Erinnerungen an dunkle Zeiten

Hörbuch aus Österreich tritt gegen das Schweigen über den Nationalsozialismus auf

Felix Lee (rechts) wurde 1935 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines chinesischen Vaters in Wien geboren, wo er den Holocaust überlebte. Gemeinsam mit seiner Duo-Partnerin Gertrude Kisser (links) hat er die von ihm selbst komponierte Zwischenmusik „Lost and Found“ für das Hörbuch „Erinnerungen“ des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eingespielt. Foto: Still aus „80er Tanz“, Youtube

Rudolf Karger, Opfer der NS-Diktatur in Österreich, wurde 1930 in Wien als außereheliches Kind von Eltern geboren, die in Wahrheit nichts miteinander zu tun haben wollten. Gemeinsam mit seinen Schwestern Alice (Jahrgang 1929) und Elfi (Jahrgang 1927) wuchs er bei seiner erziehungsberechtigten Großmutter mütter-licherseits auf. Als außereheliches Kind geboren zu sein, bedeutete damals noch eine unverzeihbare Schande. Da Rudolf Karger 2015 verstarb, hätte es ihm gelingen können, die Haut eines vormals an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen letztlich ganz abzustreifen. Rudolf Karger aber, dem später für seine Aktivität als Zeitzeuge in Schulen das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen wurde, zählt zu jenen Menschen, die Entsetzliches erlebt haben und der traumatischen Erinnerung bis an ihr Lebensende Tribut zollen mussten.

Trotzdem Rudolf Kargers Großmutter gerne für ihn und seine zwei älteren Schwestern sorgte, war das Jugendamt der Vormund aller drei außerehelich geborenen Geschwister, die in einer Wohnung aufwuchsen, wo meistens zwölf Personen sich ein Zimmer, ein Kabinett und eine Küche mit Kaltwasseranschluss teilten. 1936 starb seine Mutter. Als das Jugendamt nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich 1938 zum Reichsjugendamt erklärt wurde, begann auch für Rudolf Karger eine schlimme Zeit.

Wenige Tage vor dem 12. März 1938 – dem Datum des Einmarsches deutscher Truppen in Österreich – hatte ein Onkel von Rudolf Karger sich in Anwesenheit von Freunden eine rhetorische Frage erlaubt: „Wer braucht schon Adolf Hitler bei uns in Österreich?“ Es folgten Denunziation durch die Zuhörenden und zwei Jahre Haft im KZ Dachau. Für Rudolf Karger selbst hingegen waren schon die Jahre vor der Annexion des Bundesstaates Österreich durch den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht „keine gute Zeit“ gewesen. Kindern wie ihm sollte der „Anschluss“ dennoch bald übel mitspielen. Ein Zehnjähriger, der gerne Theateraufführungen besuchte und darum einmal von der Polizei nach 21 Uhr auf dem Heimweg aufgegriffen wurde, der es aber auch vermied, abends tatsächlich durch die Haustüre hindurch einzutreten, wenn er wusste, dass auch ein erwachsener Verwandter, der ihn stets grundlos verprügelte, zuhause war.

Nach Einwilligung des Reichsjugendamtes wurde Rudolf Karger am 1. September 1941 in die Erziehungsanstalt für Kinder und Jugendliche „Am Spiegelgrund“ eingewiesen. Heute ist bekannt, dass 800 „Kinder vom Spiegelgrund“ Opfer von medizinischen Experimenten und Euthanasie-Maßnahmen wurden. Rudolf Karger entging Letzterem, behauptete aber zu Lebzeiten, dass „dieser schmerzhafte einjährige Aufenthalt am Spiegelgrund meine Kindheit, meine Jugendzeit und auch meine Zukunft zerstört hat.“ Wer als „schwer erziehbar“ galt und folglich am Spiegelgrund in die Fänge des Deutschen Reiches gelangte, durfte nicht mehr zur Schule gehen und musste nicht nur körperliche, sondern auch seelische Misshandlung an sich geschehen lassen: „1941 erlebte ich auch mit der ganzen Gruppe den Weihnachtstag. Im Tagesraum wurde ein Christbaum aufgestellt mit nichts darauf, und stundenlang mussten wir davor Strafe stehen, ohne uns zu rühren. Das war mein und unser Weihnachtsabend. Es gab für uns nichts Heiliges oder gar Geschenke“, wie sich Rudolf Karger 70 Jahre später erinnerte.

Ein Jahr vor dem für Rudolf Karger traumatischen Weihnachtsfest in Wien 1941 hatte Thomas Mann aus dem US-amerikanischen Exil die dritte von 60 Rundfunkreden gesprochen, die 1940-1945 von der British Broadcasting Corporation (BBC) ausgestrahlt wurden: „Nun rüstet ihr euch wieder, das (...) Fest zu begehen – zum zweiten Male in dem Kriege, den eure gegenwärtigen Führer über euch und die Welt verhängt haben – in Trauer viele von euch um Söhne und Väter. (...) Ihr deckt die Gabentische – sie werden kümmerlich bestellt sein, denn gute Dinge sind nicht erhältlich, obgleich doch eure Herren den verheerten Kontinent geplündert haben in eurem Namen. (…) Lass dich bewegen und auch empören von dem, was die Glocken meinen, wenn sie Frieden verkünden, Frieden auf Erden!“ („Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940-1945“, Thomas Mann, Fischer Taschenbuch Verlag, 1987).

Dokumentation von Lebensgeschichten

Rudolf Kargers Rückblende aus der Opfer-Perspektive ist im Hörbuch „Erinnerungen“ des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, das am 19. Oktober 2020 am Theater Nestroyhof in Wien vorgestellt wurde, festgehalten. Auf der Doppel-CD liest Schauspieler Cornelius Obonya, Alumnus des Max-Reinhardt-Seminars, die erstmals 2010 veröffentlichte Nacherzählung von Rudolf Karger. Vierzehn Opfer aus Österreich kommen auf diese packende Art und Weise zu Wort, von zwei weiblichen und zwei männlichen Profi-Stimmen des aktuellen Österreich gesprochen. Vierzehn unterschiedliche Lebensgeschichten, die beim Zuhören in die Zeitgeschichte rund um „Die Welt von Gestern“ von Stefan Zweig einführen, worin der 1942 im brasilianischen Exil in den Freitod gegangene Schriftsteller über „die freiwillige Servilität Deutschlands mit seinem kantigen und schmerzhaft scharf zugeschnittenem Standesbewusstsein“ unkte.

Angst vor den Nazis ging auch in der Gemeinschaft der Roma um, bei denen die Schergen des Deutschen Reiches „Poskoschtja“ genannt wurden. Adolf Papai, 1931 im Burgenland geboren und einer von 350 Roma, die ihr Dasein in großer Armut im Ort Langental fristeten, ist heute noch am Leben, lässt sich aber im Hörbuch „Erinnerungen“ ebenfalls durch die Stimme von Cornelius Obonya vertreten. Weil 1938 verordnet worden war, dass Roma die Schule nicht mehr besuchen dürfen, ist Adolf Papai insgesamt nur eineinhalb Jahre zur Schule gegangen. Dennoch und genau darum betont er: „Ich spreche Kroatisch und Deutsch und Romani, Ungarisch und die slawischen Sprachen, das Tschechische ein bisschen, Böhmisch ein bisschen, Jugoslawisch am besten und dann noch Russisch.“ Als er bei Ankunft im „Zigeuner-Anhaltelager“ Lackenbach im Herbst 1941 beim Aussteigen aufpassen wollte, dass sein kleiner Hund nicht getreten werde, packte ein Aufseher das Tier an den Hinterbeinen und schlug mit dem Hundekörper solange auf Adolf Papai ein, bis ihm nur noch die Hinterbeine in der Hand blieben – „So schreckliche Menschen waren das!“ Noch härtere Worte für die Gräueltaten des nationalsozialistischen Deutschland artikuliert Adolf Papai nicht im Hörbuch. Für die Zukunft wünscht er sich nur eines – dass sich die Geschichte von 1938 bis 1945 nie mehr wiederhole.

„Auf einmal gab es nur noch Deutsch“

Dasselbe Hörbuch schenkt Doris Lurie, der es einige Tage vor dem „Anschluss“ verboten worden war, die Schule zu besuchen, die Stimme von Schauspielerin Katharina Stemberger. Doris Lurie wurde 1928 als Tochter jüdischer Eltern in Wien geboren und lebt heute noch in Südafrika, wohin sie über die Schweiz, Frankreich und Großbritannien mit ihrer Mutter geflohen war. Wien verließen sie am 16. März 1938 mit dem allerletzten Zug, der ausländischen Touristen damals noch zur Abfahrt bereitgestellt wurde. „Es stellte sich heraus, dass meine Mutter instinktiv und mutig das Richtige getan hatte (…) sonst hätte uns das gleiche Schicksal ereilt wie viele unserer Verwandten, die in den Konzentrationslagern ums Leben kamen.“

Nicht weniger aufrüttelnd gestaltet sich die ebenso von Katharina Stemberger auf den digitalen Tonträger gesprochene Erinnerung der Slowenin Hemma V., die 1935 in Kärnten geboren wurde, in einer kleinen Landwirtschaft aufwuchs und bis zu ihrem Lebensende 2017 unter Angstzuständen, Albträumen und depressiven Zuständen litt, da ihre Familie versucht hatte, antifaschistischen Partisanen zu helfen. „1942 kam ich in die Volksschule. (...) Auf einmal gab es nur noch Deutsch. Die Lehrerin durfte kein Wort Slowenisch hören, ich aber konnte überhaupt nicht Deutsch. Es war schrecklich. (…) Ich werde nie vergessen, als die Deutschen einen Partisanen in der Nähe unseres Hauses im Bachgraben erschossen haben. Ich ging über die Brücke und sah im Wasser einen blonden Mann liegen. Er lag da ausgestreckt am Rücken, mit Blut überströmt. Noch immer sehe ich dieses Bild ganz genau vor mir, wie könnte ich es jemals vergessen.“

Gottfried A., 1920 in einem kleinen steirischen Ort in der Nähe von Leoben geboren, wurde nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu den Alpenjägern einberufen, zum Sanitäter ausgebildet und an die russische Front in Norwegen und Finnland geschickt, wo er als einziger von etwa hundert Sanitätern unverletzt überlebte und mit einem Kameraden in das neutrale Schweden flüchtete – „weil wir mit diesem Krieg nichts zu tun haben wollten“, wie der aus Niederösterreich stammende Schauspieler Tobias Resch auf dem Hörbuch „Erinnerungen“ spricht. Höchst spannend auch die von Tobias Resch gelesene Autobiographie von Rudolf Kauders, Sohn eines Juden und Soldat, der in Europa gegen Hitler kämpfen wollte, bald darauf aber im heutigen Myanmar (damals die britische Kolonie Burma) dem Tod durch den Hinterhalt eines Einheimischen entging, weil er Letzteren erschreckend leicht überzeugen konnte, aus genau dem Land zu stammen, wo das Lied von der blauen Donau gesungen wird. „Manchmal ist es doch gut, Österreicher zu sein!“

Geschichte persönlich vermittelt

Wer heute im deutschsprachigen Raum Spuren von Reue wegen der nationalsozialistischen Vereinnahmung Österreichs sucht, findet sie bei linken Akteuren wie etwa dem Berliner Liedermacher Reinhard Mey, der im Song „In Wien“ seines Albums „Das Haus an der Ampel“ (2020) wie folgt auf Geschichtstournee in der Hauptstadt Österreichs geht: „Du wohlvertraute, fremde, schöne Schwester meiner Stadt,/Die, ein Symbol, als Wegweiser den Reim schon auf dich hat,/Vom Mantel der Geschichte manchen Fetzen mit dir teilt,/Manch unvergess´ne Kränkung, manche Wunde, die nicht heilt.“

„Wir waren immer krank, seelisch krank, und das verliere ich auch jetzt nicht, glaube es mir, das habe ich immer in mir, immer“, spricht Kulturaktivistin Mercedes Echerer auf dem Hörbuch „Erinnerungen“ stellvertretend für Walpurga Horvath, die 1923 in Trausdorf im Burgenland in einer Roma-Siedlung geboren wurde, ihre Tuberkulose-Erkrankung und das KZ Bergen-Belsen nach Befreiung durch die Briten nur dank intravenöser Ernährung überlebt hat und 2016 verstorben ist. Mercedes Echerer war 2019 Gast des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt/Sibiu (FITS) und gab in einem Interview für die ADZ auf die Frage, wie Massen einfacher Bürger davon zu überzeugen wären, dass ethnisch-konfessionell unterschiedliche Zugehörigkeiten keine Ratifizierung der Menschenwürde bedeuten, zur Antwort, dass „wir nicht erwarten können, dass Kirche oder Staat für uns das Problem lösen. Wir Menschen müssen es lösen.“ Dafür bürgen Zeitzeuginnen wie Erika Nemschitz, 1932 als Kind eines jüdischen Vaters in Wien geboren: „Mein Vater hielt sich im Hintergrund. Auf meine Frage, warum er das alles tue, und das Böse, das man uns antat, mit Gutem vergalt, gab er mir einen Satz mit auf meinen Lebensweg, der für mich zum Evangelium wurde: „Wenn Du alles im Leben vergisst – eines darfst Du nie vergessen: dass Du Mensch bist“, klingt die Vorlese-stimme von Mercedes Echerer im Hörbuch „Erinnerungen“.

Der 1995 gegründete Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus hat bereits mehr als 41.000 Antragstellerinnen und Antragsteller finanziell für im Zweiten Weltkrieg auf österreichischem Boden erlittenes Leid entschädigt. Sie leben heute in 80 Ländern weltweit. Nur wenige von ihnen sind nach Österreich zurückgekehrt. Auf der Liste der Wohnsitzländer aller somit erfassten Antragstellerinnen und Antragsteller sind auch Rumänien und Deutschland vermerkt. Das Hörbuch „Erinnerungen“, die gleichnamige Buchreihe und das Booklet „Geschichte persönlich vermittelt. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ können zum Selbstkostenpreis unter nationalfonds.org bestellt werden. Für Schulen sind die Bücher kostenlos gegen Versandkostenübernahme erhältlich.

Ausschnitte können kostenlos unter www.nationalfonds.org/hörbuch-erinnerungen angehört werden.