„Ich bin mit dem Zeichenstift in der Hand auf die Welt gekommen …“

Ein Interview mit dem Künstler Gert Fabritius anlässlich seines 80. Geburtstages (I)

Gert Fabritius und Ingeborg Szöllösi im Atelier des Künstlers

„Transportable Heimat“ betitelt Gert Fabritius seine wichtigste Installation. Der 1940 in Bukarest geborene Künstler ist ein Wanderer, der seine Heimat immer bei sich trägt. Seine Kindheit ist vom Krieg geprägt. Seine Ausbildungs- und Studienzeit in Hermannstadt und Klausenburg fallen in die düsterste kommunistische Ära. Trotzdem hat er immer wieder Glück – mit Lehrern, die sein Talent erkennen und fördern, mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die ihn unterstützen, mit seiner Frau, die bis heute an seiner Seite steht. 1997 erhält er als einziger Siebenbürger den Lovis-Corinth-Sonderpreis, 2012 den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis. Seine Holzschnitte, Zeichnungen, Malereien und Installationen bereichern Sammlungen und Ausstellungen im In- und Ausland. Gert Fabritius ist für viele ein „Glücksfall“– nicht zuletzt: für die Siebenbürger Sachsen. Das Interview führte Dr. Ingeborg Szöllösi.

Am 21. Februar 1940 hat Dein Leben in Bukarest angefangen. Das war der erste Anfang, der vermutlich der einfachste war. Weitere Anfänge folgten. Wie viele Anfänge gab es in Deinem Leben? 
Die wichtigsten Lebensstationen in meinem Leben, die als Anfänge gelten können, waren: Mühlbach, Klausenburg, Bukarest und Ostfildern. – An den Uranfang, meine Geburt in Bukarest, erinnere ich mich nicht. Mein Vater hatte zwar neben seiner kaufmännischen auch eine Ausbildung zum Fotografen absolviert, aber es gibt kaum Fotos aus dieser Zeit. Am 23. August 1940, wenige Monate nach meiner Geburt, ist er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Die Maschine der rumänisch-französischen Fluggesellschaft LARES durfte in Temeswar nicht landen, obwohl vorgesehen war, dass sie dort tankt. Im August führte man gerade die Verhandlungen zum Zweiten Wiener Schiedsspruch, infolge dessen Nordsiebenbürgen wieder zu Ungarn gehören sollte. Am 23. August war noch nicht klar, ob auch das Banat mit Temeswar betroffen sein würde. So kam es, dass die Maschine keine Landeerlaubnis erhielt und in den Westkarpaten in den Baumwipfeln hängenblieb – einige überlebten den Absturz, mein Vater leider nicht. Meine Mutter ist kurz danach mit uns, meinem älteren Bruder und mir, zurück in ihr Vaterhaus nach Mühlbach gezogen, sodass ich meine Kindheit in Siebenbürgen verbracht habe.

Hat man Dir vielleicht die eine oder andere Geschichte aus dieser Zeit erzählt?
Es gibt eine lustige Geschichte, über die in der Familie viel gelacht wird: Der Bruder meiner Mutter kam aus Mühlbach nach Bukarest, um mich zu begutachten. Achtlos warf er seinen großen Mantel aufs Bett und erkundigt sich sofort nach mir. Doch ich war verschwunden – sie suchten mich überall und fanden mich nirgends, bis einer endlich auf die Idee kam, den Mantel des Onkels aufzuheben. Ich lag ganz still unter seinem Mantel. Das verschwundene Baby – eine gute Geschichte.
Von meiner Taufe weiß ich leider auch nichts, außer dass sie in Mühlbach stattfand und mein Taufpate der beste Freund meines Vaters war: Walther Guggenberger, Sohn der Bukarester Hoffotografin Ida Guggenberger. Mein Taufpate und mein Vater hatten einen noblen Laden für Weißwäsche und Sportartikel im Hotel Carlton in Bukarest, sie waren sogar Lieferanten des Königs. Auch mein Taufpate ist beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

1940 – der Einmarsch in Polen hatte schon stattgefunden, aber der Russlandfeldzug noch nicht. Du bist in einem Kriegsjahr geboren, Deine ersten Gehversuche und Spielerfahrungen fielen mitten in den Krieg. Wie verlief Deine Kindheit in dieser spannungsreichen Zeit?
Nach dem Tod meines Vaters und meines Taufpaten kam noch eine weitere Katastrophe: 1941 ist nach einem Erdbeben das Carlton-Gebäude eingestürzt. Die beiden hatten ihr Geschäft nicht ordentlich versichert, sodass meine Mutter von einem Tag auf den anderen mittellos geblieben war. Ihr Vater, mein Großvater Hann, nahm uns in seinem schönen großen Haus in Mühlbach auf. Aber auch die Verwandtschaft meines Vaters lebte in Mühlbach. Während und sogar nach dem Krieg brachte uns mein Großvater Fabritius jeden Sonntag nach dem Gottesdienst ein bisschen Marzipan aus seinem großen Kolonialwarengeschäft mit.

An den Einmarsch der deutschen Soldaten in Mühlbach kann ich mich sehr gut erinnern. Die große Werkstatt meines Großvaters Hann war noch nicht fertig, die Maschinen sollten aus Deutschland angeliefert werden. Doch hatte die Wehrmacht diese große Halle zu einem Lager umfunktioniert und bewahrte dort Stiefel, Mäntel, Zucker, Wärmebeutel u. a. für den Russlandfeldzug auf. Ich sehe heute noch die Winterstiefel vor mir. Aufsichtspersonen waren ein deutscher Soldat aus dem Saarland – Schorsch war sein Name – und ein russischer Gefangener – er hieß Fjodor und war immer lustig. Die beiden waren tagein, tagaus bei uns auf dem Hof: Mein älterer Bruder hatte sich mit Schorsch angefreundet und ich mit Fjodor. Und wenn die beiden ihr Mittagsschläfchen hielten, legte ich mich immer zum Fjodor. Eines Tages trugen sie Säcke voller Zucker auf den Dachboden. Fjodor wusste, wie schwer wir es hatten, und ließ einen Sack Zucker fallen. Sofort waren wir, meine Cousins und ich, zur Stelle. Ich habe den Zucker in meinen kleinen Schiebkarren geschaufelt. Weg war der Zucker! Doch ein deutscher Offizier hatte uns beobachtet – und seine Worte habe ich bis heute im Ohr: „Ein Deutscher stiehlt nicht!“ Die furchtbare Strafe war: Er vermischte den Zucker mit Sand und forderte meine Cousins auf, den mit Sand vermischten Zucker aufzulecken. Ich war zu klein, mich hat er nicht dazu verdonnert, aber ich habe mir vor Angst in die Hosen gemacht. 

Zwei Monate später waren schon die Russen da. Ich habe sie aus dem Fenster beobachtet und ihren Einmarsch zwischen zwei Fenstern auf die Wand gezeichnet. Das war meine erste Zeichnung. Leider wurde sie übertüncht. Fjodor war bei der Staatlichen Feuerwehr gelandet. Schorsch wollte, dass wir uns den deutschen Soldaten anschließen. Aber meine Mutter wollte in Mühlbach bleiben. Zum Glück, denn Schorsch ist schon am Mühlbacher Hattert in Richtung Alba Iulia erschossen worden. Aus dieser Zeit ist mir ein Bild in Erinnerung geblieben: Wie Fjodor mir aus dem Fenster der Feuerwehr gewunken hat – heute fällt mir die Assoziation „wie Solschenizyn im Gulag“ ein.

Wie habt ihr den Einmarsch der Roten Armee und die Zeit danach erlebt?
Die Russen haben wir gut überstanden. Schlimmer war, dass Rumänen, die mit den Russen gekommen waren, die Lagerhalle in unserem Hof komplett ausgeräumt hatten. Daraufhin haben uns die Russen zur Rechenschaft gezogen. Sie haben uns – meine Mutter, meinen Bruder und mich – in eine Reihe gestellt und das Gewehr auf uns gerichtet: „Wem habt ihr was gegeben?“ Wir hatten aus der Halle nichts entwendet. Später haben wir dann die Securitate- und Parteileute in den Ledermänteln der Wehrmacht herumlaufen sehen. 
1948 kam die große Enteignung. Wir wurden aus unserem Haus geworfen und mussten in die kleine Werkstatt vom Bruder meiner Mutter ziehen. Es gab ja keine rumänische Schule, und da unser Haus sehr groß war – es hatte drei Flügel und einen Innenhof wie ein Fußballfeld – wurde es zur rumänischen Schule umfunktioniert. 

In der Zwischenzeit bist Du zum Schulkind herangewachsen. Wie war die Schulzeit?
1946 bin ich eingeschult worden. Bis zur 7. Klasse bin ich in Mühlbach geblieben. Danach kam ich aufs Gheorghe-Lazăr-Lyzeum nach Hermannstadt, denn die Brukenthalschule gab es nicht mehr. In der 9. Klasse wechselte ich aber aufs Brukenthal-Gymnasium, das inzwischen neu aufgebaut worden war. Außer Zeichnen hat mich nur Geschichte und Literatur interessiert. Nach dem ersten Trimester war für die Lehrer klar: „Der Junge ist nichts fürs Gymnasium.“ So kam es, dass ich bereits mit 14 Jahren ein Handwerk erlernte und Schriftenmaler wurde. Mit 17 Jahren habe ich meine Gesellenprüfung bestanden und auch schon nebenbei Geld verdient. Ich konnte mich über Wasser halten – als Firmenmaler, aber auch mit Nebenjobs wie Weihnachts- und Osterkarten zeichnen oder Fahrradschilder beschriften. Ich war selbstständig und fühlte mich frei – das war für mich sehr wichtig! Im selben Jahr erfuhr ich, dass es in Klausenburg eine Schule gibt, wo man nicht lernen, sondern nur zeichnen muss: die Kunstschule (Liceul de artă). Ich habe mich in den Zug gesetzt und bin zur Aufnahmeprüfung nach Klausenburg gefahren. In dem Prüfungsraum wurden Staffeleien aufgestellt. Ich fing an zu zeichnen. Ein Lehrer kam zu mir und sagte: „Ești admis!“ (Prüfung bestanden!) Ich könne getrost nach Hause fahren, ich müsse das Ergebnis nicht mehr abwarten, sondern zu Schulbeginn, am 15. September, wieder zur Stelle sein. Das war der Kunstlehrer Ion Mitrea. Er blieb während meiner ganzen Klausenburger Zeit mein Förderer.

Hat sich Deine Mutter über Deinen Erfolg gefreut?
Für meine Mutter war ich eine Enttäuschung, weil ich es nicht geschafft hatte, das Brukenthal-Gymnasium zu beenden. Mein älterer Bruder hatte die Hochbauschule in Hermannstadt absolviert. Auf ihn war sie stolz. Ich war ihr suspekt – mit meiner Zeichnerei und der Kunst. 

Und schon wieder musstest Du Dich mit einem Neuanfang konfrontieren – in einer Großstadt wie Klausenburg. Wie hast Du Dich zurechtgefunden? Du warst ja fremd in dieser Stadt.
Am 15. September bin ich zur Feierlichkeit anlässlich des Schulbeginns in den Festsaal der Kunstschule gegangen. Plötzlich steht da ein wunderschönes Mädchen vor mir. Unsere Blicke begegnen sich. Nach der Feier dachte ich: „Jetzt siehst Du sie nie wieder!“ Doch als ich mich in meinen Klassenraum in die Schulbank setzte, wer saß vor mir? Das Mädchen. Das war’s – bis heute. Meine Frau Eva habe ich an meinem ersten Schultag kennengelernt und wir waren nicht nur in der Kunstschule, sondern später auch an der Kunstakademie „Ion Andreescu“ in Klausenburg Kollegen.

Du sagtest Dein Lehrer Ion Mitrea habe Dich gefördert. Wie?
Die Kunstschule wurde allmählich zu einem Elitegymnasium. Wir hatten Latein, Literatur- und Kunstgeschichte, Fächer, die mich interessiert haben. Ich war ein guter Schüler und wurde am Ende des Schuljahres immer prämiert. Ion Mitrea hat immer dafür gesorgt, dass ich deutsche Klassiker als Buchprämie bekam. Ich habe als Zweitbester das Abitur bestanden und wollte nach Bukarest gehen. Doch vor der Aufnahmeprüfung sagte mir Ion Mitrea: „Du gehst nicht nach Bukarest, du bleibst hier! Du bist hier auf der Kunstakademie bereits zugelassen.“ Die Sympathie, die mir dieser Lehrer entgegengebracht hat, war unglaublich. Er war wie eine Vaterfigur für mich. Auch meine Freundschaft mit Eva hat er nicht skeptisch beäugt, sondern uns ermutigt, zusammenzubleiben.

Fortsetzung in unserer morgigen Ausgabe