Es begann mit einer „Doina“ auf der Hirtenflöte...

Über seine Faszination für Rumänien und ihre Freundschaft: Der norwegische Historiker Jardar Seim im Gespräch mit dem Maler Ștefan Câlția

Ștefan Câlția (l.) und Jardar Seim (r.) erinnerten sich an gemeinsame Erlebnisse. | Foto: die Verfasserin

Aus Anlass der Ausstellung seines guten Freundes, des rumänischen Malers Ștefan Câlția, im Museum für Gegenwartskunst in Bukarest Anfang des Jahres, sprach der norwegische Historiker Jardar Seim mit diesem in einem ausgezeichneten Rumänisch über seine Erlebnisse in Rumänien und über ihre Freundschaft.

Jardar Seim wurde am 19. Mai 1943 in Oslo geboren und ist bereits 80. Er studierte Geschichte, Norwegisch und Rumänisch an der Universität Oslo und der Universität Lund. Seim ist Historiker und Mitglied des Norwegischen Historischen Vereins, Fachmann für osteuropäische Geschichte, die er zwischen 1983 und 2002 an der Universität Oslo lehrte, und außerdem ein begeisterter Förderer der rumänischen Kultur. Als Geschichtsforscher hat er die Bücher „Øst-Europas historie“ (Die Geschichte Osteuropas) und „Øst-Europa etter murens fall“ (Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer) veröffentlicht und war Mitherausgeber des 2007 im Verlag des Rumänischen Kulturinstituts Bukarest erschienenen Bandes „Relații româno-norvegiene. Documente diplomatice, 1905-1947 (Rumänisch-norwegische Beziehungen. Diplomatische Dokumente, 1905-1947). Letzteres ist eines der wenigen vorhandenen Werke, die sich mit den norwegisch-rumänischen diplomatischen Beziehungen befassen.

Außerdem hat er 1971 bis 1975 als Geschichts-, Norwegisch- und Sozialkundelehrer am Gymnasium in Volda und von 1983 bis 2008 am Gymnasium in Ski gewirkt. 

Seine Freude an der Arbeit mit Schülern hat er auch in Rumänien geübt. Daher verdanken ihm Absolven-tinnen und Absolventen des ehemaligen Gymnasiums „Unirea“ (heute Nationalkolleg „Unirea“) in Kronstadt/Brașov und des Gymnasiums in Ski, Norwegen, schöne interkulturelle Erfahrungen im Rahmen der zahlreichen Schüleraustausche, die er im Zeitraum 1993-2009 koordiniert hat.

Seine erste Reise nach Rumänien begann ebenso mit einem Studentenaustausch.

Von einem Hirtenlied nach Rumänien gelockt

Die erste Begegnung des Norwegers mit der rumänischen Kultur ereignete sich Anfang der 60er Jahre, als Seim durch reinen Zufall eine auf der Hirtenflöte gespielte „Doina”, ein rumänisches Hirtenlied, im Radio hörte. Sein Interesse für ein Land, das sowohl abgelegen als auch kulturell und politisch sehr anders war, wurde durch dieses Lied geweckt. Er nahm sich vor, Rumänisch an der Universität in Oslo zu studieren. Leider bekam er eine Absage von einem Professor vom Departement für Romanische Sprachen an der besagten Universität. Dieser rief Seim jedoch ein Jahr später an und bot ihm einen einjährigen Studentenaustausch im Rahmen des ersten bilateralen Kulturabkommens zwischen Norwegen und der Sozialistischen Republik Rumänien. Im Kontext des Kalten Krieges hinterfragten viele Bekannte und Verwandte seine Entscheidung, ein ganzes Jahr in einem kommunistischen Land mit einem totalitaristischen Regime verbringen zu wollen. „Ich will sehen, wie es dort ist“, antwortete ihnen der Jugendliche, von Neugier getrieben. 

So reiste Jardar Seim 1965 erstmals nach Rumänien. „Das passierte vor 58 Jahren. Ich kann es kaum fassen!“, gestand der Historiker. Außer ihm gab es in jenem Studienjahr keinen anderen norwegischen oder rumänischen Austausch-Kandidaten. 

Zunächst beteiligte sich der Norweger an einer Sommerschule für Studierende aus dem Ausland in Sinaia, Kreis Prahova. Dort kam Seim am 10. Juli 1965 an, ausgerechnet am Stichtag, an dem der spätere Diktator Nicolae Ceaușescu infolge des 9. Kongresses der Arbeiterpartei, die er gleich darauf in Rumänische Kommunistische Partei (PCR) umbenannte, zu ihrem Generalsekretär gewählt und dadurch zum Staatsoberhaupt der damaligen Volksrepublik Rumänien wurde. „Warst nicht du es, der den Ceaușescu hierher gebracht hat?“ scherzte der Maler Ștefan Câlția. 

Jardar Seim musste nach wenigen Tagen zugeben, dass seine Familie und Freunde recht hatten. Die täglich auf den Straßen übertragenen Propagandanachrichten schienen ihm unerträglich. 

In jenem Sommer begab er sich mit den anderen Teilnehmern der Sommerschule auf eine Reise nach Kronstadt/Brașov, Sarmizegestusa, Kreis Hunedoara, Adamclisi und Mamaia, beide im Kreis Konstanza. 

Im Rahmen des Austauschprogramms besuchte Jardar Seim Rumänisch-Kurse am Institut für Fremdsprachen (der heutigen Fakultät für Fremdsprachen) in Bukarest und wohnte im Studentenheim. Zusammen mit einem Freund unternahm er eine Reise in die Südbukowina und die beiden trampten zu den dortigen Klöstern und Kirchen. „Ich wollte einen besseren Einblick in die echte rumänische Kultur und Geschichte, jenseits der Vorlesungen von der Uni und der kommunistischen Propaganda bekommen.“

Der Eindruck eines Spitzels der Securitate

Das Lesen der vollständigen Unterlagen, welche die Geheimpolizei Securitate über ihn gesammelt hatte, nach der Wende 1989, empfand der Historiker als „ungewöhnliche Erfahrung“. Über ihn schrieb ein Spitzel der Securitate am 5. Oktober 1965 eine Notiz, die folgenderweise lautet: „Durch den amerikanischen Studenten Thadeus Ferguson habe ich den norwegischen Studenten Seim Jardar kennengelernt, der zurzeit im Studentenheim Grozăvești (...) wohnt. Er ist ca. 21 Jahre alt, verheiratet und stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie. Er ist blond, hochgewachsen, hat blaue Augen, ein unauffälliger Typ im Allgemeinen, schwer zu bemerken, wenn man ihn nicht kennt.

Nachdem man sich mit ihm unterhalten hat, hat man den Eindruck, er ist ein geselliger, sogar witziger Mensch, bereit über jedes beliebige Thema (insbesondere über Politik und angrenzende Themen) leidenschaftlich zu sprechen.

Er scheint sich für Frauen nicht zu interessieren, obwohl ich ihn seit drei Wochen kenne. Mit ihm kann man sich auf Englisch und Deutsch, Sprachen, die er gut kennt, unterhalten. Er liest auf Französisch und Rumänisch, aber spricht diese Sprachen ziemlich schlecht. In Norwegen hat er Philologie und Geschichte studiert. Er sagt, er interessiere sich nicht besonders für Sprachwissenschaft, sondern gleicher-maßen für alles was mit den beiden Bereichen zu tun hat. (…) Anscheinend wird er für ein Studienjahr in Rumänien bleiben.“ 

Seim erinnerte sich auch sofort an denjenigen, der ihn während seines Studentenaustausches als Spitzel im Auftrag der Securitate überwacht hatte. Er wurde der Spionage für die Vereinigten Staaten verdächtigt. Ein Jahr später wurde sein Dossier abgelegt, da er „definitiv in sein Heimatland zurückgereist und das erhaltene Material über ihn von geringer Bedeutung war“, so die Entscheidungsbegründung der Geheimpolizei.

Dem Tod beinahe ins Auge gesehen

1976 kehrte der Historiker mit einem Geschichtsforschungsstipendium – diesmal in der Begleitung seiner Frau und Kinder – nach Rumänien zurück. So verbrachte er sechs Monate in Klausenburg/Cluj-Napoca. Der letzte Tag seines Aufenthalts war der 4. März 1977, an dem das schwerste Erdbeben Rumäniens stattfand. Am meisten betroffen war die Hauptstadt und nur zwei Wochen davor hatte die Familie Seim im Victoria-Hotel übernachtet, das zusammen mit anderen 32 hohen Gebäuden und Blocks beim Erdbeben einstürzte und 1500 Todesopfer forderte. „Ich kann die Atmosphäre am Tag des großen Erdbebens, als wir in Richtung der Grenze fuhren, nicht vergessen. Leute trauerten im ganzen Land, insbesondere in Bukarest“, erinnerte sich Seim. 

Eine andere Erfahrung, die für ihn schwer zu vergessen ist, war der Sturz von Nicolae Ceau{escu und die Dezemberrevolution 1989, die er als Mitglied eines hierher zur Berichterstattung entsandten norwegischen Radio- und Fernsehteams miterleben durfte. 
„Natürlich kann ich nur einiges von dem streifen, was dieser Norweger, der in Norwegen inzwischen einige ungewöhnliche Rumänen getroffen hat, gesehen und gedacht hat“, bat er die Zuhörer inmitten seines Vortrags um Verständnis.

Freundschaft mit rumänischen Persönlichkeiten

Im Sommer desselben Jahres lernte er die Künstler Ștefan Câlția und Sorin Ilfoveanu „zufälligerweise“ in der Stadt Voss bei ihrer gemeinsamen Ausstellung während seines Besuchs bei seinen Schwiegereltern kennen. „Nichts ist Zufall!“, nickte ihm Câlția zu. 

„Seither war in unserer Freundschaftsbeziehung nichts Zufälliges mehr...“, erwiderte Seim. 

Den Kontakt zu beiden hat der Norweger bis heute durch die Leistung praktischer Hilfe bei weiteren Ausstellungen in Norwegen, gegenseitige Hausbesuche, Atelierbesuche und Gespräche über Kunst, Menschen, Geschichte und „ganz wichtige“ Kleinigkeiten gepflegt.

Einige der schönsten gemeinsamen Erinnerungen teilen die Künstler und der Historiker von einem Urlaub auf der Insel Kinn im Westen Norwegens. An diesem Zufluchtsort des Friedens angelten die drei und feierten ihre zeitlich naheliegenden Geburtstage zusammen, so einfach wie möglich, durch den Verzehr von gesammelten Beeren. 

„In einer absurden und verrückten Welt schafften wir es, durch solche Augenblicke und Begegnungen ein normales Leben zu führen“, betonte Ștefan Câlția. „Ich schätze die Natürlichkeit, Bescheidenheit und Ehrlichkeit der Norweger. Die ordentliche, disziplinierte und traditionsgebundene Welt, die sie vertreten, war für uns beiden Künstler während des Kommunismus nicht nur das einzige Land, in dem wir uns einen Aufenthalt leisten konnten, sondern eine Oase der Ruhe und Schönheit. Für unsere vielen Reisen nach Norwegen, für die Möglichkeit, dort auszustellen, für seine Unterstützung und ehrliche Freundschaft möchte ich mich bei Jardar hiermit auch öffentlich bedanken“, schloss Ștefan Câlția ihren Dialog bewegt ab.

Auch für die Schriftstellerin und Menschenrechtlerin Ana Blandiana gilt Jardar Seim als ein alter Freund. Er hatte 1995 einen Gastvortrag in Oslo bei der Eröffnung der Ausstellung „Gedenkstätte Sighet“, die das von Blandiana initiierte Projekt der Gedenkstätte für Opfer des Kommunismus und des Widerstands in Sighet vorstellte, gehalten. Der Leitspruch des norwegischen Historikers „Sighet ist ein ,Befreinis‘ (rum. ,deschisoare’), wodurch die Geschichte einer Hälfte Europas befreit und der Freiheit der Wahrheit Platz gemacht wird“ und seine Bekanntschaft im Allgemeinen haben Blandiana dermaßen beeindruckt, dass Seim als Gestalt in ihrem 2020 veröffentlichten Buch „Soră lume“, im Kapitel über ihre Erlebnisse in Norwegen, die sie in Staunen versetzten, erscheint. 

Darüber hinaus beteiligt sich Jardar Seim immer wieder an Rumänien bezogenen Veranstaltungen in seinem Heimatland. Zum Beispiel wurde er 2010, am 1. Dezember, dem Nationalfeiertag Rumäniens, von der Liga der Rumänischen Studenten im Ausland (LSRS) als Gastredner an der Norwegischen Fakultät für Management BI in Oslo eingeladen. Am 31. August 2015 hat Seim eine Rede anlässlich des Tages der rumänischen Sprache an der Botschaft Rumäniens in Oslo gehalten und ebenfalls in der norwegischen Hauptstadt hat er 2018 ein einleitendes Wort im Rahmen der vom Rumänischen Kulturinstitut ICR Stockholm und der rumänischen Botschaft in Norwegen organisierten Rumänischen Filmtage gesprochen. 

An allen diesen Ereignissen hat Jardar Seim nicht nur als Spezialist für osteuropäische Geschichte, sondern vor allem als Freund der rumänischen Kultur teilgenommen.