Kloster Einsiedeln

Von der Eremitenzelle zum größten Wallfahrtsort der Schweiz

Die Westfassade des Klosters Einsiedeln Fotos: Mag. Ignazius Schmid

Die barocke Kanzel in der Klosterkirche

Pater Lorenz erklärt die Luftaufnahme des Klosters.

„Kloster Einsiedeln“ im „Finstern Wald“ – das klingt nicht gerade nach Kurpromenade im Stadtpark ... Man fährt den Zürichsee südöstlich entlang in den Kanton Schwyz, zuletzt stetig bergan in ein Hochtal unter dem Etzelpass. Im Herzen der Zentralschweiz, wie der Natur entstiegen und ringsum von Bergen umgeben, liegt in neunhundert Meter Höhe die breit angelegte Klosteranlage Einsiedeln, der größte Barockbau der Schweiz.

Von der Zelle des Einsiedlers zum größten Schweizer Kloster
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Das erste Kloster in Europa gründete Benedikt von Nursia um 530, und von der Benediktinerabtei Reichenau auf der gleichnamigen Insel im Bodensee zog im Jahr 828 der Einsiedler Meinrad in den Finsteren Wald. An der Stelle der späteren Gnadenkapelle stand seine Klause mit einem kleinen Bet-raum. Zusammen mit zwei Raben lebte Meinrad über dreißig Jahre heiligmäßig an diesem Ort. Am 21. Januar 861 kamen zwei Räuber in den Wald, erschlugen ihn und flüchteten. Die beiden Raben verfolgten die Mörder und machten auf die Schandtat aufmerksam. Die Mönche aus Reichenau holten Meinrad in ihr Kloster zurück und bestatteten ihn mit allen Ehren. Seine Wirkungsstätte, Einsiedeln, wurde als Gnadenort hoch verehrt, und einige Eremiten folgten ihm dorthin nach. Aus Strassburg kam Bruder Eberhard und baute 934 für sie im Finstern Wald ein Kloster. Wie vielenorts wurde es auch hier vom Hochadel unterstützt, Herzogin Reginlind und die Ottonen-Kaiser widmeten großzügige Stiftungen. Die kostbaren Handschriften der Einsiedler Schreibstube beweisen das kontemplative Leben, das die Mönche des jungen Klosters führten. Die erste Kirche wurde 948 eingeweiht, daneben stand die Gnadenkapelle und Meinrads Klause. Mit dem gotischen Münster wurde 1230 die Gnadenkapelle in die Mitte der Kirche hineinverlegt. Wahrscheinlich wurden ab dem 13. Jahrhundert im Kloster Einsiedeln nur mehr Adelige aufgenommen. Dadurch gab es im Spätmittelalter so wenige Mönche, dass sich im 16. Jahrhundert die Auflösung abzeichnete. Dem wollten die Schwyzer Schirmherren nicht länger zusehen und erbaten sich aus dem Kloster St. Gallen – von Otmar im Jahr 719 gegründet – einen neuen Abt. Dieser nahm 1526 wieder Bürgerliche ins Kloster auf, und bis zum Beginn der Französischen Revolution stieg die Klostergemeinschaft stark an.

Im 11., 15. und 16. Jahrhundert ereigneten sich große Brandkatastrophen, die zu Erneuerungen und Erweiterungen des Klosters führten. Unter Abt Maurus von Roll wurde nach den Plänen des Klosterbruders Kaspar Moosbrugger von Au im Bregenzerwald schließlich der vollständige Neubau von Kloster und Kirche begonnen. Die Weihe der Kirche unter Abt Nikolaus Imfeld erfolgte 1735. Aus Brüderlichkeit kann es nicht gewesen sein, dass in der Französischen Revolution 1798 die Mönche vertrieben wurden – aber schon nach drei Jahren konnten sie mit ihrem Abt wieder zurückkehren. Umbauten, Ausbauten und Renovierungen verlangten im Laufe der Jahrhunderte den Äbten immer wieder viel an mentaler und finanzieller Energie ab, trugen aber auch viel dazu bei, dass sich das Kloster heute so eindrucksvoll präsentieren kann und zu einem Zentrum des christlichen Pilgerlebens in der Schweiz werden konnte.

In den USA, in Indiana, gründete man 1870 das Tochterkloster St. Meinrad für die deutschsprachigen Einwanderer, und 1948 eines in Los Toldos in Argentinien, 500 Kilometer westlich von Buenos Aires. Aus der ursprünglichen kleinen Klosterschule Einsiedeln entstand 1840 ein humanistisches Gymnasium, das bis 1970 nur Buben besuchten. Derzeit studieren hier 340 Schüler beiderlei Geschlechts, freiwillig und gerne auch das obligatorische Latein. Im Kloster leben heute 47 Mönche, Brüder und Patres sind gleichgestellt und teilen dieselben Rechte und Pflichten. 59. Abt ist der Germanist P. Urban Federer (*1968), dem auch die Leitung des 1130 gegründeten Frauenklosters Fahr nächst Zürich unterliegt. In der Propstei St. Gerold im Großen Walsertal in Vorarlberg, die seit dem 13. Jahrhundert zu Einsiedeln gehört, übernimmt 2020 der ehemalige Abt, Theologe und Psychologe P. Martin Werlen (*1962), ein erfolgreicher Bestsellerautor, die Aufgabe als Propst.

Benediktinische Gastlichkeit

Bei den Benediktinern hat Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert. In Offenheit „Gäste wie Christus aufnehmen“ ist ein hoher Grundsatz im benediktinischen Ordensleben. Dem entsprechen auch die Einsiedler Mönche. Viele verschiedene Kontakte benötigen auch viele Räumlichkeiten, die zum Glück in der ausgedehnten Anlage vorhanden sind.

Als Erstes streben die Besucher meistens die Klosterkirche an mit der berühmten Gnadenkapelle der Schwarzen Madonna. Der Eindruck der Deckenfresken, Stukkaturen, Altäre und Kanzel in ihrer lebhaften barocken Fülle und Farbigkeit ist überwältigend – was nicht verwundert, haben doch Berühmtheiten wie Cosmas Damian und Egid Quirin Asam und die Gebrüder Diego und Carlo Carlone dabei mitgearbeitet. Im Hochaltar ist das Haupt des heiligen Meinrads aufbewahrt, das manchmal zur Verehrung ausgestellt wird. Der größte Anziehungspunkt für die Pilger ist jedoch die Gnadenkapelle, die in der Mitte im Inneren der Klosterkirche steht. Der Legende nach ist sie von Christus selbst eingeweiht worden.

Die Überlieferung dazu besagt: Als am 14. September 948, am Fest der Kreuzerhöhung, Abt Eberhard von Einsiedeln den Hochadel und die Bischöfe Adalrik von Augsburg und Conrad von Constanz zur Einweihung der Kirche und der Kapelle einlud, wurden sie alle Zeugen einer Weihezeremonie, wie sie von Jesus Christus zu Ehren seiner Mutter, im Beisein von Engeln und Heiligen, vorgenommen wurde. Als Bischof Conrad nun zur Durchführung seiner Weiheaufgabe schreiten wollte, hörten sie die laute Stimme: „Frater cessa! Divinitus consecrata est.“ („Bruder, höre auf! Sie ist bereits göttlich geweiht.“) Der Bischof ließ bei der Kapelle Christus den Vortritt und weihte nur mehr die Kirche ... Dieses Ereignis wird auch heute noch die „Engelweihe“ genannt, und am 13. und 14. September als wichtigstes Wallfahrtsfest feierlich begangen – Interessierte sind herzlich dazu eingeladen.

Auf einem Altar im Inneren der Gnadenkapelle steht die spätgotische Statue der Schwarzen Madonna. Die schwarze Färbung geht auf den Ruß der vielen Kerzen und Lampen zurück, die Tag und Nacht davor brennen. Als ein Restaurator ihn einmal entfernte, war der Protest der Gläubigen so groß, dass er die dunkle Farbe mittels Bemalung schnell wiederherstellte. So ist die Madonna eben schwarz, nicht von Geburt, sondern von Wallfahrer-Gnaden … Die textile Bekleidung, „Behang“ genannt, wurde erstmals 1587 gestiftet, in der typischen Hoftracht der Frühbarockzeit. Die bestehenden 35 Garnituren werden bis zu zwanzig Mal im Jahr gewechselt. Maria und Jesus tragen goldene Kronen und Schmuck, die als Votivgaben gespendet wurden. Die Jubiläumskrone von 1861, zum tausendsten Todestag Meinrads, stiftete Kaiserin Eugenie, Gemahlin Napoleons III.

Die Bibliothek – ein Highlight für Humanisten

Auch weitere Räumlichkeiten laden zum Besuch ein: der Große Saal von 1706, mit historischen Wandbildern, links vorne mit einer tragbaren Orgel, wie sie früher zu den Fronleichnamsaltären mitgetragen wurde – hier werden auch Konzerte aufgeführt; die Magdalenakapelle; das Oratorium, das einmal Sakristei war, 1912 Studentenkapelle wurde und jetzt Mehrzweckraum ist; der Vortragssaal in der ehemaligen „Alten Mühle“; die Unterkirche; der Theatersaal. Es ist alles freudig und mit Hingabe belebt – akustisch am wahrnehmbarsten naturgemäß im Schultrakt ...

Bibliophile Besucher erbauen sich an der über tausendjährigen Stiftsbibliothek. Sie umfasst 1280 wertvolle Handschriften, 1100 Frühdrucke und 230.000 Bände aus allen Wissensgebieten, von denen der historische Teil aus dem 16. bis ins 18. Jahrhundert im Barocksaal aufgestellt ist. Das Büchermagazin mit modernen Rollregalen befindet sich im Keller, ein Kulturgüterschutzraum steht für die Handschriften und Frühdrucke zur Verfügung. Besondere Kostbarkeiten sind Einsiedler Pergamenthandschriften aus dem 1. Jahrtausend, die älteste von 940 und eine von 1100; interessant ist ein Origineskommentar zum Römerbrief, mit handschriftlichen Randnotizen von Huldrych Zwingli, der ab April 1516 für drei Jahre in Einsiedeln als Leutpriester wirkte; eine Zürcher Bibel, 1531 gedruckt von Christoph Froschauer; eine mehrsprachige Bibel von 1600; frühe Notenhandschriften, an denen man die Entwicklung der Notenschrift verfolgen kann, aber auch Werke über den menschlichen Körper von 1543, naturwissenschaftliche Werke über Fauna und Flora, ein Atlas von 1595, Reiseführer aus dem 17. Jahrhundert … Pater Lorenz, seit 1962 im Kloster Einsiedeln, ist naturgemäß mit allen Belangen des Klosters bestens vertraut. Als studierter Philosoph kann er aber nicht verleugnen, dass ihm die Bibliothek mit ihren Kostbarkeiten ein besonderes Anliegen ist. Mit ihm vergeht hier die Zeit wie im Flug …

Ora et labora

Im Jahr kommen eine halbe Million Menschen ins Dorf und Kloster Einsiedeln. Die Wallfahrt ist das größte Anliegen, das entsprechenden Einsatz verlangt. Einsiedeln zeichnet sich neben der feierlichen Liturgie vor allem durch seine kirchenmusikalische Tradition aus. An hohen Festtagen werden Orchestermessen aufgeführt, Konzerte in der Kirche, im Großen Saal und im Theatersaal der Stiftsschule. Eine besondere Beziehung hat das Kloster zum Großen Welttheater (1655) von Pedro Calderón de la Barca. Durch die hervorragende Akustik des Stiftsplatzes angeregt, kommt seit 1924 meistens im Abstand von etwa sieben Jahren das Große Welttheater zur Aufführung. 2020 ist Einsiedeln von Juni bis September wieder Schauplatz von Calderóns berühmtem Werk.

Die Erhaltung eines Gemeinwesens dieser Bedeutung erfordert auch umfangreiche praktische Arbeiten. Land- und Forstwirtschaft hat das Kloster vollständig ausgelagert. 180 Angestellte sind jedoch in den verschiedenen Hausdiensten sowie in den Handwerksstätten eingesetzt: Buchbinder, Gärtner, Maler, Maurer, Säger, Schmiede, Schneider, Tischler, Steinmetze, Elektriker und Installateure. Eine ganz spezielle Aufgabe stellt zudem die Pferdezucht dar. Im ältesten Gestüt Europas werden seit über tausend Jahren die „Cavalli della Madonna“ gezüchtet. Der ehemalige Marstall beherbergt heute vierzig Pferde; zwei Drittel davon sind als Gastpferde eingestellt, mit den eigenen Tieren werden drei Mutterstutenlinien – Quarta, Klima und Sella – aufrechterhalten.

Trotz gelegentlicher Rückschläge haben Idealismus, Tüchtigkeit und Beharrlichkeit das Kloster tausend Jahre am Leben erhalten und zu voller Blüte gebracht. Man darf hoffen, dass dies auch die nächsten tausend Jahre so sein wird …