eine fragwürdige Strategie, den Markt an sich zu reißen. Dabei nehmen sie über Jahre hinweg äußerst bescheidene Gewinne bis extrem große Verluste hin. Dante International zum Beispiel, der Operateur der Plattform eMAG, hat in den Jahren 2014-2018 in Rumänien Verluste von ins-gesamt 419 Millionen Lei in Kauf genommen! 2018 betrug die Mehrwertmarge bei eMAG nur 4 Prozent, was als Dumping-Strategie gilt. Ein weiterer Marktführer, Elefant Online SA, hat in den letzten fünf Jahren 77 Millionen Lei Verlust verzeichnet.  Am Limit dieses Modells agiert Corsar On-line SRL, Betreiber der Plattform cel.ro, mit einem Gesamtgewinn von nur einer Million Lei in den Jahren 2014-2018. Ähnliche Strategien lassen sich bei folgenden auf Online-Handel spezialisierten großen Firmen hierzulande beobachten (in Klammer der Gesamtgewinn  2014-2018 in Millionen Lei): Vivre Diego SA (2,6), Infop Perfectionare și Dezvoltare SRL (3,2), Euro Parts Distribution SRL (10,0), Studio Moderna SA (14,7), Mobup Distribution SRL (25,2). 

Diese Praxis wird nicht nur in Rumänien, sondern auch in anderen Ländern Osteuropas angewandt. Der Marktführer auf dem polnischen Markt, allegro.pl, hat 2017 trotz prekärer Finanzlage einen Verlust von 32 Millionen US-Dollar in Kauf genommen, in Rumänien realisierte er im Zeitraum 2014-2018 nur eine Million Lei Gewinn. Dante International tätigt ähnliche Operationen wie in Rumänien auch in Polen, Bulgarien und Ungarn. 2019 kaufte die eMAG-Gruppe mehrheitliche Aktienpakete der Online-Retailer Extreme Digital in Ungarn, was ihm Zugang zu den Märkten in Tschechien, der Slowakei, Kroatien, Slowenien und Österreich verschafft. Diese extrem schnelle Expansion steht in keinem Verhältnis zu den finanziellen Resultaten, sondern geht mit massiven Verlusten für Dante International einher. 
Personal unzufrieden, überlastet, unterbezahlt 

Das Auftauchen großer ausländischer Firmen hat die zwischen 1990 und 2007 deutliche Zunahme der Beschäftigungszahlen im Handel gestoppt. Seit 2007 liegt die Anzahl der in Rumänien im Handel angestellten Personen relativ konstant bei 1,2 Millionen. Hinter dieser Zahl verbergen sich wichtige Transformationen: Obwohl Multinationale mit ausländischem Kapital eine wesentlich höhere Produktivität erzielen als kleinere Unternehmen mit einheimischem Kapital, reflektiert sich dies nur in geringem Maße in den Gehältern der Angestellten. Zwar verdienen die bei Multinationalen Beschäftigten besser, doch der Löwenanteil der Früchte des Wachstums landet im Geldbeutel des Arbeitgebers. Im letzten Jahrzehnt hat sich diese Tendenz weiter verstärkt! 

Im Lebensmittelhandel übersteigt der Rhythmus des Wachstums in Rumänien das europäische Mittel bei Weitem, was nicht nur günstigen Marktbedingungen zu verdanken ist, sondern vor allem einer Erhöhung der Arbeitsintensität. Im Zeitraum 2012-2016 stieg der Mehrwert - also die Differenz zwischen den Kosten für eingekaufte Materialien und dem letztendlichen Verkaufspreis des fertigen Produktes – in diesem Sektor um satte 85 Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil, der sich in der Bezahlung der Angestellten reflektiert, stark gefallen: lag dieser 2012 mit 62,2 Prozent bereits unter dem EU-Mittel von 68,7 Prozent, betrug er 2016 nur noch schlappe 48,8 Prozent! Damit ist die Bezahlung als Teil des Mehrwerts der im Retail-Handel Angestellten in Rumänien 2016 die zweitniedrigste in der EU und liegt weit unter dem EU-Mittel von 66 Prozent.

Die Arbeitskräfte im Handel in Rumänien, verglichen mit anderen Sparten, werden unterdurchschnittlich bezahlt. Es besteht eine klare Tendenz, dass die Attraktivität dieser Arbeitsplätze für junge Leute abnimmt und statt dessen mehr ältere beschäftigt werden. Die Unzufriedenheit ist jedoch bei allen Altersklassen wegen schlechter Bezahlung und hoher physischer Anforderung (langes Stehen, schweres Heben, unregelmäßige Arbeitszeiten, Arbeit in Kälte oder Hitze) durchwegs hoch. 
Zwar versuchen Multinationale, Personal durch bessere Bezahlung zu locken, doch gleicht diese bei Weitem nicht die Nachteile aus und entspricht auch nicht annähernd den realen Bedürfnissen der Angestellten. Die Arbeitgeber kompensieren das Personaldefizit, das sich durch die Möglichkeit der Abwanderung von Arbeitskräften ins Ausland weiter zu verschärfen droht, mit höherer Arbeitsintensität. 

Konkrete Probleme der Angestellten 

Eine Umfrage von Syndex vom Mai 2019 unter den Angestellten von drei multinationalen Handelsfirmen (Fragebögen mit 19 Fragen wurden in 20 Städten, in der Regel Kreishauptsädte, verteilt), unterstützt von der Föderation der Gewerkschaften im Handel, erbrachte, dass nur 15 Prozent mit ihrem Gehalt einigermaßen zufrieden waren, 85 Prozent hingegen gar nicht.  42 Prozent der unter 30-Jährigen gaben an, ihren Job nur als Übergangslösung zu betrachten, bei den unter 40-Jährigen waren es 73 Prozent. Trotzdem geht die Mehrzahl altersunabhängig davon aus, weiterhin in dieser Sparte tätig zu sein. Das augenscheinliche Paradox erklärt sich mit der Perspektivlosigkeit eines Wechsels, vor allem für 30- bis 49-Jährige.

Belastend empfinden viele  die unregelmäßigen und schlecht ausgeglichenen Arbeitszeiten: extrem früher Arbeitsbeginn, später Schluss, oft folgt letzterer direkt auf ersteren, sowie Wochenendarbeit. Denn um möglichst viele Kunden zu erreichen, praktizieren viele Läden möglichst lange Öffnungszeiten und eine Sieben-Tage-Woche.
85 Prozent der Befragten gaben an, die Arbeitsintensität sei in den letzten fünf Jahren spürbar gestiegen, verursacht durch unzureichende Besetzung der Läden, gesteigerten Verkauf, Umstellungen in der Arbeitsorganisation, weniger durch technologische Veränderungen. 

30 Prozent der Befragten mit Kundenkontakt fühlen sich gelegentlich von unverschämten Kunden gestresst, 12 Prozent oft und 11 Prozent sehr oft. Im Vergleich: Das Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten scheint kein Problem zu sein. 80 Prozent der Befragten gaben an, vor allem körperlich stark gefordert zu sein, 85 Prozent psychisch.
Als Lösungsansatz schlagen die Autoren der Studie vor, die  Angestellten durch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung zu motivieren, vor allem vor dem Hintergrund, dass die höhere Produktivität dies rechtfertige und den Arbeitgebern Mittel zur Verfügung stünden.