Experiment Pitesti – das größte Geheimnis der Securitate

Gespräch mit Alin Muresan über Opfer und Täter der rumänischen Geheimpolizei

Die Geheimmethoden der rumänischen Securitate rücken erneut in den Vordergrund: Ein Buch und ein Film greifen nun das Thema des grausamen Experiments von Pitesti auf, das die Securitate von 1948 bis Dezember 1951 in mehreren rumänischen Gefängnissen, vorrangig in der Haftanstalt von Pitesti, durchführte. Ziel des Experiments war, über tausend Regimegegner mittels systematischen Schlägen physisch und moralisch zu brechen, um aus ihnen „neue kommunistische Menschen“ zu machen. Nach der „Umerziehung“, so der Ausdruck im Securitate-Slang, musste der Häftling fähig sein, im Dienste des Geheimdienstes zu handeln und weitere Häftlinge zu „neuen Menschen“ umzuformen – durch die gleiche grausame Folter, wie er sie zuvor selbst durchlitten hatte. 

Für sein Buch „Pitesti. Cronica unei sinucideri asistate“ (Pitesti. Die Chronik eines betreuten Selbstmords) sprach der Schriftsteller Alin Muresan mit 35 Überlebenden und analysierte zahlreiche Archivdokumente. Zugleich hat der 28-Jährige auch das Drehbuch zum Film „Demascarea“ (Entlarvung) geschrieben – eine Dokumentation, gedreht unter der Regie von Nicolae Mãrgineanu, die sich mit dem gleichen Thema befasst. Über seine Recherchearbeit und die Auswirkungen des Experiments sprach ADZ-Redakteurin Ana Sãliste mit Alin Muresan.

Welche Rolle spielt das „Experiment von Pitesti“ für die Geschichte Rumäniens?

Das hängt davon ab, ob wir jetzt über die Gegenwart oder über die Vergangenheit sprechen. Es ist jedoch ziemlich schwierig, eine Interpretation oder Analyse des Geschehens vorzunehmen. Ich wollte dieses dunkle Kapitel der Geschichte so präsentieren, wie es sich abgespielt hat. Das Experiment ist inzwischen auch bekannter geworden. Viele glauben, dass sie schon etwas darüber wissen. Bei einer näheren Betrachtung aber merkt man, dass es sich oft um oberflächliche und manchmal sogar falsche Informationen handelt. Davon ausgehend werden dann meist auch falsche Schlussfolgerungen gezogen. Mein Ziel war, diese Wissenslücke zu schließen. Die Interpretation und Analyse überlasse ich anderen.

Sie haben sich fünf Jahre lang mit diesem Thema befasst und 2007 schon ein Buch dazu veröffentlicht. Nun ist eine zweite Auflage erschienen. Was bringt diese Neues?

Ich habe das Buch komplett umgeschrieben, da ich inzwischen Zugang zu vielen neuen Archivdokumenten hatte. Ich bringe jetzt neue Informationen über die Geschehnisse: die Gespräche zwischen dem Häscher Eugen Turcanu, der das Experiment als erster umgesetzt hat, und dem Leiter der Haftanstalt in Pitesti. Dann werden noch die Befehle veröffentlicht, die dazu erteilt wurden, über die Art und Weise, wie das Experiment überhaupt umgesetzt werden sollte. Zudem befassen sich zwei Kapitel mit den Porträts von Häftlingen und Tätern. Ich habe es geschafft, alle Opfer, die in Pitesti gefoltert wurden, zu identifizieren. Im Buch ist eine Namensliste zu finden.

Sie haben vor Kurzem gesagt, Rumänien wäre heute noch vom „Experiment von Pitesti“ geprägt. Könnten Sie bitte Ihre Aussage präzisieren?

Die Werte, die in der heutigen Gesellschaft vermittelt werden – insbeson-dere von den Massenmedien – bewirken oder erzielen das Gleiche, wie die „Werte“, die in Pitesti verbreitet wurden. Ich spreche hier über den Verlust oder das „Ausbläuen“ von (Lebens-)Richtlinien, über die systematische Verbreitung des Misstrauens, über mündliche und physische Gewalt, über die Verleugnung des Christentums – all diese Dinge sind auch in Pitesti vorgekommen. Natürlich reden wir hier nicht von einer direkten Verbindung. Was aber durch das Experiment von Pitesti angestrebt wur-de, Entmenschlichung und Entpersönlichung, wird heute – sicher, in einem viel geringeren Maße und durch sanftere Methoden – in der gesamten Gesellschaft verbreitet.

Sie meinen, das Experiment sei „das größte Geheimnis der Securitate“. Warum?

Ja, weil nur sehr wenig Menschen darüber Bescheid wussten. Die hier angewandten Foltermethoden waren auch vielen Securitate-Angehörigen und den Angestellten des damaligen Innenministeriums unbekannt. Möglichst wenige Funktionäre sollten darüber Kenntnis erhalten. Aus Unterlagen und Dokumenten geht hervor, dass den Leitern der Haftanstalten in Geheimsitzungen befohlen wurde, nicht einmal mit Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rumäniens – damals Rumänische Arbeiterpartei – darüber zu sprechen. Gheorghe Pintilie, damals Leiter der Securitate, wusste aber natürlich Bescheid.

In der letzten Phase des Experiments, nachdem der Häftling seine Familie und seinen Glauben verdammen musste, sollte er Folterknecht werden und andere Regimegegner „umerziehen“.

Sie sprachen mit dem Ex-Häftling Tudor Stanescu, bei dem der Plan aufging – er wurde zu einem Folterer. Im Dokumentarfilm ist ein Treffen zwischen Stãnescu und Tache Rodas zu sehen, einem jener Männer, die er in Pitesti verprügelte. Heute ist Stãnescu Mönch und bereut seine Tat. Wie schwer ist es aber, mit solchen Häftlingen über diese letzte Phase zu sprechen? 

Eine Sache muss geklärt werden: Es gibt mehrere Arten von Nachgeben, also Selbstaufgabe, wenn man es so nennen kann. Einige haben es gemacht, indem sie zugestimmt haben, andere Häftlinge zu überwachen. Einige haben Informationen preisgegeben, andere jedoch mussten Häftlinge regelrecht verprügeln. Ich habe mit mehreren Überlebenden über diese letzte Phase des Experiments gesprochen, aber ich habe mich im Gespräch nicht auf dieses Thema konzentriert. Tudor Stãnescu sagte, er könne sich nur an die erste von ihm durchgeführte Folter erinnern, räumt aber ein, dass er entmenschlicht wurde. 

Keiner hat etwas Konkretes darüber erzählt. Und das habe ich von ihnen auch nicht erwartet. Während der Gespräche konnte ich schon merken, wer gefoltert hat und wer nicht. Es war jedoch das System, das dies von ihnen forderte, und ich habe nicht versucht, die Opfer, die zu Tätern gemacht wurden, damit direkt zu konfrontieren. Beeindruckender finde ich die Tatsache, dass es diese Leute geschafft haben, dieses Kapitel in ihrem Leben überhaupt zu überwinden, trotz Qual und Schmerz.

Jeder Schriftsteller erlebt in seiner Arbeit einen Tiefpunkt. Wie war es bei Ihnen?

Das war, als der Priester Gheorghe Calciu starb, kurz nachdem ich ihn interviewt hatte. Es hat mich aber noch stärker motiviert, weiterzumachen. Ich habe mich noch intensiver mit dem Projekt befasst. Ich wollte es unbedingt beenden und vermeiden, dass jemals noch so ein Fall vorkommt. Ich wollte nur noch, dass ich endlich Klarheit über dieses Kapitel schaffe.

Wie hat Sie die Recherchearbeit für ein so tragisches Thema beeinflusst?

Ich glaube, ich wurde reifer, während ich das Ganze dokumentiert habe. Seitdem bin ich Gott und der Kirche näher gekommen. Zugleich wurde ich verantwortungsbewusster. Denn es wurde mir klar, dass ich da über Menschenschicksale schreibe und nicht mit den Wörtern spielen darf. Das Wichtigste, was ich aus dieser Erfahrung gelernt habe, ist etwas, das jeder von uns in Betracht ziehen sollte: Egal wie tief wir fallen, egal wie groß unsere Fehler sind, wir können neu beginnen, wir können uns wieder aufrichten. Verblüffenderweise ist Pitesti dadurch auch eine Quelle von Optimismus, Vertrauen und Selbstvertrauen geworden.


Das „Experiment Pitesti“

Im Zeitraum 1948 – 1951 saßen in Pitesti über tausend Häftlinge, die vom rumänischen Geheimdienst Securitate gezwungen wurden, sich gegenseitig zu foltern, um dadurch Kommunisten zu werden. Dieser Vorgang wurde später als „Experiment Pitesti“ bekannt. Der sowjetische Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn nannte diesen Import aus dem Stalinismus „das grausamste Verbrechen der Gegenwart“. 

Das Experiment hatte mehrere Phasen: Zuerst mussten die Häftlinge in „verschärften Verhören“ unter Dauerfolter ihre intimsten Geheimnisse preisgeben. Die zweite Phase war die „interne Enthüllung“: Die Häftlinge sollten alle benennen, die ihnen geholfen oder sie beschützt hatten. Das Opfer musste danach seinem Glauben, seiner Familie und seinen Freunden abschwören – um durch Abbruch aller Brücken zur Vergangenheit zu einem „neuen Menschen“ umgeformt zu werden, der dann die Doktrin des kommunistischen Regimes umsetzen kann. In der letzten Phase sollten sie andere „Volksfeinde“ foltern bis zur „Umerziehung“, um die Stärke ihres neuen Glaubens zu beweisen. Das Projekt zur „Umerziehung der Jugendlichen im Gefängnis von Pitesti“ wurde von General Alexandru Nikolski in die Wege geleitet und vom Jura-Absolventen Eugen Turcanu umgesetzt. 

1951, noch zur Zeit des Stalinismus, kam die Grausamkeit teilweise ans Tageslicht. Ein Häftling, der früher beim Innenministerium angestellt war, gab Informationen zu den Foltermethoden nach außen. Drei Prozesse wurden angestrengt. Das kommunistische Regime hatte sich jedoch offiziell von diesen Methoden längst distanziert. 22 Mitglieder des von Eugen Turcanu geführten Kommandos wurden zum Tode verurteilt, 16 Urteile wurden vollstreckt. Der Leiter der Haftanstalt Pitesti und drei seiner Offiziere, ein Securitate-Oberst und ein Gefängnisarzt wurden zwar zum Tode verurteilt, aber wenige Monate später durch ein geheimes Dekret amnestiert.