Kurzgeschichte: Die fünfziger Jahre

Als Kriegskind des Jahres 1944 erfuhr ich lediglich aus Erzählungen – vor allem aus denen meiner Mutter, geborene Eva Riesz – was sich kurz nach meiner Geburt in der näheren Nachbarschaft ereignet hatte; ich selber konnte später, am Anfang der 50er Jahre, optisch erfassend bzw. begreifend erleben, was sich um mich herum abgespielt hatte.

Durch das neugeborene Kriegskind hatte meine Mutter von den sowjetischen Soldaten nichts zu befürchten, obwohl ich – schreiend – des Öfteren verkellert wurde in der Annahme, dort würde man mein Gebrüll nicht wahrnehmen.

Die besagten Soldaten hatten es auf einen anderen, den unserem Haus in der Altgasse gegenüber liegenden Keller des „Khanse - Hans“, abgesehen, wo die Weinfässer in ihrer kompaniegleichen Aufstellung geradezu für halbverdurstete Ostsoldaten einladend, ja herausfordernd magnetisierend wirkten.

Mutter erzählte mir später, dass drüben eines Tages die Hölle los war: In ihrer penetrant unersättlichen Gier nach dem Bacchussaft hatten die Schusswütigen mit MPs Löcher in die Fässer geschossen und sich vor diese niedergeworfen, um mit geöffnetem Mund den begehrten Traubensaft direkt aufnehmen zu können. 

Andere wiederum, die es von der zivilisierten Seite angehen wollten, fingen je nach Belieben den weißen oder roten Strahl in ihre Helme; so konnte man sich doch gewiss bequemer am Banater Wein erquicken.

Dass mitunter auch Schüsse gefallen sind, gehörte zu solchen Festspielen; als dem diensthabenden Offizier weder Gehör noch Achtung geschenkt wurde und er sich der tobenden Horde nicht mehr erwehren konnte, entriss er dem Nächstbesten die MP und durchlöcherte einen Fassinhaltsinhalierer: Befehlsverweigerer durften nicht ungestraft davonkommen und wenn’s die Kapitalstrafe war. Sofort kehrte Ruhe,nach Stunden allmählich auch die Nüchternheit ein ...

Später, Anfang der 50er Jahre, als man auch in Großsanktnikolaus die Gründung der Kollektivwirtschaft unter Anwendung von Überzeugungs- und Druckmitteln beschleunigte, hatte ich – mein Bruder und meine Schwester waren unter Aufbietung großer Opfer seitens der Familie in weiterbildenden Schulen in Temeswar – von den Eltern bloß vernommen, dass sich am selben Abend etwas Besonderes ereignen würde.

Und tatsächlich: In der Abenddämmerung kamen Männer in unser Haus: fünf bis sechs, die, freundlich grüßend, vom ebenso freundlich einladenden Vater in die Wohnküche gebeten wurden. Es war die sogenannte fliegende T(G)ruppe vom Städtischen Volksrat, die ihrer Pflicht walten musste und alle renitenten 9-Joch-Bauern (das waren jene Bauern, die in der rumänischen Armee gedient hatten und denen man diese 5 ha zunächst überlassen hatte) durch politisch-ideologische Überzeugungsarbeit zum Kollektiv-Beitritt hätte bewegen sollen ...

Vater, ein redlicher, fleißiger und selbstbewusster Mann, wollte davon nichts hören und hatte in seiner Standhaftigkeit den Männern bekundet, dass er, unter Nennung aller Nachteile dieser, nicht daran denke, der Kollektivwirtschaft beizutreten ...

Die Männer zeigten Verständnis: Sie taten ja nur ihre Pflicht, ein Ausspruch, der in jedem Regime und in jeder Gesellschaftsordnung – im Nachhinein – pardonierend serviert wird, und auch in diesem Falle nicht unangebracht war: Vater kannte jeden Einzelnen, und jeder von ihnen kannte Vater sehr gut.

All das hatte nichts mit der guten Bewirtung zu tun, die ihnen wie auch anderen, in ähnlichem Auftrag agierenden Gästen, zuteil geworden war ...

Insgeheim wurde Vater von Zeit zu Zeit in der abendlichen Dunkelheit von einem seiner ehemaligen Arbeiter, R.K., nunmehr Präses der Kollektivwirtschaft (KW), besucht, der in dieses Amt eingepflanzt worden war, vom Tagesablauf und von der gesamten Struktur des Betriebes - entsetzt und angeekelt - berichtete und Vater beschwor, dem „Laden“ nicht beizutreten.
Später, 1958, entledigte sich Vater des mit den Jahren stetig zunehmenden Druckes zum Beitritt in die KW in eleganter Weise: Er schenkte dem Staat all seinen Grund und Boden, ausgenommen die zirka 15 Ar Weingarten.

Langsam und geräuschvoll tuckerte ein Traktor der Hannoverschen Firma Hanomag oder ein „Kölner“  Deutz – die man einst ihren früheren Besitzern, Familie P. W., H. J. (Anm. Red.: Namen auf Wunsch des Autors gekürzt) oder anderen gemäß der Nationalisierungsgesetze weggenommen und der MTS (Maschinen-Traktoren-Station) oder der Kollektivwirtschaft „Drumul lui Lenin“ (Lenins Weg) einverleibt hatte – durch die Anfang der 50er Jahre kaum mit Verbrennungsmotoren befahrene Altgasse in Großsanktnikolaus.

Lediglich Pferdegespanne wirbelten den Staub der damals noch nicht asphaltierten, doch bereits in der k.u.k. Zeit mit Steinen gepflasterten Fahrbahn auf, was besonders im Sommer recht unangenehm werden konnte, weil ja die Nebenfahrbahnen links und rechts von diesem „Kiesdammstreifen“ von knöcheltiefem Staub bedeckt waren.

Uns Kinder konnten hingegen selbst dicke Staubwolken nicht vertreiben, denn wir wollten doch – und das besonders in den langen Sommerferien – auch etwas von dem Treiben auf der Straße mitbekommen. Und da war vor allem in den Morgen- und Nachmittagsstunden einiges los.

Gewöhnlich durfte ich mit Vater aufs Feld hinaus mitfahren, was dann früh aufstehen bedeutete, denn spätestens um halb vier ging es los. Für das für mich als Kind frühe Aufstehen – für die Eltern war es ja bereits Gewohnheit geworden – sollte ich dann mit herrlicher Morgendämmerung und mit einem grandiosen Sonnenaufgang belohnt werden, wenn die feurige Kugel sich im Osten aus der Ebene hievte und ihre Strahlen sich flach über die mit frischem Morgentau bedeckten Felder ergossen.

Dazu das später geschriebene Gedicht:

Morgen im Feld 
(In: „Spätlese“)

Es hustet blau der Sommermorgen,
der Tau beleckt einsam die Flur.
Im Weizenteppich regt sich nur
das Kleingetier, dem Aug‘ verborgen.

Beherzt das Strahlenspiel jetzt gleitet
über das reifescheue Feld;
ein zögernd‘ Laut durch Stille fällt;
wie frech der Wind durch Wogen schreitet …

Dem Weckruf folgen Konkurrenten,
ereifernd, mordend das Idyll,
ich üb‘ Geduld, verharre still,
den Rufen folgend, den dezenten.

Dem Tag entwachsen Stund‘ um Stunde,
gar mahnend, endlich doch zu gehn;

am Rain bleib abschiedsschwer ich stehn:
Ein quälend Blick umschleicht die Runde ...

Nach unserer Heimkehr vom Feld – so gegen acht Uhr – setzte ich mich in kurzer Clothhose neben das Gassentürchen und verfolgte die Ausfahrt der Landarbeiter: In der „Kollektiv“ – wie die Kollektivwirtschaft salopp bezeichnet wurde – hatte man es nicht eilig, hinaus auf die vormals den Bauern gehörenden Felder zu gelangen, denn der Tag sollte lang, heiß und mühevoll werden.

Und weil das ganze Land unter sowjetischem Einfluss stand, musste man auch im ländlichen Milieu die Landarbeiter zu Freundschaftsäußerungen gegenüber dem großen „Vater der Völker“ bewegen, was sich dann wie folgt abgespielt hat: Auf einem von zwei Pferden gezogenen Plattformwagen saßen jeweils am Wagenrand eng aneinandergereiht und die Füße hinunter baumelnd, Menschen mit verhärmten Gesichtern, die für das karge tägliche Brot unter misslichen Bedingungen tagsüber schwere Arbeiten zu verrichten hatten. In der Mitte der Plattform stand eine junge robuste Frau, die unentwegt Lobessprüche in rumänischer Sprache schreiend von sich gab, was uns Kinder stets belustigte:

„Stalin und das Russenvolk
Freiheit haben uns gewollt!
Hurra!!!“

Im Original hörte sich das so an:

„Stalin și poporul rus
Libertate ne-au adus!
Uraaaaaaaa !!!“


Doch schöner war es am Spätnachmittag: Ich saß mit meinen Spielgefährten Rudi und Martin auf dem gepflasterten Fußweg und wir warteten auf eine Person. Das schmächtige Männlein kam meistens um die gleiche Uhrzeit auf dem Heimweg an unserem Haus vorbei; es hatte wohl nach der Rückkehr vom Feld, die so gegen 17 oder spätestens 18 Uhr erfolgt war, noch anschließend die Pferde zu versorgen, so dass sein Arbeitstag sich etwas länger als der der anderen hinausgezogen hatte.

Abgearbeitet, stets an einem Tschick (Zigarettenstummel) in einem Mundwinkel kauend, schlenderte er ermattet an uns vorbei.

Und täglich wiederholten wir bei seinem Näherkommen die banale Frage

„Matz, (Der Name wurde geändert), wo warscht dann so lang?“, worauf uns prompt die stolze Antwort entgegengeschleudert wurde: „Parteisitzung“…

Man sollte als in die damalige Zeit nicht Eingeweihter wissen, dass es für die werktätigen Landarbeiter – und nicht nur für diese – eine „Ehre“ gewesen ist, Mitglied der Kommunistischen Partei geworden zu sein, und mitunter wurden die zu allem „Ja-Sagenden“ in die Gremien gewählt: Es war ja ein Arbeiter- und Bauernstaat nach sowjetischem Vorbild geworden.


Aus „Durch Zeiten Länder und Kulturen“, Hans Dama, Wien 2020, S.8-19, ISBN: 978-3-85407-083-2