Großmaul oder Versöhnling?

Fünf Tage vor der US-Präsidentschaftswahl und angesichts der Tatsache, dass es kommenden Dienstag wohl die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte der USA geben wird – zum Zeitpunkt, als dieser Beitrag niedergeschrieben wurde, waren bereits weit über 60 Millionen Wahlberechtigte bei den Urnen oder haben von der (von Donald Unberechenbar so arg verleumdeten) Briefwahl Gebrauch gemacht – gibt es keinen Hellsehenden, der voraussagen könnte, was kommenden Mittwoch in Amerika los sein wird. Zumal das längst überholte US-Wahlsystem einerseits manipulierbar scheint, andrerseits  den einfachen demokratischen Mehrheiten überhaupt keine Bedeutung beimisst (Hillary Clinton hatte drei Millionen Stimmen mehr als Trump – Trump mehr Elektoren und wurde Wahlsieger…).

So gesehen sind auch die sich häufenden Momentaufnahmen der Umfragen – egal, wie glaubhaft die Umfrageinstitute sind – nichts anderes als Erhebungen über Zufälle, die man im nächsten Augenblick vergessen kann. So lautete schon 2016 eine der (rechtfertigenden) Schlussfolgerungen nach US-Wahlen.

Auch die durch Umfragen erhobene Lage in den „Pendel-Staaten“ Ohio (+0,5 Prozent für Trump), Florida (+1,4 Prozent für Biden), North Carolina (+2,7 Prozent für Biden), Michigan (+7,2 Prozent für Biden) oder Arizona (+3,9 Prozent für Biden) sagen eigentlich wenig aus. Immer wieder wird auf die vergleichbare Situation von Hillary Clinton vor den Wahlen 2016 hingewiesen. Gibt es ein Trotzdem?

Trump kann, gegenüber Präsidenten der letzten Jahrzehnte, auf den höchsten Zufriedenheitsgrad bezüglich der Wirtschaftsleistungen der USA hinweisen. Die Gallup-Umfrage von Mitte September spricht für ihn. Gefragt wurde, ob es der betreffenden Familie besser gehe als vor vier Jahren, und 56 Prozent antworteten mit „Ja“ (bei Obama waren es 45 Prozent, bei George W. Bush 47 Prozent, bei Reagan 44 Prozent, bei anderen Präsidenten z.T erheblich weniger). Oder: Selbst linke Beobachter geben zu, dass die Daumenschrauben, die Trump in der Außenpolitik einigen Ländern angelegt hat – China, der EU (eher angedroht), Russland, dem Iran – von den eventuellen Nachfolgern erst mal „kreativ genutzt“ werden sollten, bevor die Schrauben gelockert werden und zurückgekehrt wird zu „normalen“ transatlantischen und transpazifischen Beziehungen.

Das zweite und letzte Fernsehduell zeigte wieder mal nicht das wahre Gesicht des US-Präsidenten: Zu beherrscht, zu krampfhaft kontrolliert, ja mit ungewöhnlich kalter Intelligenz drängte er Biden fast spielerisch in die Defensive und vor sich her, aber immer mit ängstlichem Blick auf die Moderatorin, die einstimmig zur wahren Siegerin des Duells erklärt wurde, weil sie die Streithähne zum Schönmännchenmachen zwang.

Als irritierend wird Bidens Zurückhaltung empfunden. Manche fragen sich gar, ob der Katholik (etwas Seltenes an der Spitze der USA – am bekanntesten John F.Kennedy) sich bereits dem Ziel zu nahe fühlt? Immerhin sind inzwischen mehrere Republikaner zu ihm übergewechselt, unter ihnen ein ganzes Team hochrangiger Ex-Regierungsbeamter, die u.a. in republikanischen Regierungen gedient haben (Richard Armitage, John Negroponte, Aaron Friedberg oder Chuck Hagel). Ob die aber auf den Wahlausgang einen messbaren Einfluss haben können?

Letztlich dürfte sich wieder mal der alte Spruch von der Rolle des Lokalen beweisen: „All politics is local!“ Und in einem so großen und (von Trump, dem Meister des Aufhetzens und Zwiespaltschaffens) so gespaltenen Land, das zudem vom unsichtbaren Feind SARS-CoV-2 gepeitscht wird, scheinen heute, realistisch gesehen, die Chancen „bereinigt“ 50:50 zu stehen. Und Donald schwitzt jetzt wahlkämpfend in den „Swing-States“…. Groß hat er Amerika nicht gemacht.

Die Amis haben die Wahl zwischen zwei Alten: dem rechthaberischen Großmaul und dem diplomatischen Versöhnling.