Führungskraft auch ohne Gewalt

Gespräch mit Dirigent Gábor Horváth über die Größe Mahlers und die Klasse der Staatsphilharmonie Hermannstadt

Anfang April 2020 dirigiert Gábor Horváth erneut in Hermannstadt: „Dass ich bis zu dreimal jährlich hier arbeiten darf, ist das Schönste, was ich von der Staatsphilharmonie erwarten kann!“ Foto: privat

Über Dirigenten wird gesagt, sie wären streng zu sich selbst und im Umgang mit dem Orchester drakonisch. Toscanini, Furtwängler, Karajan und Celibidache sind schuld daran, dass Zuhörende auch heute noch befinden, Angst vor Dirigenten sei gesund. Die gute alte Kapellmeister-Schule unantastbarer Stabführung, sie hat Großartiges ermöglicht, aber auch große Weltensembles gegen ihre Chefs meutern gemacht. Selbst in den Musiktempeln des Westens hat demokratisches Verständnis von Kommunikation kulturellen Widerstand überwinden müssen.
Rumänien ist ein berührungsempfindliches Hybrid junger Demokratie und altüberlieferter Autoritätsgläubigkeit. Manchen steckt es noch in den Knochen: Befehle werden ausgeführt, nicht diskutiert! Dirigenten können zwischen ausnützender Selbstverherrlichung oder uneigennützigem Aufholen traditioneller Rückstände wählen. Gábor Horváth, Jahrgang 1975, neigt zu Letzterem. Er ist Dozent an der Franz-Liszt-Musikakademie Budapest und tritt regelmäßig als Gastdirigent der Staatsphilharmonie Hermannstadt/Sibiu im Thaliasaal auf. Fragt man ihn nach der sehenswerten Hauptstadt Ungarns, schwärmt er von den Spuren ihrer sprudelnden Entwicklung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Am 30. Januar hat er in Hermannstadt Gustav Mahlers Sinfonie Nr.9 dirigiert. Tanzrufe und Aufschreie durchziehen sie, ehe die Angaben „Äußerst langsam“ und „ersterbend“ ein Testament besiegeln. Klaus Philippi befragte Gábor Horváth in der Mittagspause des zweiten Probentages.

Was hat sich seit Ihrer ersten Erfahrung als Dirigent in Hermannstadt im Orchester der Staatsphilharmonie verändert und warum kommen Sie alljährlich als Gast hierher? Was macht Sie nicht vergessen, dass es sich lohnt, mit diesem Ensemble zu arbeiten?

Das Orchester wird von Jahr zu Jahr besser. Ich erinnere mich daran, dass dem vormals nicht so war. Meine erste Begegnung mit diesem Orchester liegt acht oder neun Jahre zurück. Damals spielten noch viele alte Mitglieder mit, das Basisrepertoire wurde überbeansprucht, und mir schlug immer eine Haltung entgegen, die etwa so lautete: ‘Ja, lasst uns ein wenig proben, aber bald danach ist es auch schon getan. Warum wollen Sie denn unbedingt an Kleinigkeiten feilen?´ - mittlerweile hat sich die Gleichgültigkeit im Orchester verringert. Mehr dazu gibt es von mir an dieser Stelle jedoch nicht, da ich niemandem wehtun möchte (lacht)! Die nachgerückte Generation und der jüngere der beiden Konzertmeister (Cosmin Fidileș - Anm. d. Red.) sind darauf aus, fortwährend besser zu spielen.

Sobald sich die Meinung Raum schafft, dass ein Meisterwerk auf den Notenständern liegt, das höchstmöglichen Einsatz verdient, gestaltet sich die Aufgabe des Dirigenten einfacher. Wenn ich meinen Job machen kann und nicht ständig um Ruhe zu bitten brauche, habe ich das Wichtigste schon so gut wie im Griff. Mein Gefühl sagt mir, dass die Menschen im Orchester mich akzeptieren oder gar bevorzugen, auch wenn ich nicht erklären kann, warum. Von Mal zu Mal wurde es leichter, meinen Weg vorzuzeigen und das Orchester für ihn zu gewinnen.

Jetzt, bei Rückschau auf die letzten drei, vier Jahre, fällt auf, dass es um den Standard recht ordentlich bestellt ist, und man sich auch mit anspruchsvollen Schwergewichten der Literatur befassen kann. Vor zwei Jahren habe ich hier das „Konzert für Orchester“ von Béla Bartók dirigiert, und diese Woche steht gar Gustav Mahlers 9. Sinfonie an, die nun wirklich nicht den Kern dieses Orchesters ausmacht.

Meine Absicht ist es nicht, derjenige Gastdirigent zu sein, der das nächste Mal unbedingt mit Beethovens Fünfter aufwartet – klar, die Fünfte von Beethoven ist ein phantastisches Meisterwerk, sicher – aber in diesem Orchester wird sie vermutlich jedes Jahr gespielt. Mahlers Neunte habe ich nicht etwa gewählt, weil ich mich selbst megalomanisch darstellen wollte, sondern einfach aus dem Grund, weil das Orchester die dafür nötige Qualität drauf hat. In Hermannstadt habe ich zumeist Mozart oder Schubert dirigiert. Man muss nicht immerzu Riesenattraktionen auf das Programm setzen, aber wenn das Orchester dazu fähig ist, ja, dann werfe auch ich mich gerne in die Herausforderung!

„Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb“ steht dem zweiten Satz dieser Neunten voran…
… ‘taka-taka-tamm-tamm, taka-taka-tamm-tamm’(imitiert das aufsteigende Auftaktmotiv, Anm. d. Red.) – Mahler war nicht nur ein sehr guter Komponist, sondern auch begnadeter Dirigent. Orchester pflegen oftmals die Gewohnheit, nach Erreichen einer Spitze die Lautstärke schnell wieder zurückzufahren, und da schaltet Mahler gerne die Anweisung ‘immer Fortissimo’ ein. Oder wenn in der Es-Klarinette ein langsames Solo in hoher Lage ansteht, schreibt er ‘sehr weich geblasen´ dazu.

Bestimmt verstehen viele Orchestermitglieder der Staatsphilharmonie Hermannstadt Deutsch. Einige von ihnen können sich darin verständlich machen, aber der ausgefeilte Wortschatz Gustav Mahlers geht über das hinaus, was unser Orchester hier in Hermannstadt unmittelbar aus der deutschen Originalsprache zu begreifen imstande ist. Englisch ist ihnen viel geläufiger, aber auch da müsste man damit rechnen, dass mitunter die älteren unter den Ensemblemitgliedern nicht sofort jede allerkleinste Schattierung erfühlen können. Wie vermitteln Sie dem Orchester das Erbgut Mahlers, welche Schlüssel knacken geschlossene Türen auf?

Es gibt durchaus Übersetzungshilfen, beispielsweise lasse ich die Musiker ein ‘poco piu mosso´ in ihre Noten schreiben, wenn sie die Bezeichnung ‘fließend´ nicht verstehen, und dann ist allen klar, was gemeint ist. Natürlich lässt sich nur annähernd erklären, was man sich unter ‘fließend´ vorstellen kann, aber dass ich das Tempo ganz leicht anziehen möchte, das kommt durch. Also nutze ich im praktischen Umgang englische und italienische Wörter. Aber auch Sie wissen doch nur allzu gut, dass Orchestermitglieder es überhaupt nicht mögen, lange Textketten vorgesetzt zu bekommen. Frei nach dem Credo: ‘Ach, dafür haben wir doch keine Zeit, nein, bitte es kurz zu machen!´, weswegen klassische Angaben wie ‘meno´, ‘Allegro con brio´ und ‘cantabile´ ausreichen müssen.

Am Schluss dieser Sinfonie fordert Mahler vierfaches Piano, an etlichen Ecken aber auch dreifaches Forte. Was ist zu tun, um die Spannbreite im trockenen Thalia-saal nicht ins Leere laufen zu lassen, noch dazu mit geringer Stärke der Streichergruppen, wo doch nur drei Pulte Celli und fünf Kontrabässe bereitstehen?
Für diesen Aufführungsraum ist das genug, finde ich. Selbst wenn wir uns noch mehr Bässe wünschten, gibt es der Platz einfach nicht her. Ohnehin rücken alle im Orchester schon ganz eng zusammen. Dennoch funktioniert das schwere Stück, was wirklich eine Leistung ist. Da dieser Saal schnell an seine Obergrenze stößt, fordere ich gezielt kein einziges Fortissimo heraus. Viel wichtiger ist es, in die leisen Dynamiken zu investieren: weicher, noch zwei Piano, und noch ein drittes Piano dazu! An diesem Ort hier sind tiefe Lautstärken entscheidend.

Womit darf ein Dirigent oder gar der Intendant eingreifen, wenn die interne Kommunikation des Orchesters mal nicht so gut läuft? Ist man täglich stundenlang auf engem Raum an Proben und Konzerten mit ein und denselben Kollegen beteiligt, stellen sich unweigerlich Konfliktszenarien ein. Ein gutes Orchester spielt nicht darüber hinweg, sondern hantiert damit sehr behutsam.
Ich verstehe. Für mich stellt sich die Frage pädagogisch. Wenn die Orchestermitglieder beobachten, dass ich dieses Meisterwerk über alles liebe und es unbedingt in weltbester Aufmachung präsentieren will – wobei mir schon bewusst ist, dass Abbado, Barenboim und Karajan Unerreichbares vorgelegt haben – dann werden sie sich auf eifriges Mitmachen konzentrieren und keine freie Zeit haben, einander zu frotzeln. Es besteht nur eine einzige Chance, im Konzert das Allerbeste zu schaffen. Selbstverständlich gibt es Probleme im Ensemble, in der ersten und auch in der zweiten Probe waren sie spürbar. Sich aber selbst in der dritten von vier bis fünf Proben noch immer daran zu stoßen, ist kontraproduktiv. Zudem bin ich nur Gastdirigent, und die Leute im Orchester sind mich ab Freitag wieder los.

Klar kenne ich auch die Kehrseite, bin ich doch selbst Chefdirigent im ungarischen Gödöllö. Als Gast wird man es immer leichter haben. Jetzt in Hermannstadt versuche ich, das Orchester hinter mir zu einen, damit wir geschlossen auf die Mahler-Produktion hinarbeiten können.
Großmeister János Ferencsik (1907-1984) ist bekannt für seine Aphorismen und hat es folgendermaßen beschrieben: Ein Geiger spielt die Violine, ein Oboist die Oboe, und als Dirigent spielt man gleichzeitig Violine, Oboe und auch Schlagzeug.

Also braucht jeder Mensch im Orchester eine unterschiedliche Anrede vonseiten des Dirigenten, um freiwillig sein Bestmögliches beizutragen…
...ja, das ist die psychologische Trickkiste. Leistungsbereitschaft ist individuelles Merkmal. Ich probiere immer herauszufinden, wie die Leute ticken, denke mir ihr Spielen als Reaktionen auf mein Ansprechen, und suche nach Stärkung meiner Bindung zu ihnen.

Wie steht es um die Aufgabenverteilung im Rollenspiel von Dirigent und Konzertmeister? Wessen Auftrag ist es, Bogenstriche und weitere Details in das Orchestermaterial jeder einzelnen Instrumentengruppe einzuzeichnen?

Ich habe 15 Jahre lang Violine im Orchester gespielt und weiß Bescheid um den Blickwinkel von Musiker zu Chef. Als Dirigent verwende ich meine eigenen Bogenstriche und gebe Acht, dem Orchester das für die Streicher vorbereitete Notenmaterial ein bis zwei Monate vor dem Konzert zu schicken. Es ist eine Heidenarbeit. Doch die Mühe vorab lohnt, denn dadurch entfallen während der Proben vor Ort sehr viele Unklarheiten, die das praktische Arbeiten mit dem Orchester lähmen könnten. Bei manchen Stücken gelingt mir die strukturelle Basisarbeit an einem Tag. Für Mahlers Neunte waren ganze drei Wochen nötig – das Schwierigste, was mir je vorgekommen ist!

Erlauben Sie mir bitte die Neugierde nach politischer Ortung! Ich will nicht missverstanden werden und behaupten, dass Ungarn europaweit die größte Hürde bedeutet und es um alle anderen Länder besser bestellt ist, nein. Überall herrschen Schwierigkeiten! Wie aber stehen Sie zu dem Fakt, dass die Zentraleuropäische Universität (Central European University, CEU) Herbst 2019 infolge innenpolitischen Drucks ihren Campus von Budapest nach Wien verlegt hat?

Dieser Konfliktherd brannte vor etwa zwei Jahren erstmals auf, und auch ich habe das realisiert, klar. Aber in meinem Leben sind das Unterrichten und die Arbeit mit Orchesterpartituren das Wichtigste. Deswegen hatte ich auch nicht richtig Zeit zum Verfolgen von Medienberichten und Podiumsdiskussionen, sodass ich mir keine eigene Meinung zum Thema gebildet habe. Vielleicht steht es mir nicht gut, Folgendes zu sagen, aber nun doch: Ich hasse Parteien! Warum denn sollte ich eine Sektion mehr mögen als all die anderen, wo ich sie doch alle integrieren möchte? Natürlich ist das eine naive Sichtweise, aber ich als Musiker mit großen Aufgaben darf mich da vielleicht doch ausklinken.

Ich bleibe in meiner Welt daheim: Partituren exakt sondieren und künstlerische Qualität präsentieren. Wer sich politisch nach oben hieven lässt, kann schnell Karriere machen, wird aber spätestens nach drei Jahren fallengelassen. Mir kommt so eine Abhängigkeit nicht in die Tüte.
Nicht verneinen darf ich meine stellvertretende Verantwortlichkeit und Bringschuld. Sooft ich woanders als zuhause dirigiere, habe ich eine noch viel größere Pflicht, Qualität zu liefern. Jedes Mal von Neuem. Aber ich tue es gerne und fürchte keine Rückschläge.