„Gebildetes Rumänien“: Ein Blick hinter die Kulissen

Gespräch mit Dr. Alexandru Szepesi im Bildungsministerium

Dr. Alexandru Szepesi Foto: Goethe Kolleg Bukarest

Am 11. September 2023 begann der Unterricht des Schuljahres 2023-2024 für alle Schüler von der Vorbereitungsklasse bis zu Klasse 12. Vorher noch, 60 Tage nach der Veröffentlichung im Amtsblatt, traten die neuen Unterrichtsgesetze in Kraft. Aus diesem Anlass befragte Gerold Hermann Dr. Alexandu Szepesi, Geografielehrer am Bukarester Goethe-Kolleg und im Bildungsministerium Direktor der Generaldirektion Minderheitenschulwesen und Beziehungen zum Parlament.

Das neue Schuljahr beginnt mit vielen Neuigkeiten, der gesetzliche Rahmen hat sich von Grund auf geändert. Wie kam es dazu?

Staatspräsident Klaus Johannis hat 2016 das Projekt „Gebildetes Rumänien“ initiiert. Nach jahrelanger Arbeit, umfassenden Beratungen und Debatten wurde im Sommer des Jahres 2021 der Entwurf eines neuen Unterrichtsgesetzes in Form eines Memorandums in einer Regierungsitzung bewilligt. Die Vorhaben setzen tiefgreifende Reformen des Bildungswesens bis zum Jahr 2030 auf einer von drei Parteien akzeptierten politischen Basis voraus. Die vorgesehene Finanzierung fußt auf Geldern aus dem Staatshaushalt und aus dem nationalen Wiederaufbau- und Resilienzplan (PNRR). Das 137-seitige Dokument schlägt für ein „Gebildetes Rumänien“ folgende zehn Werte und Prinzipien vor: Gleichheit/Fairness, Integrität, Wohlbefinden, Professionalität, Exzellenz, Respekt, Flexibilität, Diversität/Vielfalt, Transparenz sowie Zusammenarbeit. 

Genannt werden für die Bildung zehn Hauptziele, von denen ich folgende erwähnen möchte: Qualität in der Bildung für jeden, Diversität und binnendifferenzierte Bildung, Autonomie und kritisches Denken. Die Eigenverantwortung und Integrität sind Schlüsselwerte, die angenommen und geübt werden, der Lehrer als Vorbild in der Bildung ist das prägendste pä-dagogische Instrument, für die Erziehung werden genügend Ressourcen auf eine transparente und effiziente Art verteilt und eingesetzt. Sichere und gesunde Schulen soll es geben, das rumänische Schulwesen muss attraktiv werden und die internationalen Gegebenheiten zur Zusammenarbeit nutzen. Das Bildungsmanagement soll professionell sein und auf Verantwortung, Zusammenarbeit und Stabilität fußen, Resilienz des gesamten Systems ist ein wichtiges Ziel.
 

Wurden die genannten Vorgaben dann als Grundlage für die Erarbeitung einer Gesetzesvorlage genutzt?

Im Sommer des Jahres 2022 wurde vom damaligen Bildungsminister Sorin Cîmpeanu ein erster Gesetzesentwurf zur öffentlichen Debatte gestellt, dazu wurden mehr als 2000 Vorschläge eingereicht. Nachdem Vorschläge in eine neue Variante einbezogen wurden, hat die neue Ministerin, die ehemalige Präsidialberaterin zu Bildungsthemen, Ligia Deca, diese am 27.02.2023 in einer Pressekonferenz vorgestellt und der Regierung eingereicht, die am 29.03.2023 das Gesetz annahm und es dem Parlament weiterreichte.

Die Gesetzesvorlagen zur Reform des Schul- und Universitätswesens, die das Parlament am 22.05.2023 angenommen hat, wurden von der politischen Opposition vor dem Verfassungsgericht angefochten und nach dem Verdikt, dass die Gesetze in allen Punkten verfassungskonform sind, wurden diese am 4.07.2023 im Rahmen einer festlichen Zeremonie im Cotroceni-Palast von Präsident Klaus Johannis unterschrieben. Das Gesetz versucht, „die Engpässe des jetzigen Bildungssystems zu lösen, die Qualität der Bildung zu steigern und diese den derzeitigen Herausforderungen anzupassen“, erklärte Präsident Johannis. Das Gesetz ist dann gleich am nächsten Tag im Amtsblatt Nr. 613 erschienen.
 

Was beinhaltet der Gesetzestext denn konkret für den voruniversitären Unterricht?

Es gibt fünf Kapitel: die Struktur des voruniversitären Unterrichts, lebenslanges Lernen, das Statut und die Karriere des didaktischen Personals und die Qualitätssicherung. Zum Schluss noch transitorische und Endbestimmungen. Das Dokument hat 96 Seiten und sieht auch organisatorische Änderungen bezüglich der Inspektorate vor, es werden sogenannte Direktionen für voruniversitären Unterricht („Direcții județene de învățământ preuniversitar – DJIP/DMBIP“) gegründet und die Agentur für Qualitätsmanagement übernimmt von den Inspektoraten die Befugnisse der Inspektionen und heißt nun „Agenția Română pentru Asigurarea Calității și Inspecție în Învățământul Preuniversitar“ (ARACIIP). Umstrukturiert wird auch das Zentrum für Curriculum und Evaluierung, da das Institut für Erziehungswissenschaften („Institutul de Științe ale Educației“) wieder gegründet wird.
 

Das klingt ja alles interessant, aber wie soll diese ganze Vision konkret bis auf die Lehrer- und Schülerebene umgesetzt werden?

In Kapitel 5 werden die Ziele und Maßnahmen, die für die zehn prioritären Bereiche des Projektes „Gebildetes Rumänien“ vorgeschlagen werden, im Detail vorgestellt: didaktische Karriere und beruflicher Werdegang, Management und Leitung/Führung des Bildungssystems, Finanzierung des Bildungswesens, Curriculum und Evaluierung auf Kompetenzen zentriert, qualitative und inklusive Erziehung für alle Kinder, funktionelle Alphabetisierung, Förderung der STEAM-Erziehung (ein englisches Kürzel für Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen, Kunst und Mathematik), Digitalisierung und Resilienz.
 

Die Anwendungsbestimmungen, ohne die ja kaum etwas umgesetzt werden kann, sollen innerhalb der nächsten Monate vom Ministerium erarbeitet werden…

Unlängst wurde ein Minstererlass genehmigt, der die Übergangsmaßnahmen innerhalb des Bildungssystems beinhaltet, in dem die mehr als 280 nötigen Regierungsbeschlüsse und Ministererlasse im voruniversitären Bereich und mehr als 100 im universitären Bereich mit Terminen zur Erarbeitung aufgelistet werden. Dieses Dokument sehe ich als sehr wichtig an, da Lehrer aktiv werden können und, wenn die jeweiligen Dokumente zur Debatte stehen, ihre Meinung zur Verbesserung des Gesamtpakets einbringen können. Ich denke auch an die Rahmenpläne, die wohl als einheitliches Ganzes vorgelegt werden sollen: es handelt sich um die Aktualisierung von der Vorbereitungsklasse bis zu Klasse 8 und Erarbeitung der noch nicht vorhandenen im lyzealen Bereich. Es folgt dann erneut die Arbeit an den Lehrplänen, von denen dann der ganze vom Lehrer gesteuerte Lernprozess in der Klasse abhängt.
 

Trotzdem schon jetzt: Welches wären denn wichtige Änderungen auf Schüler- und Lehrerniveau?

Ministerin Ligia Deca zufolge setzt das Gesetz Impulse zur Bekämpfung von Schulabbruch und gesellschaftlicher Trennung. Zur Prävention von Gewalt an Schulen sollen mit Zustimmung der Eltern Kameras in den Klassenräumen zugelassen werden. Auch sollen Lehrkräfte in Problemmilieus in der Zukunft zusätzlich unterstützt werden. Für die Transportkosten der Lehrer, die pendeln, werden zudem neuerdings Mittel aus dem Haushalt bereitgestellt, um nur einige positive Absichten zu nennen.

Viele Bestimmungen sollen erst in weiter Ferne greifen. Wenn man bedenkt, dass bisherige Unterrichtsgesetze -zig Mal geändert wurden, kann man Vorgaben der Art „ab dem Schuljahr 2030-2031 wird die kleine Gruppe des Kindergartens verpflichtend sein“ nur mit großer Vorsicht betrachten. Für die Schüler, die in diesem Herbst mit der 5. Klasse beginnen, soll es neben dem bisherigen Aufnahmesystem ins Lyzeum auch die Möglichkeit einer direkten Prüfung für begehrte 9. Klasse geben (also in knapp 4 Jahren...). Diese Regelung wurde sehr unterschiedlich aufgenommen.

Es ist nun mal so, dass es in jeder größeren Ortschaft Lyzeen gibt, die viel mehr Anwärter als Plätze haben und diese wünschen sich eigene Aufnahmeprüfungen. Da die Durchschnittsnoten der Klassen 5-8 leider nicht immer relevant sind, wurde der Anteil dieser Durchschnittsnoten an der Aufnahmenote zuerst von 50 Prozent auf 25 Prozent reduziert, in diesem Jahr sogar ganz gestrichen beziehungsweise in ganz speziellen Gleichstandssituationen nur noch als Differenzierungskriterium angewendet. Das sind ja schon Maßnahmen in die gleiche Richtung. Trotzdem wird man schwer Regelungen finden, die alle zufriedenstellen.

Auch im Bereich der Abiturprüfung und der Fächer, die geprüft werden, gibt es eine rege Debatte und sicher werden wir uns als Minderheiten den großen Herausforderungen stellen müssen. Die neuen Regeln sollen für Schüler, die 2025 mit der 9. Klasse beginnen, gelten. 
 

Bei der Bakkalaureatsprüfung letzten August gab es doch auch schon Neuigkeiten…

Die Arbeiten wurden eingescannt und digital in einem Zentrum vor einem Computer evaluiert. Das bedeutet, dass alle Arbeiten auf einer Plattform hochgeladen und gespeichert wurden. In Zukunft wird beabsichtigt, dass alle Prüfungen in dieser Form bewertet werden. Wir stehen nun im Minderheitenschulwesen vor einer großen Herausforderung und jeder Lehrer, der Deutsch oder ein Fach auf Deutsch unterrichtet, ist in den Prüfungszeiten gefragt und sollte bereit sein, Arbeiten zu bewerten. Einerseits verläuft die Evaluierung viel leichter und es wird nicht mehr viel Zeit mit dem Ausfüllen von Tabellen verwendet, wo auch oft Fehler aufgetreten sind, anderseits steigen die Anforderungen an Korrektoren und Informatiker bedeutend. In manchen Fächern sind wir schon jetzt an personelle Grenzen gestoßen, vor allem da, wo landesweit wenige Lehrer das jeweilige Fach unterrichten. Es muss noch gesagt werden, dass man die Arbeiten aus dem eigenen Kreis nicht korrigieren darf, daher ist es sehr, sehr wichtig, dass alle deutschsprachigen Lehrer ihren Beitrag leisten und dadurch an dem Erhalt der deutschsprachigen Schulen mitwirken. Ich danke allen Lehrern, die schon an dieser Art von Prüfung teilgenommen haben!
 

Zurück zum Unterrichtsgesetz: Was sehen Sie bei den neuen Vorgaben besonders positiv?

Zum Beispiel, dass der Lehrplan vorsieht, dass 75 Prozent der Inhalte vorgeschrieben sind und sich mit den Pflichtthemen für die Evaluierung decken müssen und der Rest den Lehrern frei zur Verfügung steht. Damit ist es nun offiziell, dass sich der Lehrer den Interessen und dem Niveau der Klasse anpassen, binnendifferenziert arbeiten oder für die Evaluierung Vorbereitungen machen kann.
 

Was kann Ihrer Meinung nach nicht durch Gesetze gelöst werden?

Die effektive Arbeit in der Klasse, das was in der Stunde passiert. Das zeigte auch der letzte Streik der Lehrer Ende Mai bis Mitte Juni. Für Lehrer ist Wertschätzung wichtig, nicht nur das Gehalt, das eine Stellung des Berufs in der Gesellschaft widerspiegelt. Auch die Würde spielt in diesem Beruf eine ganz wichtige Rolle, sich als Lehrer würdig zu fühlen, steht ganz oben. Das Vertrauen in die Lehrerschaft ist allgemein stark gesunken und die Autorität der Lehrer wird fast täglich in Frage gestellt. Sie stehen unter ständigem Druck der Eltern und der Gesellschaft und es kommt immer öfter zu Prozessen und negativen Schlagzeilen.

Was ich als schwer lösbar sehe, ist die Verringerung der Kluft, die es in der Bildung zwischen Land und Stadt, zwischen Arm und Reich gibt. Die Ergebnisse bei den zentralen Prüfungen widerspiegeln diese Ungleichheit in aller Deutlichkeit. Es ist auch traurig, dass viele Projekte und viele Maßnahmen, die getroffen wurden, ihr Ziel nicht erreicht haben.
 

Der deutschsprachige Unterricht in Rumänien ist ja ein sehr spezielles Kapitel: in größeren Städten von Eltern heiß begehrt, wegen Lehrermangel trotzdem geschwächt…

Bei den Bestimmungen betreffend Unterricht in den Sprachen der Minderheiten gibt es im neuen Unterrichtsgesetz kaum Änderungen, so dass diese auch weiterhin Modellcharakter haben.
Auch in Zukunft versuchen wir im Rahmen der Direktion für Minderheitenschulwesen mit allen Änderungen Schritt zu halten und das Aufgebaute zu erhalten. Ich denke an das Curriculum für das Fach Deutsch als Muttersprache, die Prüfungsformate, die Wettbewerbe, die entstandenen Lehrbücher. Es geht in diesem Bereich um die Konsolidierung der gegebenen Strukturen und, wenn möglich, auch darum, neue Wege zu gehen: Projekte, Zusammenarbeit mit Hochschulen, den Fortbildungszentren und natürlich mit Institutionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Unser Interesse wäre die Sprachförderung als Indentitätselement und als Brücke zu anderen Kulturen. In diesem Sinne wünsche ich allen am deutschsprachigen Schulwesen Beteiligten ein gutes neues Unterrichtsjahr!
 

Vielen Dank für die Ausführungen!