„Ich habe viele Pläne mit den Büchern der anderen“

Gespräch mit dem Literaturkritiker und Schriftsteller Marius Chivu

Foto: Ioana Birdu

Der 37-jährige Marius Chivu betätigt sich als Literaturkritiker, Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Debütiert hat er mit Rezensionen im Jahre 2000 in der Literaturzeitschrift „România literară“. Zwei Jahre später erscheint sein Gedichtband „Vântureasa de plastic“, der verschiedene Preise erhielt. Sein meistverkauftes Buch war aber das Reisetagebuch „Trei săptămâni in Himalaya“ (Drei Wochen im Himalaya), dem der Band Kurzgeschichten „Sfârşit de sezon“ (Saisonende) folgte. Über seine Arbeit, seine Leben in der Welt der Bücher und die kurvenreiche berufliche Laufbahn sprach er mit der ADZ-Redakteurin Aida Ivan.

Herr Chivu, wieso wurden Bücher Ihre Hauptbeschäftigung?

Ich habe keine Geschichte, die besagt, dass ich ein vorbestimmtes Schicksal für Schreiben und Bücher hatte. Ich bin in einer Familie mit einer sehr kleinen Bibliothek aufgewachsen, meine Eltern waren keine Intellektuellen – meine Mutter war Schneiderin und mein Vater Mechaniker. Ich habe alleine gelesen, meine Eltern wollten nur sehen, dass ich das mache, es interessierte sie nicht was. Die wahre Leidenschaft für Bücher hat spät begonnen.

Sie waren Schüler eines Wirtschaftsgymnasiums und haben auch Choreografie gelernt.

Die Choreografie war nur ein Hobby. Danach wurde ich Student an der Fakultät für rumänische Literaturwissenschaft, weil ich begriffen habe, dass ich kein anderes Interesse habe. Ich habe begonnen, Rezensionen in der „România Literară“ zu schreiben, dazu wurde ich von Ioana Pârvulescu aufgefordert. Ich weiß, dass ich mir irgendwann gewünscht habe, ein Buch zu schreiben. Während meines Studiums habe ich begonnen, Kurzgeschichten zu schreiben, aber es wurde mir klar, dass ich viel lesen muss, bevor ich das Niveau erreiche, wo ich zufrieden bin. Es war eine Karriere in kleinen Schritten. Ioana Pârvulescu hat mir gesagt: „Wenn du eines Tages Literatur schreiben willst, dann wäre es nicht schlecht, wenn du Literaturkritik schreibst. Betrachte es als eine Lehre: Wenn du über Bücher schreibst, dann wirst du lernen, wie man schreibt“. Ihr Ratschlag war gut, deshalb hat es so lange gedauert, bis ich mein erstes Buch veröffentlicht habe.

In einer Literaturzeitschrift wurden Sie als die „unberechenbarste Figur in der neuen Generation von Literaturkritikern“ erwähnt. Sind Sie mit dieser Bezeichnung einverstanden?

Ich wurde als Literaturkritiker betrachtet, dann habe ich mit einem Gedichtband debütiert, ich habe ein Reisetagebuch geschrieben und mit Kurzgeschichten weitergemacht. Bisher habe ich kein einziges Buch über Literaturkritik geschrieben, so wie meine Generationskollegen erwartet hätten. Sie haben promoviert und haben ihre Literaturkritik in Bänden publiziert. Mich hat die Literaturkritik nur als Publizistik interessiert. Ich habe mehr als 1200 Rezensionen zu Hause, wenn ich sie in einem Buch sammeln würde, dann würde sich eine kleine Geschichte der zeitgenössischen Literatur ergeben. Das wären ungefähr 5000 Seiten Rezensionen und Literaturkritik. Aber daran habe ich kein Interesse und ich glaube jetzt auch nicht, dass sie so gut oder relevant sind, um in einem Band zusammengefasst zu werden. Die haben ihr Ziel erreicht, als sie veröffentlicht wurden.

Sie haben also Gedichte, Prosa und ein Reisetagebuch geschrieben. Wussten Sie, wohin Sie wollten?

Nein, aber jetzt weiß ich, dass ich Prosa schreiben will, besonders Kurzgeschichten. Mein Gedichtband war nicht eingeplant, ihn habe ich aus einer persönlichen Not geschrieben, es geht um ein Familiendrama. Auch das Reisetagebuch hat eine besondere Geschichte: Ich wollte in den Himalaya reisen, aber ich hatte nicht genug Geld. Dann wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass der Humanitas Verlag bereit wäre, mir einen Vorschuss zu gewähren, wenn ich darüber ein Buch schreibe. Ich musste also Tagebuch führen, diszipliniert sein, alles niederschreiben, viel beobachten und mit Leuten sprechen. Entstanden ist ein Buch, das die Erinnerung der Reise enthält. Endlich bin ich zurück zu den Kurzgeschichten gekommen, es wurde mir klar, dass ich ein gutes Niveau erreicht habe.

Dann sind Sie jetzt entschieden, sich den Kurzgeschichten zu widmen?

Ja, es kann auch sein, dass ich einen Roman schreibe. Ich kann mir schwer vorstellen, dass ich noch Gedichte veröffentlichen werde. Reisetagebücher werde ich weiter schreiben, ich habe festgestellt, dass es mir gefallen hat und ein gutes Buch entstanden ist. Anscheinend kenne ich mich aus. Ich habe aber viele Pläne mit den Büchern der anderen. Ich möchte Anthologien machen, im Moment arbeite ich an einem Buch, in dem ich publizistische Texte und Interviews von Antoaneta Ralian gesammelt habe. Es geht um Texte, die sie in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat.

Vielleicht werden Sie auch wieder das Bedürfnis verspüren, Gedichte zu schreiben.

Gedichte habe ich stets geschrieben, aber ich habe kein Interesse, diese zu veröffentlichen. Mir wurde klar, dass manche davon kleine Erzählungen waren, die ich später in Kurzgeschichten eingeführt habe. Ich habe eine seltsame Beziehung zur Poesie.

Wie erklärt sich das?

Schreiben ist ein Vergnügen an sich, ein Buch veröffentlichen ist etwas anderes, das eine hat nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun. Ich freue mich, wenn ein Buch von mir erscheint, aber ich freue mich auch, wenn ich schreibe. Es sind verschiedene Formen, jede einzelne stellt eine andere Facette des Schreibens dar. Wenn ein Buch veröffentlicht wird und ich es in verschiedenen Städten landesweit präsentieren soll, gehört das auch zum Schreiben und bietet eine andere Art von Vergnügen. Du siehst, dass Leute deine Bücher gelesen haben, und verstehst, wie sie das gemacht haben. So wie die Übersetzung, die auch eine Form des Vergnügens in Zusammenhang mit dem Schreiben ist.

Wie schreiben Sie, gibt es ein Ritual?

Ich bin ein Schriftsteller, der die ganze Zeit in seinem Kopf schreibt. Ich sammle Informationen, ich denke darüber nach, ich ändere in meinem Kopf Sachen, die ich in die Geschichte hineinschreibe, wenn ich Zeit habe. Ich habe sehr viele Notizen, Entwürfe. Im Moment, in dem ich mich an den Schreibtisch setze, weiß ich fast genau, wie die Geschichte aussehen wird oder soll, weil ich schon alles im Kopf habe. An das letzte Buch habe ich zwei Jahre lang gedacht, ich habe es in einem Monat geschrieben und in einem Jahr neu geschrieben. Oscar Wilde sagte: „Ich habe den ganzen Tag an einem Gedicht gearbeitet, am Morgen habe ich ein Komma gesetzt und am Abend habe ich es entfernt“.

Hat das mit der Tatsache zu tun, dass Sie Rezensionen geschrieben haben?

Das kann ich nicht sagen, aber es ist mir klar, dass ich ein Schriftsteller bin, der viel arbeitet. Ich habe nicht die angeborene Begabung, schnell und einfach zu schreiben, so wie Schriftsteller wie Mircea Cărtărescu, zum Beispiel: Wenn man seine Manuskripte sieht, dann wird man ein paar von Hand geschriebene Hefte sehen, wo fast nichts ausgestrichen ist. Für mich wäre so was unmöglich.

Was war die Verbindung zwischen Ihrem Vater und dem Buch „Ce-a vrut să spună autorul?“ (Was wollte der Autor sagen?)? Warum haben Sie das Buch Ihrem Vater gewidmet?

Mein Vater hat nur die Oberschule abgeschlossen und seitdem hat er kein Buch gelesen. Das erste Buch, das er nach 47 Jahren gelesen hat, war mein Tagebuch aus dem Himalaya. Ich war so berührt von der Tatsache, dass ich ihn nach einem halben Jahrhundert zum Lesen gebracht habe, dass ich ihm das nächste Buch gewidmet habe, damit er es auch liest. Und er hat es gelesen. Das sagt er wenigstens.

Würden Sie sagen, dass Ihre Schriften autobiografisch sind?

In dem Maß, in dem mehrere Familienmitglieder unter schweren Krankheiten litten und ich über diese Erfahrungen geschrieben habe, dann ja, dann ist mein Schreiben auch autobiografisch. Es gibt biografische Zusammenhänge, wenigstens dadurch, dass sie mich damals geprägt haben. Ausgeschnitten habe ich Szenen, Momente, Situationen, Gesprächsfragmente oder Gedanken. In jeder Erzählung gibt es einen Kern oder einen biografischen Samen. Es ist wie ein Bau, in dessen Fundament du etwas Persönliches einmauerst, damit er nachhaltig und lebendig wird. Ansonsten würde ich nicht genug Kraftstoff haben, um die Erzählung bis zum Ende zu führen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?

Das beste Beispiel ist mein Debüt mit dem Gedichtband, der ursprünglich ein Tagebuch war. Ich habe es in der Zeit geschrieben, als meine Mutter nach einem Schlaganfall ins Koma gefallen ist. Ein paar Monate lang lag sie bewusstlos, dann wurde es wieder besser. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihr Gedächtnis wieder hatte, bis sie wieder gehen konnte und bis sie wieder sprechen lernte. Diese Erfahrung hat mich und meinen Vater geprägt und ich habe Tagebuch über Liebe und Leiden geführt; als Buch habe ich es nie betrachtet. Nach sechs Jahren schien das, was ich als Notizen in einem Tagebuch betrachtete, eine Folge kleiner Gedichte zu sein, die ein großes Gedicht über das Drama meiner Familie ergaben. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, es sind vier Jahre, seitdem ich das Buch veröffentlicht habe: Ich habe die Vergangenheit bewältigt, aber ich weiß nicht, ob ich das der Zeit oder dem Buch verdanke.

Zurück zu Ihrem Reisetagebuch: Was für eine Wirkung hatte die Reise in den Himalaya auf Sie?

Es war eine ziemlich große Wirkung: Es ist die spektakulärste Reise, die ich bisher gemacht habe. Was meine Karriere anbelangt, hat es eine große Bedeutung, denn es war ein Bestseller und hat die Anzahl der Leser für meine anderen Bücher vergrößert. Viele Leser haben mich wegen des Reisetagebuches entdeckt, wegen des exotischen Themas und der eher kommerziellen Gattung. Das Buch hat mehr Leute erreicht, die ich mit anderen Büchern nicht erreicht hätte.