Europas längster Zug für knallige Sarmale

Ein Regisseur, fünf Schauspieler und ihre Komödie knöpfen sich die Waffen-Industrie vor

Antreten in Reih und Glied zum Schuften in der „Sonderabteilung“ („secția specială“) der kommunistisch gelenkten Stahlwerke Cugir

Die Komödie „Oameni și arme“ ist eine Pioniertat einer der ersten Erwachsenen-Generationen Rumäniens, die sich nicht mehr an den Kommunismus erinnern können. Tavi Voina und David Schwartz wollen sie unbedingt auch in Kleinstädten aufführen, denen die Erfahrung postkommunistischer Deindustrialisierung gar kein bisschen fremd ist. In Cugir soll ihr Publikum wie zu erwarten Spitze gewesen sein. Fotos: Roland Váczi

Den Gewerkschaftsvorsitzenden nach 1989, der es seinen sauren und sehr schlecht bezahlten Kolleginnen und Kollegen nicht recht machen kann, meistert Doru Taloș.

Die Kleidung? Einfarbig und ausschließlich für Betriebstauglichkeit entworfen. Die Sprache? Rumänisch mit kräftig transsylvanischem Akzent. Das Bühnenbild? Schlicht, ohne Dekoration. Der Spielort? Die Kleinstadt Cugir im Kreis Alba und ihre berühmt-berüchtigten Stahlwerke. Der Text? Komplex. Sehr komplex sogar, weil über 100 Jahre Geschichte und menschliche Sorgen vieler Art auf 90 Minuten Spieldauer komprimiert. Und das Thema? Waffen. Ein feminines Substantiv und gewaltiges Wort, das der Duden bereits im Singular gut verständlich als „Gerät, Instrument, Vorrichtung als Mittel zum Angriff auf einen Gegner, zum Erlegen von Tieren, zur Zerstörung von Bauwerken, technischen Anlagen usw. oder zur Verteidigung (z.B. Hieb- oder Stichwaffe, Feuerwaffe)“ anführt. Ein problematisches Schlagwort eben, wie es Regisseur David Schwartz von der Bukarester „Platforma de Teatru Politic“ nicht besser in den Zündstoff der Komödie „Oameni {i arme“ hätte einbauen können, an der eine gute Portion Wahrheit dran ist. Fünf Akteurinnen und Akteuren am ebenso unabhängigen „Reactor de Creație și Experiment“ Klausenburg/Cluj-Napoca zum Dank.

Mehl aus der Papiertüte zum Streuen auf die hölzerne Tischfläche, damit das zu Knetende nicht an ihr festklebt, drei Stücke Teig, drei Backformen und ein Back-ofen sind die Grundstoffe und Geräte der eröffnenden Szene, die zunächst ohne Sprache auskommt. Dass hier aber auch nicht ungefährliches Brot gebacken werden soll, versteht sich von selbst.
Als Alexandra Harapu, Maria Morar, Oana Rotaru, Tavi Voina und Doru Taloș keine Sekunde mehr länger an sich halten können – da sie drei Frauen und zwei Männer kurz vor der Verrentung spielen, die ihr Einkommen noch immer mit drögem Schichtdienst in den Stahlwerken Cugir bestreiten und diesen Job auch nach 1989 und dem volkswirtschaftlichen Einbruch Rumäniens nicht an den Nagel hängen mussten – , ist der Startschuss zum Abschied von der guten alten Zeit gekommen. Ein verbaler Abschied, bei dem sie aus ihrem Spott und Wehmut über das Absurde der letzten kommunistischen Jahre am Industrie-Standort Cugir gar nicht herausfinden. Es haut so blendend hin, ihr Rollenspiel, dass  man den Unterschied zwischen Freude und Nostalgie, zwischen arg spätem Ankommen in der Gegenwart und unbelehrbar rückständigem Verharren in der Verklärung von Vergangenem vielleicht nicht sofort schnallt.

Genau darauf haben Regisseur David Schwartz aus Bukarest und die fünf jungen Profis vom Klausenburger „Reactor“ es angelegt: auf das Spiel mit dem Ausdiskutieren zweier heißer Eisen: Deindustrialisierung und Waffen-Industrie. „Ja, damals hatten wir noch gute Gehälter, doch nichts, was wir uns davon hätten kaufen können.“ Noch 1989 fuhr von Teiuș nach Cugir der angeblich längste Zug Europas, und bei den 18 bis 20 doppelstöckigen Waggons, die 7000 Pendler und Fa-brik-Angestellte am Zielbahnhof aussteigen ließen, dünkt so ein Stolz nicht ungerechtfertigt.

Dem „Arbeitstag von sieben bis 15 Uhr“ außerdem, dem die drei Frauen in der Komödie nachtrauern, steht heute eine Arbeitswelt gegenüber, die sie nicht gut finden: „Ihr sitzt von früh bis spät vor den Computern und kriegt euren Alltag gerade mal so irgendwie hin!“ Dieser Satz, den das Publikum frontal gesagt bekommt, sitzt.

Keine Überraschung die frappierende Ehrlichkeit, mit der auf der Theaterbühne vom Diebstahl von Materialien und Zubehör aus den Stahlwerken für das jeweils private Zuhause in Zeiten kommunistischer Plan- und Mangelwirtschaft erzählt wird. Aufhorchen beim Abstreifen jeglicher Gewissenspflicht lässt das Textbuch dafür, weil „wir nur hergestellt haben. Verkauft haben andere.“

Von moralischen Dilemmas der Waffen-Produktion will während dieser eineinhalb Stunden niemand mehr als nur marginal gewusst haben. Andernfalls würde die Pointe fehlen. „Ich glaube an ein Theater, das dich denken und nicht nur fühlen macht“, so das Fazit einer der drei Darstellerinnen dieser Komödie, die es nicht beim Lachen über eigentlich ernste Fragen belässt. Als die fünf Seniorinnen und Senioren der Stahlwerke Cugir sich zum Start des Stücks Wortschwall auf Wortschwall gönnen und im Eifer der Rückblende an die „kulturelle Brigade“ und das Theaterensemble der Fabrik in kommunistischer Epoche ihre Wortwahl vergessen, fällt jäh der verpönte Begriff. Der ihnen laut Arbeitsvertrag strikt verboten ist.
Eine Fabrik-Angestellte tritt vor die Zuschauer und fragt sie nach Wunsch-Code-Wörtern für Waffen, für den harten Kern der Pointe schlechthin. Im Gong-Theater mitten in Hermannstadt/Sibiu einigt man sich rasch auf die osteuropäisch populären Krautrouladen, auf „sarmale“. Die in Cugir schon vor grauer Zeit industriell produziert wurden und noch immer werden – mit „Lizenz“, deren Quellen in der Historie dieser politisch glühenden Stahlwerke sich genau und mindestens bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg rückverfolgen lassen. Mit den „sarmale după licență“, die „nur dorthin gehen, wo sie hingehören“, verhält es sich schrecklich einfach.

„Sarmaua tre´ să tragă, că d-aia îi făcută!“, resümiert auf der Bühne breit grinsend Tavi Voina vom Schauspielteam des Klausenburger unabhängigen Ensembles „Reactor“. Es muss aus der Krautroulade schießen, denn dafür ist sie gemacht. Selbstverständlich kongruent mit dem einzigen Satz im Textbuch von „Oameni și arme“, der wie ein Refrain mehrmals aus dem Lautsprecher tönt, statt live aus dem Mund einer Person, und den Theater-Ikone Anton Tschechow (1860-1904) vorgeprägt hat – ausgenommen nur die rumänische Krautroulade statt der Waffe: „Wenn du im ersten Akt eine ´sarmau˛´ an die Wand gehängt hast, wird sie im zweiten oder dritten Akt abfeuern müssen.“ Auf wessen Befehl es geschieht, ist gleichgültig.
Hauptsache, es knallt. „Oameni și arme“ ist nicht allein polemisch, sondern auch ein Meisterstück. Es wirbt weder für Stärkung noch Totalstreichung der Waffen-Industrie. Und damit es von radikalen Pazifisten und radikalen Kriegs-Einverstandenen auch unter keinen Umständen als radikales Für- oder Gegenmanifest missverstanden werden kann, enthält es mehrere Schlüsselszenen. Eine von ihnen rapportiert im Eilschritt die volle Geschichte der Stahlwerke Cugir von 1908 bis 1999 entlang der Auftraggeber-Chronologie, den Fabrik-Chef über den Zeitraum von 91 Jahren spielt Tavi Voina, der selbst aus Cugir stammt.

Natürlich, so lange kann kein Mensch berufstätig sein. Diese Szene aber fordert auch nichts anderes, als die historische Abfolge all der militärischen Weltmächte herunterzurasseln, denen die Stahlwerke Cugir reihum „sarmale“ lieferten. Und nach wie vor liefern. Zwei Kolleginnen, die Tavi Voina eine je neue Perücke, Brille, Krawatte, auch einen Schnurrbart oder ganz neue Epauletten aufsetzen, sooft der internationale Auftraggeber ändert, können mit seinem rapiden Monolog kaum Schritt halten. Höhepunkte des Schnellkurses über die abgelaufene und die aktuelle „Lizenz“ für die „sarmale“ aus Cugir? Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Sowjet-Russland nach dem Zweiten Weltkrieg. Und die NATO seit 1999. In wessen Auftrag die herben „sarmale“ am süßesten munden? Oder anders gefragt: wo in der Weltpolitik haben sie die ungetrübte Chance zu Nutzlosigkeit?

„Wir lachen über die Gefahr, so sind wir erzogen worden“, feixen in einem Song die Damen der Komödie „Oameni {i arme“. Nicolae Ceau{escu und seine Ehefrau Elena? Just zu Weihnachten 1989 in Târgoviște niedergeknallt – „mit ´sarmale´ von uns aus Cugir!“, so Doru Talo{ als Fabrik-Senior, Jahrgang 1988 und mit Abstand der Älteste dieser Theater-Besetzung. Und erst recht die Erinnerung an die Revolution kurz vor Weihnachten 1989, weil man mächtig stolz darauf ist, die gleichen „sarmale“ an Menschentrauben ausgegeben zu haben, die einander auf offener Straße angriffen und erschossen. Auch in Cugir wurde damals getötet. „Wir haben etwas verändert! Na ja, nicht zum Guten, aber das ist was anderes.“ Empörend aus dem Ruder lief es für die Belegschaft der Stahlwerke erst 2018 mit einem Betriebsunfall, der für eine junge Angestellte auf der Stelle den Tod durch Verkohlung bedeutete. „În Cugir, în 2018 sarmaua nu a tras. A explodat direct.“ Zu einer Zeit, als die Stahlwerke ihren Angestellten ein Netto-Gehalt von nur dürftigen 2000 Lei monatlich pro Kopf zubilligten. Die Marke von 3000 Lei netto sprengt es auch heute kaum.

Das empfohlene Zuschauer-Mindestalter für die Komödie „Oameni {i arme“ ist 15 Jahre, ihr ältester Schauspieler 35 Jahre jung, und im Abschlussjahr der Theater-Grundausbildung an der Klausenburger Babe{-Bolyai-Universität stehen aktuell die drei Damen im Quintett der Bühnenadaption vom rüden Innenleben der Stahlwerke Cugir, die 2021 und 2022 durch gewerkschaftliche Streiks landesweit von sich reden machten. Zwar mag es undankbar sein, das Geschäft mit den billigen „sarmale“ für den NATO-Bedarf, das Baujahr mancher Maschinen für die Produktion der „sarmale“ zum Teil antiquarisch alt, und Rumäniens Verteidigungs-Minister wechseln einander viel zu häufig ab.

Doch für die Angestellten der Stahlwerke Cugir zählt am Ende nur der Monatslohn. Das Beste aber hebt sich das Team von „Oameni și arme“ für das Bühnen-Finale auf: nach eineinhalb Stunden Backzeit im Ofen sind die Brotteig-Gewehre zu dem gewünschten Spielzeug gehärtet. Die Seniorinnen der Stahlwerke Cugir greifen die Formen aus der Röhre, stülpen sie um und mimen die Nutzung des Inhalts im Terrain. Schießen zuerst aufeinander und dann auf Zuschauer. Wortlos wie am Anfang geht es jetzt zu. Soll heißen, dass allein die Waffen sprechen. Bis das täglich Brot der Stahlwerke Cugir seit eh und je in den Armen seiner Bäckerinnen unter Druck zerbricht und aufgegessen wird.

Zum Epilog zählt eine Männerstimme aus dem Lautsprecher über 40 Länder und Staaten weltweit auf, in denen aktuell Krieg geführt wird. Alphabetisch. Die Ukraine, Russland, die palästinensischen Gebiete, der Gaza-Streifen und Israel sind nur etwa ein Zehntel davon. Warum „palästinensische Gebiete“ statt Palästina? Um keiner Konfusion zwischen dem geographischen und staatlichen Verständnis ein und desselben Kriegslands Kredit vorzuschießen, motiviert Regisseur David Schwartz von der „Platforma de Teatru Politic“.

„Für diesen Konflikt gibt es keine militärische Lösung“, findet der in der westlichen Welt umstrittene Schweizer Historiker Daniele Ganser, bei dem Kriege „Vorgeschichten“ haben. Die Vorgeschichte des israelisch-palästinensischen Krieges? So alt wie der Staat Israel. Die Vorgeschichte der Stahlwerke Cugir? Noch älter. Krieg aktuell leider auch in Afghanistan, Burkina Faso, Jemen, Kamerun, Kongo, Mexiko, Myanmar, Ruanda, Sudan, Syrien und Venezuela. Man erfahre es bloß nicht, weil Westmedien dünn darüber berichten, meint David Schwartz. Krautrouladen mit der Vorgeschichte von Cugir sind krude Nahrung für den Weltfrieden. Aber auch ohne wäre er nicht koscher.