Europäische Hochkultur auch ohne Weihnachtsmarkt

Hermannstadt hat die Wahl zwischen Selbstmitleid und Arbeit an sich selbst

Ende September versprach der Unternehmer Andrei Drăgan Răduleț, Co-Inhaber der Lebensmittelgesellschaft für Fleischwaren SC Bătrânu Sas SRL und Alumnus der Lucian-Blaga-Universität Sibiu (ULBS), die Auflage 2020 des Weihnachtsmarkts auf dem Großen Ring/Piața Mare in Hermannstadt „nicht als Kompromiss-Auflage“ planen zu wollen – obwohl er einräumte, die maximale Anzahl der Verkaufshütten von über 100 auf 70 herunterzufahren, wodurch „der Raum zwischen den Menschen großzügiger wird“. Auch die Marktbühne hatte Andrei Drăgan Răduleț vorausschauend aus dem Angebot gestrichen, um Menschentrauben entgegenzuwirken. Beibehalten werden sollte die Aufstellung des 2019 erstmalig betriebenen Riesenrades an der südöstlichen Ecke des Großen Rings, wo unter anderem das Bischofsamt der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) und die Hauptgeschäftsstelle des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) zuhause sind.

Vier Wochen später rollten Fahrzeugkräne und ein Materialwagen der lokalen GmbH Electro-Con Impex SRL auf den Großen Ring. Elektrohandwerker im Blaumann machten sich im Auftrag von Stadt, Einwohnern und Touristen daran, die Lichterketten des Hermannstädter Weihnachtsmarkts über dem Hauptplatz der Altstadt aufzuspannen. Der üblichen Frist entsprechend wird das schillernde Winterzeltdach bis zum 2. Januar an Ort und Stelle funkeln und wahrscheinlich erst gar Mitte Januar von der Electro-Con Impex SRL wieder abgenommen werden. Die Weihnachtszeit und die Jahreswende 2019/2020 hat es bis einschließlich 14. Januar überdauert.

Ebenso wie das Lichtermeer den Großen Ring bei Dunkelheit und Nebel erhellt, wurde auch die mit Kugeln in dreierlei Farben geschmückte Tanne an ihrem angestammten Platz vor der römisch-katholischen Stadtpfarrkirche aufgestellt. Sie besteht aus Kunststoff und wird wohl in den kommenden Wochen von vergleichsweise wenig Menschen bewundert werden. Denn am Montag, dem 2. November, konnte Andrei Drăgan Răduleț die Absage des Weihnachtsmarkts 2020 nicht mehr länger hinausschieben. Er tat es durch eine Videobotschaft der Dauer von einer Minute und acht Sekunden.

Viel zu hoch schon die regionale Coronavirus-Infektionsrate, als dass man Gastgebern und Gästen noch Raum für Begegnung zur Verfügung stellen könnte, ohne deren Gesundheit zu gefährden. Diesmal wird der Weihnachtsmarkt-Kaufrausch schlicht und einfach ausbleiben. Wer ihn schmerzlich vermisst, hat beste Voraussetzungen, den eigenen Bezug zu Advent, Weihnachten, Neujahr und Epiphanias in neue Formen zu bringen.

Um sich darauf rückzubesinnen, dass demnächst Weihnachten, also die Geburt der sündenfreien Hauptperson des Neuen Testaments, gefeiert sein möchte, muss man nicht erst auf dicke Hose machen. Schließlich trägt man sein Christsein doch im Herzen statt im Portemonnaie. Was natürlich nicht bedeutet, dass man Letzteres nicht nötig hat und einem Weihnachtsmarkt, auf den in höchster Not verzichtet werden muss, nicht nachtrauern darf. Hermannstadt aber, das viel auf seine europäische Identität gibt, dürfte bald völlig ungewohnt auf sich selbst zurückgeworfen bleiben. Wer feiern will, wird es fast ausschließlich zuhause in den eigenen vier Wänden tun können.

Käse, Diakonie und Greenpeace

Der Verlust von ein paar wenigen wirklich guten Verkaufshütten wird nicht allzu schwer ins Gewicht fallen. Dass beispiels-weise die Molkerei aus der Harghita, die Hartkäse nach alpenländischer Rezeptur herstellt und alljährlich auf dem Weihnachtsmarkt am Großen Ring ihre Laibe feilbietet, diesmal kein Holzhäuschen in Hermannstadt betreiben kann, lässt sich wegstecken. Auch die Werkstatt für Schnitzerei und Drechselarbeiten aus der Harghita, die stets mit Nudelhölzern, Eierbechern, Backformen für Springerle und allerlei praktischen Haushaltsgeräten aus Holz aufwartet, wird trotz der Zwangspause, die auf Kosten von Corona geht, bei einigen Fans des Hermannstädter Weihnachtsmarkts nicht in Vergessenheit geraten.

An der Theke der Molkerei konnte es einem schon mal passieren, sich in eine Warteschlange einreihen zu müssen, weil gut betuchte Kundinnen in Pelzjacke vorne an der Kasse des Orderns nicht müde werden und derart seelenruhig nach Preisen und Sorten fragen, als ob die duftenden Käseräder allein für sie und niemanden sonst im Kühlregal aufgereiht worden wären. Kapitalismus macht allzu Selbstsichere das Rücksichtnehmen auf Mitmenschen leicht verlernen.

Schlangestehen am Weihnachtsmarkt – eine Erfahrung, die sich nicht zuletzt auch an der Verkaufshütte der Behindertenwerkstatt des evangelisch betriebenen Diakoniewerks Hermannstadt niemals einstellte.  Obwohl bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt, hat sich der Weihnachtsmarkt auf dem Großen Ring bislang noch nicht als Schaubühne für eine dringend nötige Hochkultur des Miteinanders verkaufen können. 40 Jugendliche von Fridays for Future (FFF) haben das Ende November 2019 hart zu spüren bekommen: Auf ihren spontanen Protestumzug rund um den Weihnachtsmarkt folgte nicht etwa die Anerkennung seitens öffentlicher Behörden, sondern eine saftige Strafgeldbuße der Polizei.

Greenpeace hat sich bald darauf eingeschaltet und gegen allen Widerstand erkämpft, dass Rumänien den Wortlaut des Gesetzes Nummer 61 bezüglich öffentlicher Proteste, das seit 1991 unverändert gilt, neu unter die Lupe der parlamentarischen Debatte nimmt. Wer sich im Land der Hauptstadt Bukarest eine tragfähige Demokratie für die Zukunft wünscht, muss gegenwärtig noch immer ausdauernd an der Vergangenheit basteln. Ist es tatsächlich zu viel verlangt, auf etwas mehr Mithilfe von Zeitzeugen der Vergangenheit bauen zu wollen?

Der Hermannstädter Weihnachtsmarkt eignet sich perfekt zum kapitalistischen Experimentieren, nicht aber zum Bauen an der Zukunft. Vor den Holzhäuschen von Unternehmern wie Andrei Drăgan Răduleț ist die Hochkultur des Miteinanders nicht daheim. Genau darum ist es auch vermessen zu behaupten, dass der Verzicht auf den Weihnachtsmarkt der Stadt am allermeisten wehtut. Die erste Druckwelle der Corona-Pandemie hat im März 2020 eingesetzt und die Humanitas-Verlagsbuchhandlung auf der zentralen Heltauergasse/Nicolae Bălcescu gezwungen, ihre Türen ganze acht Wochen lang geschlossen zu halten. Das geht härter an die Substanz als ein durch Not verordneter Verzicht auf Glühwein und Bratwurst!

Gras darüber wachsen lassen?

Die Vorstellung des und Autorenlesung aus dem neuen Roman  „Viața și întoarcerea unui Halle“ („Leben und Rückkehr eines Halle“), der im Polirom-Verlag aufliegt und die aufwühlende Biografie von Rudolf (Rezsö) Halle aus dem Banat literarisch meisterhaft nachzeichnet, war die erste Veranstaltung auf dem Plan der Humanitas-Verlagsbuchhandlung, die wegen der Corona-Pandemie nicht mehr live vor Ort stattfinden konnte.

„Ich habe viele Grabstätten des Großen Krieges gesehen, aber am meisten hat mich der Stein am Kopfende eines unbekannten Engländers beeindruckt, auf dem ,Nur von Gott gekannt‘ zu lesen war. Über mir wird nicht mal so viel zu lesen sein. Ich werde von der Erde mitsamt meiner Angst und meinen Hoffnungen in einer unmarkierten Grube verschwinden, über der ausschließlich das Gras wachsen wird. Und das ist gut so, denn ich möchte mein Kreuz nicht Anderen überlassen“, zitiert der Temeswarer Autor Alexandru Potcoavă seinen Urgroßvater, der nach 1918 als Bürger des neuen Staates Rumänien vom jüdischen zum christlichen Glauben übergetreten war.

Mitte November 2018 hatte die Humanitas-Verlagsbuchhandlung Hermannstadt die wenige Monate zuvor vom Schiller-Verlag veröffentlichte rumänische Übersetzung der Monografie „Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS“ von Paul Milata vorgestellt. Der Autor, Alumnus des Samuel-von-Brukenthal-Gymnasiums, sprach mit Historiker Dr. Sorin Radu, dem aktuellen Rektor der ULBS, über die Kollektivbiografie von 63.000 Rumäniendeutschen, die unter dem Zeichen der Deutschen Volksgruppe in Rumänien für die Eliteeinheit der Wehrmacht ins Feld gezogen waren.

Es geht nicht darum, Episoden der Vergangenheit, die offizielle Geschichtsschreibungen einzutrüben, nachträglich mit dem Manko des ausschließlich Schlechten zu überfrachten. Aber so zu tun, als ob Negatives nie passiert wäre, ist ebenfalls keine gute Strategie. „Die Erinnerung ist nicht immer der beste Ratgeber“, äußerte Soziologin Nadia Badrus, Übersetzerin der Monografie von Paul Milata, Ende Februar 2020 im Festsaal der ASTRA-Bibliothek Hermannstadt während der Debatte „Și ceilalți suntem tot noi. Din Sibiu către o Europă a diversității“ („Die Anderen sind auch wir. Aus Hermannstadt für ein Europa der Vielfalt“; siehe ADZ vom 10. März 2020). Trotzdem kann Erinnerung auch dort, wo sie einer Gemeinschaft keine Ehre bereitet, als Ratgeber nützlich sein. Denn nur wer vom Schrecklichen Bescheid weiß, kann es zukünftig verhindern.

Teile und herrsche nicht!

Zwischenmenschlicher Tiefgang als Hochkultur – das braucht Europa in Hermannstadt! Am 8. Mai 2020 hat das Kinder- und Jugendtheater „Gong“ auf seine Fassade ein Banner gespannt, auf dem ein Aphorismus des italienischen Literatur-Nobelpreisträgers Dario Luigi Angelo Fo (1926-2016) zu lesen war: „It was culture that united all the countries of Europe. The arts, literature, music are the connecting link of Europe“ („Es war die Kultur, die alle Länder Europas vereinigt hat. Die Künste, die Literatur und die Musik sind das verbindende Element Europas“). Der Sinnspruch von Dario Fo wurde unterdessen durch Zitate aus Repertoire-Vorstellungen des Theaters ausgetauscht (siehe Bild). Ist Hermannstadt nicht nur deklarativ, sondern auch aktiv an der europäischen Zukunftsdebatte beteiligt? Wer vor dem Kinder- und Jugendtheater „Gong“ steht, erblickt ringsum einige alte Immobilien, die nur noch der gute Wille zusammenzuhalten scheint.

Dass die Idylle Hermannstadts Schaden nehmen könnte, spricht für jene exzessive Form des Kapitalismus, die gar den europäischen Gedanken vom humanen Miteinander infrage stellt. Der deutsche Kabarettist, Schriftsteller und Schauspieler Hanns Dieter Hüsch, den Johannes Rau den „Poeten unter den Kabarettisten“ nannte, hat sie bereits 1965 im Artikel „Teile und herrsche nicht!“ aufgezeigt:

Die Erde gehört uns allen

Die Erde gehört uns allen
So wie der Sand, den man am Grabe uns
Eines Tages freundlicherweise
Nachwerfen wird

Aber im Leben gehören
Die Armen den Reichen
Die Dummen den Klugen
Die Geschlagenen den Verschlagenen
Die Gläubigen der Kirche
Die Schwarzen den Weißen
Die Naiven den Raffinierten
Die Schweigenden den Schwätzern
Die Friedfertigen den Streitsüchtigen

Die Erde aber könnte uns allen gehören
Wenn dein Haus auch mein Haus
Mein Geld auch dein Geld
Dein Recht auch mein Recht
Mein Los auch dein Los
Dein Kleid auch mein Kleid
Mein Glück auch dein Glück
Dein Leid auch mein Leid
Wäre.

Teile und herrsche nicht!

Aber wer kann das schon?