Hürden beim gemeinsamen Bauen von Hoffnung

Internationales Theaterfestival Hermannstadt gab Richtung vor

„Eigentlich hege ich eine Renitenz gegenüber der weit verbreiteten Gewohnheit, Texte eines Autoren in einem Buch zu sammeln. Aber bei diesem Sammelband ist das anders. Es geschieht nicht oft, dass durch Aneinanderreihung jeder Text in einem neuen Licht auftritt. Dieses Buch hat das Zeug, langfristig von sich reden zu machen!“, urteilte Sever Voinescu, Chefredakteur der „Dilema Veche“ (rechts im Bild), auf halber Strecke des FITS 2021 über den Band „Viață și teatru pe Scena Lumii“ (Polirom-Verlag) von George Banu (links), worin dessen Feuilletons der letzten fünf Jahre nachgelesen werden können.
Fotos: der Verfasser

Matthias Rettner vom Aktionstheater PAN.OPTIKUM weiß, dass „die Facebook- und Twitter-Generation mitmachen will. Partizipation ist alles!“ Auch wenn Europa hin und wieder als rotes Tuch daherkommt – die Erwachsenen von morgen schrecken nicht davor zurück, sondern fordern ihr Mitspracherecht darüber ein.

Anca Hanu in der Titelrolle (rechts, im Vordergrund) wurde 2020 von der Rumänischen Theatervereinigung UNITER mit dem Preis für die Beste Vorstellung des Jahres 2019 ausgezeichnet.

Wenn Dan Perjovschi etwas Neues anfängt, dann will das wirklich etwas heißen. Seine „Horizontale Zeitung“ an der Mauer links des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt (TNRS) wurde im August vor dem Start der 28. Auflage des Internationalen Theaterfestivals Sibiu (FITS) mit einer dicken Schicht weißer Farbe übertüncht, damit der Zeichner, der durch Stift und Pinsel redet, statt sich beim Arbeiten in und für die Öffentlichkeit ein Blatt vor den Mund zu nehmen, ab sofort wieder aus dem Vollen schöpfen kann. Er ging auch in der Tat gleich aufs Ganze und sparte die globale Großwetterlage nicht von seinem Blick auf die Welt aus, die sich vom 20. bis 29. August 2021 in Hermannstadt zum großen Festival traf: „Zum Zeitpunkt, wo wir über Mängel des FITS lästern, passiert in Afghanistan, was eben passiert“. Es sagt sich so leicht, aber es ist doch alles andere als einfach zu realisieren, das Motto „Building.Hope.Together“ der 28. Auflage des FITS.

Trotz dem Zugeständnis von Dan Perjovschi an diesen kaum noch zu überbietenden alljährlichen Kurzzeiterfolg auf der Bühne eines immer schwerer kränkelnden Kultursektors in Rumänien, für den Theater- und Festivalintendant Constantin Chiriac und sein unter Dauerhochbelastung arbeitendes Team immer stärker zu schuften bereit scheinen, ist ein Stückchen Kritik sicher nicht fehl am Platz. 

Wo die aus Gründen pandemisch gebotener Vorsicht ausschließlich online veranstaltete 27. Festivalauflage im Sommer 2020 gratis ohne jeden Geld einfahrenden Ticketverkauf auftrumpfte und dazu auch die Erinnerung im Raum mitschwingt, dass Eintrittskarten noch im Juni 2019 maximal 50 Lei gekostet hatten, wuchs der Spitzentarif für das FITS 2021 sprunghaft auf 150 Lei an. Gnadenlose Abzocke? Oder wäre beschwichtigend einzuhalten, dass man sich unverhofft glücklich schätzen sollte, nochmal billig davongekommen zu sein, weil beispielsweise für Eintrittskarten der aktuellen Auflage des Enescu-Festivals bis zu 230 Lei hinzublättern sind? 

Die Frage nach sozialem Bildungs- und Gemeinschaftsgut, das nicht zu viel kosten darf, erzeugt vielleicht Magengrimmen bei Zuschauern mit feinem Sinn für Theater, Kunst und Musik, aber leider knapper Geldbörse. Was am Ende zählt, ist nicht das Bedürfnis, sondern die Zahlkraft des Konsumenten. Die sich das teure, weil niveauvolle Vergnügen leisten können, bleiben unter sich. Bleibt dieser Trend beibehalten, drohen Kunst und Kultur die aufkeimende innergesellschaftliche Spaltung zu fördern.

Nur gut, dass die Ticketpreise des FITS 2021 sich nicht ausnahmslos dreistellig aufgedrängt haben. Etliche Live-Konzerte in den Kirchen und der Synagoge Hermannstadts konnten zum moderaten Tarif von 30 oder 40 Lei besucht werden. Und selbst Vorstellungen wie das Theaterstück „De cealalalt² parte a lumii“ (Auf der anderen Seite der Welt) von Alexandra Badea zu Fragestellungen europäischer Integration nicht nur in Rumänien, Ende Mai 2021 am TNRS uraufgeführt, wurden zum Preis von 60 oder immerhin noch ermäßigt 40 Lei verkauft. Tarife aber wie 150 oder ermäßigt 100 Lei für Auftritte wie beispielsweise die japanische Kabuki-Vorstellung „Povestea prințesei deocheate“ (Die Geschichte der unanständigen Prinzessin) vom Ensemble des TNRS um Starschauspielerin Ofelia Popii, das choreografische „Frühlingsritual“ der spanischen Israel Galván Company oder das Drama „Ave Maria“ von Pablo Neruda, Gonzalo Rojas, Eugenio Barba und dem dänischen Odin Teatret – bei aller Neugierde, derart hoch im Kurs stehenden Inszenierungen live zuzuschauen, dürften die 100 oder 150 Lei die Schmerzgrenze vieler möglicher Zuschauer überschritten haben. Nicht-Kaufen von Eintrittskarten aber bringt Konsumenten, die mit den ansteigenden Tarifen nicht einverstanden sind, kaum einen Preisstopp durch die Veranstalter selbst.

Auch gratis kann gut sein

Geld regiert nun mal die Welt, ob man es hat oder nicht. Einzelne, Familien und Gesellschaftsgruppen, denen es nicht locker in der Tasche sitzt, neigen dazu, beim Kulturgenuss zu sparen. Hart, aber wahr. Dennoch oder genau deswegen waren die gratis-Vorstellungen des FITS bitter nötig.

Einige von ihnen haben sich zweifelsohne einen Platz im Edelclub der besten Festivalveranstaltungen verdient. Abendaufführungen, darunter etwa das Stück „Mirror Images“ (Spiegelungen) des litauisch-deutsch-rumänischen Jugendprojekts „People Power Partnership“ unter der Leitung eines Teams vom Aktionstheater PAN.OPTIKUM aus Freiburg im Breisgau am zweiten Festivaltag im Garten der Evangelischen Akademie Siebenbürgen (EAS) im Stadtteil Neppendorf werden das FITS 2021 bestimmt tief im Langzeitgedächtnis der Zuschauer verankern. 

Was diesen sechzehn Tänzerinnen und Tänzern am frühen Karrierestart aus Rumänien, Deutschland und Litauen an zwölf Tagen Probenarbeit durch Vermittlung von Choreograf Kien Trinh, Regisseurin Sigrun Fritsch, Licht-Designer Max Rieger, Tournee-Managerin Marielle Koplin, Pädagogin Athena Gândil², Projekt-Mitarbeiter Mihail Vass und Projekt-Manager Matthias Rettner gelungen ist, entspricht voll und ganz den vier simplen Wörtern „Theater braucht frische Luft“, die sich das Aktionstheater PAN.OPKTIKUM mit gewissem Ernst auf die Homepage schreibt. Europa ist immer einen heißen Disput wert. Komplexe, Zwänge und Traumata, die einem oft von älteren Generationen mitgegeben werden, wollen endlich ausgerufen statt verschluckt sein.

Oder ist doch besser Schweigen zu üben, wenn einem die Leistung von Freunden überhaupt nicht zusagt? Genau dazu rät Kritiker und Wahlfranzose George Banu, Ex-Botschafter Rumäniens in Paris. Der Zuschauerraum sei eben nichts anderes als eine Resonanzkammer, die durch ihr Schweigen den Aufführenden ein bestimmtes Echo zurückschickt. „Wenn eine Vorstellung katastrophal ist, folgt auch eine entsprechende Depression!“, weiß George Banu aus vielfacher Erfahrung zu berichten. Die pandemische Zwangspause 2020 habe klar bewiesen, dass Bühne und Zuschauerraum glei-chermaßen wichtig sind. Von daher könne man als Zuschauer eine Vorstellung nur durch sein Im-Zuschauersaal-Sein legitimieren. „Mich grade wie ein Zensor zu verhalten, nein, das geht nicht. Ich maße es mir nicht an, eine Vorstellung zu verbieten.“ Für Theaterkritiker George Banu kommt vorzeitiges Verlassen des Zuschauer-saales einem Ausdruck von Verbot gleich. Theater ist die Erfahrung des Augenblicks, vor dem es nicht zu flüchten angeht. Und falls doch? Dann bleibt man trotzdem bis zum Ende da und sagt nachher einfach gar nichts zur Vorstellung!

Henrik Ibsens Schauspiel in fünf Akten „Die Frau vom Meer“ gilt als schwer zu vermittelnde Synopsis. Eine überaus harte Schale ist zu knacken, um die darin verbauten philosophischen Fingerzeige verstehbar zu machen. Heathcote Williams, Anne Furse und Maja Mitic von der britisch-serbischen Kompanie Athletes of the Heart, die den Stoff zu einer einstündigen Vorstellung für nur eine Person komprimiert haben, präsentierten ihre Bearbeitung auf der Bühne des Gong-Theaters Hermannstadt. Obwohl Akteurin Maja Mitic alles nach Plan spielte, wollte sich der Publikumsrausch weder im Zuschauerraum einstellen noch von da auf die Alleinunterhalterin überschwappen. Das Zeichen für den Schlussapplaus musste sie selber geben.

Fundgrube Gesellschaftskritik

Die Kehrtwende um satte 180 Grad folgte einen Tag später abends in der Kulturfabrik. Viele Ensemblemitglieder des gastgebenden TNRS mischten sich unter das Publikum, das sich den Heidenspaß des Musicals „Chiritza în concert“ von Ada Milea nach originalen Texten von Vasile Alecsandri und Matei Millo auf gar keinen Fall entgehen lassen wollte. Anca Hanu als begnadete Komödiantin in der Rolle der unbeholfenen Chiritza Bârzoi und das Ensemble des Rumänischen Nationaltheaters Klausenburg brachten keine großen Überraschungen auf die Bühne: Vom ersten Lacher an war deutlich zu merken, dass die hier in Hermannstadt im fast ausverkauften Theatersaal versammelten Fans süffisanter Gesellschaftskritik nur allzu genau wussten, was sie erwarten würde. Ein von echten Profis trainierter Humor jedoch, noch dazu in authentisch moldauischem Zungenschlag gespielt, verbraucht niemals seine Wirkung, und sei er innerhalb ein und derselben Stunde noch so häufig nachgereicht. Das Meisterstück von Ada Milea und Anca Hanu hat beim FITS 2021 ins Schwarze getroffen.

Zur Unzeit dagegen setzten ein paar Tage vor Festivalende verfrüht die ersten Herbstwetterboten ein. Der Sturz der Außentemperatur um bis zu zehn Grad binnen 24 Stunden, zusätzlich verschärft von häufigen Regenfällen, trieb das FITS zielstrebig auf sein rettendes Ende zu. Constantin Chiriac und sein Team können aufatmen. Aber nach dem Festival ist bekanntlich vor dem Festival. Bis dahin muss Rumänien kulturell mal wieder zitternd ausharren. Unkraut vergeht nicht.