Flucht und Flüchtlinge

Lora Krastewa ist Bulgarin, lebt in Großbritannien, ist Künstlerin und Kuratorin eines Projekts, das sie zusammen mit der ebenfalls im Vereinigen Königreich lebenden Französin Claire Gilbert (als Produzentin) betreibt: „Becoming“. In Tschechien, Deutschland, Großbritannien und Rumänien organisieren sie Workshops, die das Ziel verfolgen, das Identitätsverständnis von Migranten (Kriegsflüchtlinge, Wirtschaftsmigranten, Expats usw.) auszuloten. Es entstehen Kunstwerke – Malereien, Skulpturen – aber auch Flashmobs, Theaterevents, Performances, kulturelle Actions usw., Möglichkeiten von Kommunikation (der Migranten untereinander und der Migranten mit der Stammbevölkerung) werden ausprobiert und -gewertet. Auch nonverbal. In Bukarest hat das internationale „Team“ (Afghanen, Südafrikaner, Moldawier, Ukrainer u.a.) die Performance „Becoming Romanian“ (im Centrul pentru Teatru Educa]ional „Replica“ in Bukarest) präsentiert. Kurz vor dem 24. Februar. Noch ohne Ukrainer (zur Gruppe gehört jetzt der Regisseur Alexej Druz und der Ex-Basketballer und Maler Valera Chraschinin).

Alexej Druz, der Regisseur, sagt offen: „Keine Ahnung, welche Zukunft ich in Rumänien haben könnte.“ Valera Chraschinin, der Maler, reflektiert über die Sprache: „Russisch gehört zur Kultur meiner Familie. In meiner Stadt, Nikolajew, sprechen 90 Prozent der Bewohner russisch. Aber Sprache macht keine Politik. Und doch müssen wir jetzt auf unser Ukrainisch aufpassen. Ich verstehe sehr wohl, dass das, was jetzt dort geschieht, nicht der Wille aller Russen ist. Ich habe viele Verwandte in Russland. Mutter ist mit ihnen in reger Verbindung. Ich kann das aber jetzt nicht mehr über mich bringen. Offensichtlich gehen in mir Veränderungen vor. Ich ringe mit mir. Ich möchte nicht, dass ich mich derart radikal verändere, dass ich nicht mehr russisch reden möchte, die Sprache der Mörder. Dass ich es künftig nicht mehr über mich bringe, russische Kunst zu betrachten.“

Eine der Fragen, die Krastewa in ihren Workshops verfolgt, ist, wann man von einem Gast-Land für Migranten als möglichem Heim-Land der Mi-granten sprechen kann? Ihre Frage sei auch strikt persönlich. Migration heißt ja auch: Weggehen, von ZUHAUSE nach Irgendwo. Auffallend am „Becoming“-Experiment sei die Tatsache, dass als Heim nicht unbedingt jener Ort gesehen wird, wo es einem vom Lebensniveau her gut geht (wie bei den alten Römern – ubi bene, ibi patria), sondern dort, wo die sozialen Beziehungen und der gesellschaftliche Vergleich dem Herkunftsland am nächsten kommt. Im Falle der Ukrainer, die nach Rumänien geflüchtet sind, herrscht noch der Wille zur Rückkehr vor. Alexej Druz sagt das so: „Meiner Meinung nach – und die teilen viele Ukrainer – wird es dort erst Frieden geben, wenn Putin nicht mehr lebt. Nur dann kann dieser Krieg beendet werden.“ So lange halte man Migration aus.

Der schillernde israelische Denker Y. N. Harari verglich die Aggression Russlands gegen die Ukraine mit einer Schockwelle, die jeden Augenblick auf der ganzen Welt etwas aus dem Lot bringt, dauerverändernd. Nicht nur unsere Gegenwart, auch die Zukunft. Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die unsere Innenwelt durcheinanderwirbelt. Dieser Krieg beeinflusse die künftigen Generationen.

Wie die Russlanddeportation von 1945-49 Generationen von Rumäniendeutschen bis heute beeinflusst hat. Oder die Flucht 1944.

Der Ukrainekrieg – keiner kann uns, bei der Irrationalität, garantieren, dass es „nur“ ein Ukrainekrieg bleibt... – weckt Erinnerungen, die wir vergessen und verwunden glaubten, Ängste, die verscharrt waren, Fakten, die bis am 24. Februar vernebelt waren: die Konfrontation Osten-Westen, der „kalte“ Krieg, der Völkerhass, die schamlos aggressive Lügenpropaganda, Russen mit je drei Uhren am jedem Arm.

Das russische imperiale Ungeheuer hatte nur geschlafen.

Es ist geweckt.