Kommentar: Warum Putin die Ukraine zerstören will

Ukraine, Mariupol: Ein Anwohner geht an einem beschädigten Gebäude in einem Gebiet unter der Regierung der Volksrepublik Donezk im Osten der Ukraine vorbei. | Foto: Alexei Alexandrov/AP/dpa

Der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine ist gerade deshalb so brutal, weil er glaubt, Russen und Ukrainer seien ein Volk. Um seine Entscheidung für die Invasion zu verstehen, sollten wir uns seine Begründung dafür anhören - und wir sollten umso genauer hinhören, wenn die von ihm vorgebrachten Gründe absurd erscheinen.

Zwei der Rechtfertigungen Putins präsentieren sich dabei besonders auffällig. Die erste – wonach die Ukraine ein „Anti-Russland“ sei – ist schlichtweg bizarr. Die zweite – dass „Russen und Ukrainer ein Volk” seien – scheint im Widerspruch zur ersten Aussage zu stehen, insbesondere angesichts des mörderischen Verhaltens Russlands in der Ukraine. 

Doch in der Politik ist oftmals das Absurde am aufschlussreichsten. Beide Aussagen haben  nämlich tiefe historische Wurzeln und verfügen über eine psychologische Logik, die sie miteinander verbindet und erklärt. Geschichtlich geht es um den Aufstieg der Fürsten von Moskowien, die zunächst die Vormachtstellung und dann die Herrschaft über die Fürstentümer der mittelalterlichen Rus erlangten.

Moskowiter: rücksichtlose Steuereintreiber der Mongolen

Moskowien begründete seine Macht zunächst dadurch, dass es als Steuereintreiber des mongolischen Khans agierte. Nachdem die moskowischen Fürsten von ihren mongolischen Herren rücksichtslose Willkür erlernt und ihr Reich mit mongolischer Hilfe erweitert hatten, wandten sie sich gegen die Mongolen, vertrieben sie und konsolidierten „die Länder der Rus” unter den Großfürsten von Moskowien und deren Nachfolger, den „Zaren aller Russlands.“ 

Doch als Moskowien an Macht gewann, war Autokratie nicht die einzige Regierungsform in den russischen Ländern. Die handelsorientierte Republik Nowgorod im Nordwesten des Landes ist das bekannteste Beispiel für den mittelalterlichen russischen Konstitutionalismus, aber bei Weitem nicht das einzige. Das Großfürstentum Litauen, dem trotz seines Namens die Gebiete des heutigen Belarus und der Ukraine angehörten, verfügte – gemessen an den Standards des mittelalterlichen Europa – über gut entwickelte repräsentative Institutionen. Der litauische Seimas und die Versammlungen der Adligen in den Provinzen verfügten über mehr Macht als ihre iberischen oder britischen Pendants im 16. Jahrhundert. Von entscheidender Bedeutung ist, dass Litauen ein größtenteils slawischer Staat war. Seine offizielle Sprache war nicht Litauisch, sondern das Altbelarussische und große Teile der Aristokratie waren orthodox und ethnisch der Rus zugehörig. 

„U kraina“ – unbewohnte Randgebiete 

Schließlich gibt es noch die politische Tradition der Dnipro-Kosaken. Ursprünglich bestand das Volk der Kosaken hauptsächlich aus Bauern, die vor der Sklaverei in die unbewohnten Grenzgebiete „am Rande“ (u kraina) des polnisch-litauischen Reiches geflohen waren. Die Kosaken verstanden sich zu Recht als „ritterliches Volk“, das seine Freiheit durch militärische Großtaten gegen die Krimtataren, die osmanischen Türken, die Moskowiter und die Polen erlangt hatte. Fast 200 Jahre lang wählten sie ihren Hetman, das Staatsoberhaupt, und einen Regierungsrat, bis Katharina die Große diesen Institutionen 1764 ein Ende bereitete.

Zaristische Ideologie – der Schlüssel zum Verstehen

Die blutige Zerstörung Nowgorods durch Iwan den Schrecklichen ist ebenso bekannt wie die Teilungen Polens. Seltener erwähnt wird die Zerstörung der Kosaken-Sitsch (des Staates) im Jahr 1175 und das Massaker an 20.000 Menschen. Jede dieser Episoden trug zur Errichtung der Autokratie in allen Ländern der Rus (der so genannten Russkiy mir) bei.

Die russische zaristische Ideologie, die während dieser blutigen Kämpfe entstand, um die despotische Herrschaft zu rechtfertigen, ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des heutigen Konflikts in der Ukraine. Eine derartige Ideo-logie war unverzichtbar, denn die Beschränkung willkürlicher Exekutivgewalt war für den moskowischen Adel ebenso attraktiv wie für litauische Adelige, die Bewohner Nowgorods, die Kosaken, die englischen Barone oder die amerikanischen Kolonialherren.

Das zaristische Narrativ verwob zwei zentrale Motive: Der Zar ist „das Väterchen aller Menschen”, das die Bauernschaft gegen ihre adligen Herren schützt, und das russische Volk ist besonders ungeeignet, seine verfassungsmäßige Freiheit wahrzunehmen. Der Konstitutionalismus käme angeblich nur einem egoistischen Adel zugute, der seine daraus resultierende Macht nutzen könnte, um die Bauernschaft noch mehr auszubeuten. Da die Russen - anders als die Menschen im Westen – von Natur aus nicht in der Lage waren, sich selbst effektiv zu regieren, sondern vielmehr eine „starke Hand“ benötigten, würden Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen den Staat schwächen, ihn ausländischen Bedrohungen aussetzen und möglicherweise zu seinem Zerfall führen.

Die Ukraine als „Anti-Russland“

Jetzt wird klar, warum Putin Recht hat, wenn er sagt, die Ukraine sei „Anti-Russland“. Wenn sich russische Staatlichkeit durch Despotismus definiert, und wenn Russen und Ukrainer ein Volk sind, dann haben die Ukrainer durch ihre erfolgreiche Selbstverwaltung bewiesen, dass der Gründungsmythos des moskowitischen Russlands ein großer historischer Irrtum war.

Genau wie andere Europäer können auch die Russen sowohl persönliche Freiheit als auch einen effektiven Staat haben. Und da ein effektiver russischer Staat höchstwahrscheinlich militärisch mächtig sein wird, brauchen sie vielleicht nicht einmal eine Autokratie, um ihren geopolitischen Einfluss zu sichern. Deshalb muss, wie es ein russischer Fernsehkommentator kürzlich formulierte „schon die Vorstellung (ukrainisch zu sein) vollständig ausgerottet werden.“ 

Für Putin und die ihn umgebende Elite ist der Krieg gegen die Ukraine ein Bürgerkrieg, ein Kampf um die Idee Russlands an sich und um die Richtigkeit seiner Geschichte, wie sie von dieser Elite definiert wird. Wie in allen Bürgerkriegen verstärkt die Nähe der Kontrahenten die Grausamkeiten, die der ukrainischen Bevölkerung angetan werden.

Ein heimtückischer psychologischer Deal

Russen, die sich diesen umgekehrten Manichäismus auf die Fahnen schreiben, demzufolge die Diktatur gut und die Freiheit böse ist, akzeptieren auch einen heimtückischen psychologischen Deal. Sie geben ihre persönliche Freiheit auf, um sich einem von anderen gefürchteten mächtigen Staat zu unterwerfen und ihm anzugehören. „Ich fürchte meinen Staat, aber er ist mein Staat“, sagen viele Russen zu Ausländern und sich selbst. „Ihr fürchtet meinen Staat, aber es ist nicht euer Staat“. Aber was passiert mit diesem Deal, wenn die Ausländer ihre Angst verlieren?

Aus diesem Grund wäre eine Niederlage gegen die Ukraine, so sie eintritt, für Russland ein einschneidendes Ereignis. Nicht einmal der Sieg des Westens im Kalten Krieg bedeutete das Ende der autoritären Ideologie Russlands. Die westliche Demokratie mag sich als wirkungsvoller erwiesen haben als der sowjetische Despotismus, aber das bedeutete nicht, dass ein demokratisches Russland gut regiert werden könnte, geschweige denn mächtig wäre. Aber eine Niederlage gegen die Ukraine wäre etwas ganz anderes. 

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Jacek Rostowski war Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident Polens.