„Es gibt keine Zeit für Gelassenheit“

Gespräch mit MdEP Nicu Ștefănuță

Foto: Privatarchiv Nicu Ștefănuță

Der am 3. Januar 1982 in Rășinari bei Hermannstadt/Sibiu geborene Nicu Ștefănuță studierte in Temeswar, Wien und Georgetown (USA). Als Mitglied des Europäischen Parlaments (seit 2019) ist er stellvertretender Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zu den USA, Mitglied in der Budgetkommission und Mitglied der Kommission für Umwelt, öffentliche Gesundheit und Nahrungssicherheit. Über Umweltschutz, Zivilgesellschaft und anstehende politische Herausforderungen sprachen mit Nicu Ștefănuță die Sprachaktivistin Daniela Boltres und ADZ-Redakteur Roger Pârvu. 

Wo begann Nicu Ștefănuțăs politischer Werdegang? War es die Familie, wo Sie damit erstmals in Berührung kamen?

Meine Interesse für die Politik kommt nicht aus dem Familienkreis. Meine Familie besteht aus Leuten, die vom Land kommen: Mein Vater ist Tierarzt und meine Mutter Agronomin. Beide entstammen Schafzüchterfamilien. Ich liebe das Land, ich liebe die Natur, ich liebe Tiere – das kommt aus der Familie. Auch die Liebe für Siebenbürgen, für die ethnische Vielfalt und Sprachen, für Volkstänze und Traditionen. Die Ursprünge dafür sind in meinem Leben in Hermannstadt und Umgebung zu suchen.Aber das Inte-resse für Politik kommt ganz klar aus den Tagen der Revolution. Ich habe die Wende als Kind in Hermannstadt hautnah erlebt. Wir wohnten in einem kommunistischen Hochhaus in der Nähe des Sitzes der Securitate und der Miliz – die Schüsse, der Tod unseres Nachbarn, Herrn Neme{, welcher niedergeschossen wurde, die von der Menge gerufene Parole: „Libertate“ (Freiheit), prägten sich mir so stark ein, dass es irgendwie natürlich war, dass sich mein Leben in Richtung Politik, Geschichte, internationale Beziehungen entwickelte. Diese Interessen haben sich bis heute nicht geändert. 

Seit mehr als zehn Jahren wird von „neuen Menschen“ in der rumänischen Politik gesprochen. Wie erleben Sie, als junger Politiker, den „Kampf“ mit dem politischen Establishment? Gibt es diesen überhaupt?

Diesen Kampf gibt es tatsächlich. Wenn man tagesaktuell den Skandal um die Altersheime be-obachtet, versteht man, dass ein veraltetes, korruptes System nach wie vor seine Vertreter in der rumänischen Politik hat. Problematisch ist, dass manche dieser Angewohnheiten auch bei jungen Politikern wiederzufinden sind. Dieses war der Grund, warum ich die USR (Union Rettet Rumänien) nach mehr als sechs Jahren Mitgliedschaft verlassen habe. 

Es gibt aber noch genügend Leute, die sich nach wie vor für die wahren Werte einsetzen. Für diese Leute, die sich in der Politik eher verlassen fühlen, habe ich mich entschieden, eine echte, moderne grüne Bewegung in Rumänien aufzubauen. Eine Bewegung, die keine Angst hat, Themen anzusprechen, über die keine andere Partei in Rumänien im Moment spricht. Es geht nicht nur um Themen der Ökologie, wie Klima oder die grüne Wende, sondern auch z.B. um die Rechte der sexuellen Minderheiten, die psychische Gesundheit und die fast pandemische Anzahl der Depressionen, an denen ein großer Teil unserer Jugend leidet, wenn wir von den Zahlen von Teen-Lines wie depreHub ausgehen, Fairness in der Wirtschaft und Nachhaltigkeit als Gesellschaftsmodell, um nur einige Themen zu nennen. Rumänien kann und muss zukunftsorientierter denken. 

Sie beziehen sich dabei auf die Neugründung SENS (Partei Gesundheit, Bildung, Natur, Nachhaltigkeit). Glauben Sie, dass die rumänische Wählerschaft in ihrer Breite ein Interesse hat, Grün zu wählen?

Ehemalige Kollegen aus der USR haben SENS gegründet. Meine Arbeit besteht darin, aus grün-gesinnten Parteien wie Volt, ACUM, SENS und anderen eine breite, echte grüne Koalition zu bauen. Das Publikum für eine reale grüne Koalition ist da. Sie brauchen aber einen Plan, jemanden, der sie organisiert und zusammenbringt. Das ist umso wichtiger weil nächstes Jahr in Rumänien alle vier Wahlen innerhalb von sieben Monaten stattfinden. Diese Koalitionsarbeit, die ich im Moment durchführe, ist auch deswegen wichtig, weil sie einen Weg vorschlägt, wie man einer Entwicklung des rumänischen politischen Systems nach dem Muster Polens oder Ungarns entgegenwirken kann. Ich versuche, alle grün-gesinnten Parteien, Vertreter der Zivilgesellschaft, aber auch Unabhängige unter dieser Fahne zu versammeln. Wir haben eine echte Chance, in Rumänien eine neue Weise, Politik zu betreiben, anzubieten.

2024 haben wir auf allen Ebenen Wahlen in Rumänien. Es zeichnet sich leider ab, dass eine nationalistisch-populistische Partei die drittgrößte politische Fraktion stellen wird.
Die national-populistische Bewegung in Rumänien ist mindestens unglaubwürdig, wenn wir uns zum Beispiel die Nähe des Parteivorsitzenden zu Moskau ansehen, dem eben deswegen die Republik Moldau die Einreise verweigert. Bei AUR (Allianz für die Vereinigung der Rumänen) sind Russland-Verbindungen, intransparente Finanzierung, Nutzung von Fake News und klarer Mangel an Kompetenz und Lösungen wiederzufinden. Eine Regierungsbildung, an der AUR beteiligt sein wird, wird die Freiheit der Zivilgesellschaft bedrohen, zur Kürzung von ausländischen Förderungen oder sogar zur Einstellung derselben führen. Was ich zu erklären versuche: Abzuwarten wäre ein großer Fehler. 2028 abzuwarten, als Datum für Neuwahlen, wird nur noch theoretisch funktionieren. Denn in der Zwischenzeit kann und wird viel Schlechtes passieren. Es gibt leider keine Zeit für Gelassenheit. 
Die national-populistische Bewegung, trotz eines offensichtlichen Mangels an realistischen Angeboten und Antworten, mobilisiert seit Jahren mittels Propaganda, Fake-News, aber auch durch die Instrumentalisierung der schwierigen Wirtschaftslage einen gewissen Teil der Wählerschaft. Es steht viel auf dem Spiel, sogar die Freiheit der Medien. Es gilt: Wir müssen uns jetzt einsetzen, um später weniger zu leiden. Deswegen glaube ich, dass unsere Strategie darauf ausgerichtet sein muss, dass wir so viele neue oder entmutigte Wähler für unser Projekt gewinnen wie nur möglich. 

Die rumänische Zivilgesellschaft hat gezeigt, dass sie mündig genug ist, um in Krisensituationen als Kontrollinstanz zu reagieren. Zurzeit scheint sie sich aber im Dornröschen-Schlaf zu befinden. Was fehlt? 

Es fehlt ein Notgefühl. Die Enttäuschung durch die im Parlament vertretenen Parteien führt auch dazu, dass viele sagen – „Ich habe meinen Part getan. Jetzt ist es wieder Zeit für meinen Beruf, für die Familie.“ Es hat sicher auch damit zu tun, dass die junge Generation und etliche aktive Menschen von der USR enttäuscht waren. Sie sagen sich: „Ich habe es schon einmal probiert, wozu noch der Stress“. Politik hört aber nicht auf, Politik betrifft auch die Finanzierung des Bildungssystems zum Beispiel, sowie auch die Entscheidung, ob wir überhaupt noch Bäume in Bukarest oder Klausenburg haben oder nur noch zwischen Zementblöcken leben. Diese Leute, ihre Energie und Wünsche muss man auch in Zukunft weiterhin richtig vertreten.

Wo müsste man im städtischen und im ländlichen Raum ansetzen, um ein reales Umweltbewusstsein in Rumänien zu schaffen?

Leider wurde bis jetzt in zu vielen Bereichen nur Scheinarbeit geleistet. Vor allem was den Schutz der Wälder betrifft oder den Schutz von Grünflächen in den Städten. Noch unlängst wollte das rumänische Parlament das Gesetz betreffend Grünflächen wesentlich ändern, sodass für neue Immobilienprojekte nur noch zehn Prozent Grünflächen vorgesehen werden sollten, nicht wie bis jetzt 30 Prozent. Was den Schutz der Waldflächen betrifft, hätte sich ohne die im Raum stehende Bedrohung durch ein Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission im Bereich der Überwachung der Entforstung in Rumänien nichts getan. Der europäische Druck muss weiterhin erhalten bleiben. Aber ich versuche, die ganze Problematik den rumänischen Bürgern auch als Chance hinsichtlich einer positiven Entwicklung für uns als Land vorzustellen. 

Zum gleichen Bereich gehören die sozialen Aspekte. Ohne das Soziale tut sich das Grüne schwer. Die Energiewende benötigt staatliche Hilfe, wie im Bereich Bauisolierung oder neue Energiequellen. Wichtig ist, daran zu erinnern: Die Menschen haben nicht unbedingt eine Vorliebe für einen bestimmten Heizstoff, sondern sie wünschen Komfort und niedrige Preise. Wir müssen also zeigen, wie wichtig die nachhaltige Wirtschaft und die erneuerbaren Energien sind, dass sich diese im Endeffekt kostensenkend auswirken und uns als Gesellschaft gesünder machen. Die Leute in Rumänien haben nicht unbedingt eine Vorliebe für Erdgas oder Kohle, vor allem, wenn diese als Heizstoff im Winter zu Rechnungen von mehreren Tausend Lei führen. Beweis dafür: Das Programm für Solarenergie wurde innerhalb von drei Minuten komplett ausgeschöpft, so groß ist das vorhandene Interesse. 

Hier müssten aber die Kommunen, die Industrie und Eigen-initiativen zusammen wirken. Wo sehen Sie hier die Herausforderungen?

Klar, das ist auch meine Ansicht. Ich habe Robert Habeck (Vizekanzler der BRD, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Anm. d. Red.) in Berlin getroffen und gemerkt, wie wichtig es ist, dass sich auch die rumänische Industrie an der grünen Wende beteiligt. Ich gebe ein Beispiel dafür: In Siebenbürgen gehört der größte Teil der vorhandenen Industrie der deutschen Automobil-Branche an. Mit der Verbrenner-Entscheidung wird es sich zeigen, ob sich die rumänische Industrie anpassen wird oder nicht. Für Rumänien wird es von zentraler Bedeutung sein, ob wir den ganzen uns zur Verfügung stehenden Resilienzhaushalt und die gesamten europäischen Fonds abrufen oder nicht, da diese Gelder auch an den Green-Deal gekoppelt sind. Die grüne Wende ist in erster Linie ein Wirtschaftsplan für die Zukunft. 

Leider ist Rumänien ein viel zu zentralisiertes Land. Die Regionen und die Kommunen sollten von sich aus mehr entscheiden können, vor allem wenn es um europäische Fördergelder geht. Ich bin überzeugt, sie wären viel effizienter und klüger bei der Umsetzung von Projekten. Ich versuche, die Menschen auch über Fonds zu informieren und zu beraten, die unmittelbar von der Europäischen Kommission kommen. Daraus kann man, zum Beispiel, auch Energieprojekte im ländlichen Raum finanzieren. Die Eigeninitiative fehlt eigentlich nicht. Bürger sowie Unternehmen sind bereit. Der Staat ist aber viel zu langsam, zu korrupt, zu stark von parteipolitischen Interessen eingenommen und wird langsam konservativ und nationalistisch.

Sie kommen aus dem ländlichen Raum. Rumänien nutzt sein Potential diesbezüglich eher spärlich. Wo sehen Sie Probleme, Herausforderungen und mögliche Lösungen?

Ich komme tatsächlich aus R²{inari, einer Kommune nicht weit von Hermannstadt/Sibiu. Rumänien hat großes Potenzial, vor allem im Bereich der gesunden Ernährung. Wir haben sehr große Flächen, die noch nicht durch den Einsatz von Pestiziden zerstört wurden. Das Potenzial für die Produktion von gesunden Lebensmitteln ist enorm. Die Zukunft des ländlichen Raums wird aber nicht mehr nur von der Landwirtschaft bestimmt. Natürlich bleiben die Bauern, die nachhaltige Landwirtschaft betreiben, von zentraler Bedeutung. 
Doch die in Folge der Pandemie im ländlichen Raum ansässig gewordenen „digitalen Nomaden“ prägen das Leben mit. Es sind junge, aktive Leute, die die Städte verlassen haben, um ein Zuhause im ländlichen Raum zu finden. Das führt zu einer Diversifizierung der im ländlichen Raum vorhandenen Berufe. Sie prägen das Dorfbild mit, indem sie zum Beispiel teilweise verfallene Häuser wieder herrichten. Ihnen müssen wir eine richtige Infrastruktur anbieten. Freies und schnelles Internet, aber auch entsprechende Gesundheitsdienstleistungen oder qualitative Angebote im Bildungswesen. 

Danke für das Gespräch.