Hochbauten, Vormachtstellung und Erklärungsnot

Konservatives Hermannstadt spürt kleine, aber echte Opposition

Ein unbebauter innenstädtischer Freiraum als solcher bedeutet noch keinen politischen Vorteil. Den müssen die Gewählten erst noch zum Vorteil möglichst vieler bebauen lassen. Wie weit erfüllt ein elitäres Büroviertel diesen Vorteil?

Vom noch unbebauten Platz aus ist klein und spitz der Turm der evangelischen Stadtpfarrkirche am Huetplatz zu erkennen. Wenn dieser Weitblick schon einem neuen Gebäude weichen muss, warum dann nicht wenigstens für einen gemeinnützigen Zweck? | Fotos: der Verfasser

Die vollständigen Zahlen des Stadtrates von Hermannstadt/Sibiu sind nicht so schwer zu merken: gerade mal zwei Mitglieder stellt die Sozialdemokratische Partei (PSD), vier das Bündnis der Union Rettet Rumänien (USR) und der Partei für Freiheit, Einheit und Solidarität (PLUS), acht das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) und neun die Nationalliberale Partei (PNL). 23 politisch gewählte Personen, die sich monatlich zu ordentlich einberufener Sitzung treffen und gemeinsam mit Bürgermeisterin Astrid Fodor (DFDR) über das Wohl und Weh von Hermannstadt beraten und abstimmen. Erstens: Kann man sich darauf verlassen, dass jeweils dreiundzwanzig individuelle Gewissen entscheiden, was richtig und was falsch ist? Zweitens: Oder müssen auch Hermannstadts Wähler dem allgemeinen Umstand Tribut zollen, dass es in der Politik so etwas wie das individuelle Gewissen einer Einzelperson nur herzlich wenig oder überhaupt nicht gibt? 

Auf die erste Frage ist mit Nein zu antworten. Und das Ja auf Frage Nummer zwei ist ein trauriges, denn um das blinde Vertrauen der Wählerschaft zu ihren politischen Vertretungsorganisationen und Parteien ist es heute auch in Hermannstadt nicht mehr allzu weit her.
Dabei hat Europas Kulturhauptstadt des Jahres 2007 sich von der Jahrtausendwende an genau den Status einer rundum wetterfesten  Hochburg zurückerobert, den sie in den Jahrzehnten vor und nach der Zeitenwende von 1990 eingebüßt hatte. Für die Stadt am Zibin hat Ex-Bürgermeister und Ex-DFDR-Vorsitzender Klaus Johannis sich als ein unverhoffter Glücksfall entpuppt. Noch heute wird an bestimmt so manchem Küchentisch in Hermannstadts Häusern und Wohnblocks davon geschwärmt und geraunt, dass der amtierende Staatspräsident für die Gastgeber-Burg des EU-Gipfeltreffens vom 9. Mai 2019 ein gefundenes Fressen war. Damals wie heute ging es schließlich um nicht mehr und nicht weniger als das Sprichwort der Politik schlechthin – Fressen oder gefressen werden. 2014 glückte Klaus Johannis wie aus dem Nichts der Aufstieg ins höchste Amt Rumäniens.

Aus dem Nichts? Nur im übertragenen Sinn. Denn nach dreieinhalb Amtszeiten von Klaus Johannis im Rathaus am Großen Ring/Pia]a Mare hatte das interne und externe Bild Hermannstadts hieb– und stichfeste Qualität erreicht. Astrid Fodor rückte mehr als volle drei Jahre nach einer im April 2011 beschlossenen Aktualisierung des Rahmens für den Generalplan zur Verstädterung Hermannstadts (Plan Urbanistic General, PUG) auf die Chefposition im Rathaus nach. Betreffend die aktuellen und auch die noch zu erwartenden Rahmenbedingungen für die bauliche Gestaltung Hermannstadts muss eingeräumt werden, dass der im April 2011 beschlossene PUG für eine Laufzeit von zehn Jahren aufgesetzt worden war. Ein triftiger Grund für den Stadtrat, am 25. März 2021 entschieden zu haben, die Gültigkeit dieses PUG zu verlängern. Ein Vorvertrag für das Erstellen einer Dokumentation zwecks neuem PUG wurde erst im Dezember 2020 unterzeichnet. Die Geschäftsgesellschaften SC Daedalus Proiect SRL und SC Intergraph Computer Services und das Zentrum für Projektierung, Expertise und Consulting der Universität für Architektur und Städtebau „Ion Mincu“ Bukarest haben bis Dezember 2023 Zeit, dem Rathaus Hermannstadt einen ausgewogenen PUG vorzulegen. Bis dahin sollte schlicht Vorsicht geübt werden.

Nicht übereilt vorpreschen

Nur ist eben der Zuschlag, den der Stadtrat in seiner ordentlichen Sitzung am Donnerstag, dem 22. April, der Projekt-Dokumentation „P.U.Z. - Restructurare urbană – Dezvoltare de activități economice cu caracter terțiar (Et) și funcțiuni rezidențiale (RrM) în Sibiu, str. Autogării nr. 5-7“ nach einiger Diskussion unter Tagesordnungs-Punkt 36 erteilt hat, nicht so einfach mit einem Gebot zu Vorsicht vereinbar, sei es geschrieben oder ungeschrieben. Die Absicht, das tatsächlich sehr große und noch freistehende Gelände zwischen der Autogării-Straße, der Distribuției-Straße und der Bahnlinie unweit vom Stadtviertel Neppendorf/Turnișor auf Initiative der GmbHs S.C. Premium S.R.L., S.C. Conelt S.R.L. und S.C. Urban Pulse S.R.L. für wirtschaftliche Zwecke zugunsten der Stadt bebauen zu lassen, ist selbstverständlich lobenswert. Auch die Option für bis zu 5000 Arbeitsplätze, mit der dieses geplante Büroviertel lockt, ist nicht zu verabscheuen. Kritisch dafür stimmt der Gedanke an insgesamt drei Hochbauten, die aus diesem modernen Viertel markant in den Himmel über der Stadt aufragen sollen. Markant, weil 14 Etagen hoch.

Eine umstrittene Projekt-Dokumentation, die dem Rathaus erstmals im September 2019 vorgelegt worden war. Die geplanten 14 Etagen der drei Büro-Hochbauten widersprechen dem PUG, der im April 2011 beschlossen und kürzlich vor drei Monaten verlängert wurde, weil der neue PUG zwar bereits in Arbeit, aber noch längst nicht spruchreif ist. Würden alle Mitglieder des Stadtrates berücksichtigt haben, dass der alte PUG sein Verfallsdatum faktisch überschritten hat, nur mangels Ersatz weiterhin gilt und das Bauen von über vier Etagen im anvisierten Gelände für das hochmoderne Büroviertel nicht zulässt, hätte ehrlicherweise zugegeben werden können oder viel-leicht sogar müssen, dass Hermannstadt städteplanerisch in einer selbstgemachten Schwebe hängt und es tunlichst unterlassen sollte, voreilig einen Entscheid zu treffen, der Rahmenbedingungen des PUG vom April 2011 sprengt. Aber nichts dieser Art traf ein. Von 23 Mitgliedern des Stadtrates stimmten am 22. April nur vier gegen die streitbare Projekt-Dokumentation „P.U.Z. - Restructurare urbană – Dezvoltare de activități economice cu caracter terțiar (Et) și funcțiuni rezidențiale (RrM) în Sibiu, str. Autog˛rii nr. 5-7“. Vier Stimmen, die deckungsgleich mit dem Bündnis von USR und PLUS sind.

„Wir unterstützen die Entwicklung Hermannstadts“, meldete sich Diana Mureșan noch vor der unglücklich verlaufenen Abstimmung zu Wort. Mit ihrem Vorschlag, den Punkt 36 von der Tagesordnung zu streichen, blieben die Vorsitzende der USR-PLUS-Fraktion und ihre drei Mitstreiter erfolglos. Ihre vier Gegenstimmen sind jedoch nicht als totales Nein zum wirtschaftlichen Ausbau Hermannstadts zu verstehen. Worum es ihnen geht, sind Mitsprache, Moderation und Mittelweg.

Zukunftsmusik oder dringende Vision?

Nicht von ungefähr kommt das Diskutieren über Minuspunkte des exzessiven Kapitalismus verstärkt in der Welt auf. „Fridays for Future“ lässt sich auch in Hermannstadt längst nicht mehr aus der Politik wegdenken. „Wir sind auf euch angewiesen!“ lautet der Titel des Nachwortes aus der Hand von Bürgermeisterin Astrid Fodor im Umweltfibel-Taschenbuch für Jugendliche „Yes, we care“ mit Zeichnungen von Dan Perjovschi (Paula und Elfriede Dörr, Curs Verlag 2020). Ökonomie ist gut, solange sie nicht zur Absicht auf das Auswringen bis zum letzten Tropfen Energie denaturiert. Auf dem Spiel stehen die Energie der Erde und auch die Energie des Menschen. Beide Energien sind nicht unendlich. Was für eine lautere oder unlautere Vision steht hinter den drei 14 Etagen hohen Blocks, die im gewünscht neuen Büroviertel Hermannstadts gebaut werden sollen?

Die Frage sollte auch andersrum gestellt werden dürfen: Für welche anderen Zwecke und Ziele könnte so ein freies Gelände sehr großen Umfangs genutzt werden, wenn man sich entschiede, es nicht für eine schnellstmöglich erreichbare maximale Wirtschaftlichkeit zu nutzen? Wäre es wirklich zu viel verlangt, wenigstens darüber zu sprechen, dass dort auch eine oder mehrere Schulen oder eine neue Immobilie für Kulturzwecke gebaut werden könnten? Nicht von ungefähr stehen der Braindrain und die schwache Bildungs- und Kulturpolitik Rumäniens hart zu Buche. Natürlich, Rumänien muss seine nationale Wirtschaftskraft dringend aufmöbeln, will es global mithalten können. Das bedeutet aber keineswegs, Bildung und Kultur politisch beiseite schieben zu dürfen. Geld alleine reicht nicht.

Mit Eitelkeit Richtung Tiefstand

Wer von einer Gemeinschaft politisch gewählt wurde und ihr auf Zeit statt für immer und ewig voransteht, sollte nicht vergessen, dass die Welt eben nicht nur aus zählbarer Materie besteht. Der Spruch vom Geld, das die Welt regiert, bedeutet nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist dort zu suchen, wo es um mehr als Geld geht. Auch Hermannstadt möchte vom Rathaus mehr als nur einfach Geld.

„Forumul German are un scop și o direcție: binele comunității. Iar partidele mai au și alte interese ale grupului, iar la Forum nu avem așa ceva, avem doar binele comunității“, sagte Wolfgang Alexander Guib, keine 30 Jahre alt und eines von den acht DFDR-Mitgliedern,  die es in den Stadtrat geschafft haben, in einem Videoclip für die Kampagne vor den Lokalwahlen vom 27. September 2020. Soll heißen: ´Die Parteien verfolgen auch andere Gruppeninteressen, aber bei uns im Forum gibt es so etwas nicht, bei uns läuft es nur dem Gemeinwohl zuliebe.´ Die Anordnung, es auszuposaunen, hätte vorab auch jedes andere von den später gewählten DFDR-Stadtrat-Fraktionsmitgliedern treffen können. Aber sie traf den Jüngsten.

Siegfried Thiel berichtete am 21. April 2021 in der Hauptnachricht „Nachwuchsförderung für Kultur und Politik. DFDR-Vorsitzender spricht Herausforderungen an“ auf Seite 1 der Banater Zeitung (BZ) davon, dass Dr. Paul Jürgen Porr anmahne, man müsse Jugendliche nicht nur in die kulturellen Tätigkeiten einbinden, sondern auch ihre politischen Interessen wahrnehmen und sie für die politischen Belange gewinnen. „Tut man das nicht, engagieren sie sich anderweitig politisch und gehen zum Beispiel zur USR.“ Gilt das nebst politisch Gewählten auch für hinterfragende Wählerstimmen? Wahrscheinlich.

Denn vier von den zwölf Stadtrat-Sitzen, die das DFDR auf Ebene Hermannstadt bis Herbst 2020 hielt, hat es verloren. Vier Sitze, die auf das Konto des neu in den Stadtrat aufgeschlossenen USR-PLUS-Bündnisses gehen. Von den sechs Sitzen, die der PSD angehörten, gingen vier zur siegreichen PNL über. Denkt man an die sechzehn Sitze zurück, die das DFDR von 2004 bis 2008 geführt hat, drängt sich die Frage auf, warum das Forum Hermannstadt seinen alten politischen Standard heute nur noch halb so stark zu verteidigen vermag? Was für Zahlen werden oder können die Lokalwahlen im Jahr 2024 bringen? Wie wäre einem weiterem politischen Rückgang des DFDR an seinem angestammten Hauptstandort Hermannstadt vorzubeugen? Es geht um eine Gewissensfrage. Wählende, die alle vier Jahre an der Wahlurne vorstellig werden, neigen dazu, diese Frage individuell zu beantworten und entsprechend zu votieren. Hochhäuser für die Wenigen der Politik oder urbanes Gemeinwohl für die Vielen?