„Es ist schwer, einer Tradition zu folgen, von der in Rumänien alle Spuren verwischt wurden“

Drag: Identität durch Übertreibung, Make-Up und Befreiung von Normen

Dragqueen Mary Magdalene auf ihrer Performance „DragOLicious“ | Fotos: Alexandra Cojocaru

Stefan traut sich auf die offene Bühne

Immer mehr junge Menschen entdecken ihre queere Identität und kämpfen für ihr Recht, zu sein und zu lieben, wie und wen sie wollen, auch in Rumänien. ADZ-Redakteur Dirk Hornschuch erkundet die „queere Szene” in Bukarest, hat einen Ausflug zu einer Drag-Show gemacht und sprach mit der Dragqueen Mary Magdalene über ihren Werdegang und die Herausforderungen als queere Künstlerin.

Es ist ein verschneiter Januarabend an einem Samstag im Bukarester Freiraum „Gradina ArtHub“ im ersten Bezirk. Ziemlich viele junge Menschen stehen im Hof an Heizpilzen, ein paar von ihnen sind stark geschminkt oder haben aufwendige Nägel, rauchen, unterhalten sich bei einem Getränk. 

Seit einer Woche wohne ich jetzt in Bukarest, bin frisch aus Deutschland nach Rumänien gezogen und noch ein bisschen allein. Ich laufe durch die Menschentraube am Eingang hindurch, schaue mir die Leute an, die sich für den heutigen Abend schick gemacht haben und warten, dass die Show losgeht. Die meisten sind wohl zwischen 16 und 25 Jahre alt. Gleich soll hier die Veranstaltung „DragOLicious“ stattfinden. Ich denke, cool, eine Veranstaltung für queere Menschen, vielleicht lerne ich hier neue Freunde kennen. 

Queer ist eine Sammelbezeichnung für Menschen, die zum Beispiel das gleiche Geschlecht lieben, sich nicht nur als Mann oder als Frau definieren oder jene, die im „falschen“ Geschlecht geboren wurden. Queer kann alles sein, was der Norm von Heterosexualität, klassischem Mann-Frau-Verständis oder Ehe widerspricht: Eine alleinerziehende Mutter, drei Menschen, die glücklich in einer Liebesbeziehung sind oder ein schwules Paar mit Kinderwunsch, das diesen nicht erfüllt bekommt.

Die Empfehlung für „DragOLicious“ habe ich von Stefan bekommen, der mich auch eingeladen hat. Mit ihm habe ich die letzten Tage auf einer Dating-App für Schwule geschrieben. Er ist heute auch hier, aber ich habe ihn noch nicht erkannt, denn er ist in Drag: Er ist bestimmt geschminkt, hat vielleicht eine Perücke, ein Kleid, vielleicht sogar Stöckelschuhe an. 

Warum ich hier bin und mit Stefan über eine App schreibe, ist eigentlich naheliegend: Ich bin ein queerer Mann, 28 Jahre alt, bisexuell. Das heißt, ich stehe sowohl auf Männer als auch auf Menschen anderer Geschlechter. Ich bin androgyn, manchmal halten mich Leute für eine Frau und ich finde das nicht immer cool, aber oft gefällt es mir auch, wenn ich nicht „eindeutig“ einem der beiden klassischen Geschlechter zugeordnet werden kann. Leider verunsichert das manche Menschen auch, mich aber auch manchmal. Deshalb suche ich, wie andere Queere auch nach Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, für die meine Probleme und Bedürfnisse schneller zugänglich sind. Auch deshalb bin ich heute hier, weil ich nach einer Gemeinschaft suche.

Jetzt erkenne ich Stefan: Er hat eine Hornbrille auf, einen schwarzen Spitzbart und eine Hose im Schachbrettmuster. Er ist mit seinen Freunden hier und alle begrüßen mich herzlich. Endlich bin ich nicht mehr allein!

Wertschätzende Atmosphäre 

Das Licht geht aus, es läuft Pop-Musik, jetzt geht die Show los: Eine Dragqueen in rotem Leder tritt auf die Bühne, sie spricht ziemlich theatralisch, übertrieben und wünscht uns viel Spaß, bevor sie zu einem bekannten Pop-Hit tanzt. Sie ist die Gastgeberin heute Abend und stellt sich als Mary Magdalene vor. 

Was nun folgt sind zwei Stunden Anekdoten, Witze, Tanzeinlagen und Lip-Syncy, die Kunst, den Text eines Songs so authentisch wie möglich mit dem eigenen Mund nachzubilden, während das Original-Musikstück läuft. Zwischendurch kündigt Mary die anderen „Königinnen” an und sorgt mit spitzem Witz für jede Menge Lacher. Das Publikum ist irgendwie Teil der Performance, redet rein, klatscht oder jubelt. Alle haben Spaß, aber achten auch aufeinander. Ich fühle mich irgendwie gut aufgehoben und ein bisschen familiär, auch, wenn ich hier niemanden so richtig kenne.

Zum Ende der Show gibt es noch eine Überraschung. Es gibt eine “offene Bühne”, ein “battle” (Kampf): Wer möchte, kann spontan ein Lied vorschlagen und dazu vor dem Publikum performen. Sofort melden sich einige Leute aus dem Publikum bei der DJane, auch Stefan traut sich. Für seine Darbietung des Schlagers “Temps de l’Amour” von Francois Hardy bekommt er viel Beifall. Es nicht darum, wie „gut” die Leute auf der Bühne sind, das Publikum will unterstützen, feuert an, zu performen und zele-briert, dass man sich auf die Bühne getraut hat. „Ich liebe die Atmosphäre sehr und die Gemeinschaft hier”, freut sich Stefan, als er euphorisiert von seinem Auftritt zurückkommt. “Ich fühle mich einfach gut und bestätigt, wenn ich hierher komme.”

Später gehe ich mit Stefan und seinen Freundinnen noch in der Stadt tanzen. Es ist ihm wichtig, dass wir ihn begleiten und nicht allein sind, denn er zieht viel Aufmerksamkeit mit seinem Make-Up auf sich und das ist nicht immer positiv.

Dragqueen Mary organisiert ihre Shows selbst

Ich bin ziemlich hinweggefegt von dem Abend mit den vielen Drag-Performances, den übertriebenen Outfits und der Gemeinschaft, den vielen jungen Erwachsenen, die es feiern, bestimmte Ideen von Schönheit, Geschlecht und Erwartungen zu dekonstruieren, zu verändern. Ich will mehr über die Drag-Szene in Rumänien wissen, schreibe der Gastgeberin, Dragqueen Mary Magdalene, auf Instagram.

Ein paar Tage später treffen wir uns zu einem Gespräch in einem Cafe in der Innenstadt. Sie ist 21 Jahre alt, studiert in Bukarest und ich möchte von ihr wissen, wie sie dazu gekommen ist, Drag-Künstlerin zu werden. „Schon als Kind habe ich mich für Burlesque interessiert und diese Ikonen wie Josephine Baker, diese übertriebene, überzeichnete Weiblichkeit”, erklärt sie.

Wie viele junge, queere Menschen in Rumänien kennt Mary das Konzept von Drag vor allem aus der bekannten, US-amerikanischen Fernseh-Show „RuPauls DragRace“, die mittlerweile Ableger auf der ganzen Welt hat. Eine Drag-Show in Rumänien hat sie aber erst gesehen, nachdem sie für ihr Studium nach Bukarest gezogen war.

„Ich habe Bukarest in der Pandemie kennengelernt und da gab es die ersten Drag-Veranstaltungen erst wieder Anfang 2022. Und als ich dann zum ersten Mal hautnah bei einer Performance dabei war, dachte ich sofort: Oh, ich liebe das! Ich will das auch machen!” Mary hat dann schnell angefangen, ihre Drag-Identität aufzubauen und selbst vor Publikum zu stehen. „Die erste Show, bei der ich aufgetreten bin, habe ich selbst organisiert”.

Mary Magdalene ist ihr Künstlername, der von einer sehr starken Frau aus ihrem Umfeld inspiriert ist: „Sie war schon immer sehr zart, feminin und ziemlich overdressed. Das habe ich an ihr bewundert. Ich wurde als Junge geboren und sie hat mir gezeigt, dass es auch okay ist, feminin zu sein. Das war irgendwie mein Eintritt in Weiblichkeit.” Außerdem sei Mary in einem sehr religiösen Haushalt aufgewachsen und habe dadurch viel über das Christentum erfahren. „Ich mag die Stärke, die der biblische Charakter Maria Magdalena hat. Sie hat diese kontroverse Geschichte mit der Dämonenaustreibung und trotzdem ist sie so mächtig. Sie war ziemlich reich, Sexarbeiterin und hat Jesus sozusagen finanziert. Mir gefällt, dass sie so ein Boss war”, lacht Mary und schiebt hinterher: „Ich glaube, das bereitet vielen Männern Unbehagen.”

Ich bin fasziniert, aber auch ein bisschen überrumpelt. Wenn ich Mary eine Frage stelle, sprudeln die Antworten aus ihr heraus. Sie ist sehr überlegt, konzentriert, punktgenau. Wo kommt diese Stärke her?

Kaum Vorbilder für queere Menschen in Rumänien

„Es gibt kein überwältigendes Interesse an Drag in Rumänien. Wir machen das alles selbst, organisieren, beschaffen Geld für die ganze Arbeit, bewerben die Veranstaltungen”, erzählt Mary. Trotzdem kamen zum letzten „DragOLicious“ rund 100 Leute. In der ganzen Stadt tauchen immer wieder vereinzelt kleinere Shows auf, auch neue Partyformate. Ansonsten sieht es wohl eher mau aus mit Drag-Shows in anderen Städten.

Mary hat anfangs 14 Kneipen und Veranstaltungsorte in Bukarest angefragt und ihre Idee wurde immer abgelehnt, bis sie beim fünfzehnten Anlauf auf den „Gradina ArtHub” in der Nähe der Piața Romană gestoßen ist. „Der organisatorische Aufwand bringt mich manchmal an meine Grenzen, aber ich liebe es.“

Nach Vorbildern von Drag aus Rumänien gefragt, kann Mary eigentlich keine nennen: „Ich glaube, es gab in der Vergangenheit in Rumänien ein paar Dragqueens, vielleicht haben sie sich nicht als solche bezeichnet. Aber diese ganze Sache durfte im Sozialismus natürlich keine Öffentlichkeit haben, ähnlich wie Homosexualität, und auch in den 90ern und 2000ern war es schwer.” 

Homosexualität war noch bis 1996 illegal in Rumänien: Die wahrscheinlich letzte Gefangene, die wegen der Beziehung zu einer Frau inhaftiert war, Mariana Centeier, wurde erst 1998 entlassen. „Es ist schwer, einer Tradition folgen zu wollen, von der es fast keine Spuren gibt, weil es sie bis vor Kurzem nicht geben durfte”, sagt Mary und erklärt damit, warum sich so viele junge Erwachsene medial Richtung Westen wenden. Doch auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Menschen, die durch Kleidung, Make-Up und Übertreibung Geschlechterrollen aufbrachen, zum Beispiel im Berlin der zwanziger Jahre oder auf den Philippinen im 16. Jahrhundert vor Ankunft der spanischen Truppen. „Es ist eine ziemlich bekloppte Definition, dass es nur um Männer in Perücken geht”, ärgert sich Mary. Sie selbst definiert sich als nicht-binäre Person, das heißt, sie ordnet sich weder als Mann noch als Frau ein.

Was ist also genau Drag? Worum geht es dabei? Meine Definition, nachdem ich mit Mary, Stefan und anderen bei „DragOLicious“ geredet habe: Jeder kann Drag machen. Es muss nicht hyper-feminin sein, Du brauchst nicht besonders gut  tanzen oder schauspielern oder geschminkt zu sein. Es geht darum, dich und deine Identität auszudrücken, wie du es für richtig hältst – auf eine übertriebene, die Grenzen auslotende Weise. „Am Ende geht es um Befreiung vom Zwang, in eine vorgegebene Form passen zu müssen!”, sagt Mary. 

„Alle sollen sich willkommen und akzeptiert fühlen”

Vor den Shows braucht Mary immer Ruhe. Sie bereitet sich meistens zu Hause vor, weil das bequemer ist. „Manchmal frage ich Freunde, ob sie mich abholen können, oder ich nehme ein Taxi, aber ich würde niemals so in den Bus steigen.”

Letzten Sommer haben Marys Eltern herausgefunden, dass sie Drag macht. „Sie sind ein wenig besorgt”, erklärt sie. „Aber eher, weil sie denken, dass es ziemlich prekär ist, das in Rumänien zu machen und dass es mir Nachteile in meinem späteren Berufsleben bringen wird.”

Bisher gab es in den Shows noch keine Störaktionen oder Handgreiflichkeiten, so wie es immer wieder bei der jährlichen Bukarester Pride, einer Protestparade für die Rechte von queeren Menschen, passiert. „Ich glaube, unsere Veranstaltungen sind klein genug, um noch ‚unter dem Radar’ zu laufen”, gibt sich Mary vorsichtig beruhigt.

Die nächste „DragOLicious“ Show findet am 30. März um 21 Uhr im Gradina ArtHub statt. Zu Besuch kommen zwei Gäste aus Klausenburg, Gazelleh und Ana Sassin. „Ich bin begeistert, sie in meiner Show begrüßen zu dürfen. Die beiden haben sich ausgesucht, dass es beim nächsten Mal eher unheimlich, gruselig und grotesk wird.” Außerdem wird es wieder eine offene Bühne geben und generell gilt für Mary: „Ich will allen, die zu der Show kommen auch ein Gefühl von Willkommen- und Akzeptiertsein geben. Etwas, was auch ich im Teenageralter besonders wollte.”